Alle Propheten sind Helden

Propheten wissen, dass sie nichts wissen. Aber Propheten ahnen mehr, als Andere zu wissen glauben. Aus diesem Grund ist jeder Prophet ein Held. Wie bitte?

Die Siegerehrungen stehen an. Allerdings: Wenn wir lediglich unsere prophetischen Würdenträgern hochleben lassen, wäre dies ein grober Verstoß gegen die Gerechtigkeit. Ehre, wem Ehre gebührt. Längst fällig ist eine umfassende Anerkennung für alle teilnehmenden Propheten. Vom Ersten bis zum Letzten. Natürlich verbunden mit der Hoffnung, dass die auf diese schmeichelnde Weise gebauchpinselten Experten in der kommenden Saison erneut ihre Expertise unserer Plattform zur Verfügung stellen.

Die Daten für die Prophezeiungen der Saison 17/18

Prophezeiung Zweite Liga: Ab 10. Juli
Start Zweite Liga (und damit letzte Möglichkeit zur Prophezeiung): 28. Juli

Prophezeiung Bundesliga: Ab Mitte Juli
Start Bundesliga (und damit letzte Möglichkeit zur Prophezeiung): 18. August

Doch zurück zur gebührenden Bauchpinselung. Sie stammt ursprünglich aus der Wissenschaft - und bezieht sich auf eine allzu menschliche Ignoranz der eigenen Unfähigkeit. Propheten haben diese Ignoranz überwunden, allein schon durch Teilnahme. In diesem Zusammenhang wäre es also keinesfalls vermessen, zu behaupten, dass Propheten per se bessere Menschen sind. Nun, die Botschaft ist gewiss nicht neu. Bemerkenswert daran ist allenfalls, dass sie wissenschaftlich belegt ist.

Unser aller Unfähigkeit

Es geht um den „Rückschaufehler“, der zutiefst menschlich ist. Verhaltensökonom Daniel Kahneman, in dessen Nachnamen nur zufällig der deutsche Torhüter-Titan versteckt ist, stellt fest: „Unsere Unfähigkeit, frühere Überzeugungen zu rekonstruieren, veranlasst uns zwangsläufig dazu, das Ausmaß zu unterschätzen, in dem wir durch vergangene Ereignisse überrascht wurden.“ Weniger präzise ausgedrückt: Das Habichsdochgleichgewusst ist uns allen angeboren. Tatsächlich tun sich Menschen schwer damit vergangene Wissenszustände zu rekonstruieren. Vor allem dann, wenn sie falsch waren. Wenn die Überzeugung richtig war, wird die eigene Expertise gerne ins Übermenschliche überhöht. Auf die letzte Saison bezogen zum Beispiel:

- „Hab ich doch gleich gewusst, dass Bremen nicht absteigen würde“
- „War doch eh klar, dass der Weinzierl nicht nach Schalke passt.“
- „Wußte ich schon lange, dass die Dosen aus Leipzig fast die ganze Liga überholen.“

Diese und andere Sätze hört man häufig. Und die Sprecher sind davon überzeugt, dass sie aufrichtig formulieren. Aber die Wissenschaft relativiert diese Überzeugung. Sie mahnt zur Präzision. Kahneman weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es irreführend ist, das Verb „wissen“ im Zusammenhang mit Zukunftsprognosen zu verwenden. Man kann nichts wissen, was in der Zukunft liegt, argumentiert er messerscharf. Man könne es vielleicht ahnen. (Oder prophezeien!) Aber nicht wissen. Ein Satz, der mit „Ich habs doch gleich gewusst…“ anfängt, ist also von vornherein gelogen. Ich hab’s doch gleich prophezeit - dagegen ist nichts einzuwenden.

War ja eh klar!

Gerade bei Experten ist der Rückschaufehler besonders häufig zu beobachten. Fischhoff und Beyth haben das schon Anfang der Siebziger Jahre erforscht. Vor einem Besuch von Präsident Nixon in China und Russland sollten politische Beobachter die Wahrscheinlichkeit der resultierenden Ergebnisse vorhersagen. Es ging um weitere Treffen, diplomatische Anerkennung und Unterzeichnung von Abkommen. Nach Nixons Rückkehr wurden dieselben Experten aufgefordert, sich an die Wahrscheinlichkeiten zu erinnern, die sie zuvor 15 konkreten Ergebnissen zugeschrieben hatten. Eindeutiger Befund: Wenn ein Ergebnis tatsächlich eingetreten war, überschätzten die Befragten die Wahrscheinlichkeit, die sie vorher dem Ergebnis zugeschrieben hatten. Wenn das Ereignis nicht eintrat, erinnerten sie sich fälschlich, dass sie es schon immer als unmöglich erachteten.

Jeder Prophet ein Held.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum Propheten per se die besseren Menschen sind. In dem sie ihre Prophezeiung auf der Plattform hinterlegen, sind sie bereit, den Rückschaufehler unmöglich zu machen, auch wenn es unter Umständen schmerzhaft wird. "Hab ich gleich gewusst", kann kein Prophet behaupten. Schließlich kann jeder andere Prophet nachschauen, was derjenige tatsächlich vor der Saison prophezeit hatte. Und nicht wenige erkennen, wie dürftig ihre Prophezeiung tatsächlich waren. Nicht immer ein schöner Moment. Oder eben doch, weil Propheten immer fähig sind, über sich selbst zu schmunzeln. Und das zeichnet feinste Charakter eben aus: die Fähigkeit, auch mal über sich selbst zu lachen, ohne dass einem ein Zacken aus der Krone fällt.

Hoch leben die Propheten! Mit dem Einloggen ihrer Prophezeiung machen sie sich angreifbar und unterscheiden sich von allen anderen Pseudo-Experten, die in Talkshow gescheit daherreden, aber sich nicht trauen, auch nur einen nachweisbaren Expertentipp abzugeben. Da sind die Propheten schon aus anderem Holz geschnitzt. Sie wissen, dass sie nichts wissen. Aber sie ahnen mehr, als andere zu wissen glauben. Bravo!

Abschließend noch eine persönliche Anmerkung:
Der Autor dieser Zeilen hatte in der letzten Saison einer Mannschaft die Meisterschaft prophezeit, die am Ende der Saison sogar in arge Abstiegsnöte geriet. Gewiss, man muss jetzt kein Heldenstück daraus machen, Bayer Leverkusen als Deutscher Meister prophezeit zu haben. Genau genommen war es eine von tiefer fußballtaktischer Selbstüberschätzung geprägte Eselei. Aber nie wird mir ein „ich hab’s doch gleich gewusst“ über die Lippen kommen.

Selbsterkenntnis sei der erste Weg zur Besserung, könnte man jetzt hoffen. Aber auch das wäre falsch. Ich stelle gerne in anonymisierter From“ den Datensatz der prophetischen Plattform zur wissenschaftlichen Analyse zur Verfügung. Ich prophezeie das Ergebnis: Der Satz mit der Selbsterkenntnis ist wissenschaftlich nicht haltbar. Wie ich auf die Idee komme? Ganz einfach, in dem ich behaupte: „In der nächsten Saison ist nur eines gewiss: Es kann alles passieren, aber Bayern wird nicht schon wieder Meister. Meine Selbsterkenntnis hält sich in Grenzen. Mag sein, dass mir's manch ein Prophet nachfühlen kann.