Am Dagdigdisch

Am Samstagabend sah ich Hertha BSC gegen Eintracht Frankfurt. Vermutlich das schlimmste Spiel der Saison. Das Bulletin des 22. Bundesligaspieltags mißbrauche ich, um das Gesehene therapeutisch zu verarbeiten.
Es hätte ein entspannter Abend werden sollen. Ich bereitete ein leckeres Lamm. Mit Curry und Paprika geschmort. Das Rezept dazu entnahm ich aus einem kleinen Kochbuch der Frauenzeitschrift Brigitte. "Irgendwie Neunziger" dachte ich. Während das Fleisch geduldig schmorte, schaute ich Bundesliga. In meiner Wohnküche kann man vom Herd gut die Leinwand einsehen. So kam es, dass ich das Topspiel des Spieltags in voller Länge genoß. Das sogenannte Topspiel ist die Partie eines jeden Spieltags, mit der der Bezahlsender sky möglichst viele Fans beglücken will. Deshalb treten zu diesem Zeitpunkt meistens zwei Traditionsvereine gegeneinander an. sky sieht an den Quoten, was die Fans gerne schauen. Man kann ja nicht dauernd München und Dortmund als Topspiel ausrufen. An diesem Wochenende wurden Hertha BSC und Eintracht Frankfurt nominiert. Dass es kein Topspiel im Sinne des spielerischen Grundgedankens werden würde, war also klar. Man musste kein Prophet sein, um zu ahnen, dass es aufregender war, meinem Lamm beim Schmoren zuzuhören.
Pal Dardai setzte wie sein Kollege Kovac auf eine alte Taktik namens Hinten-dicht-und-vorne-hilft-der-liebe-Gott. "Das ist nicht mal Neunziger" dachte ich. Vermutlich Fuffziger, so ähnlich wie damals als der argentinische Trainer Herrera in Mailand den Catenaccio (wörtlich: Türriegel) erfand. Aber da war ich noch nicht auf der Welt. Die Wettquoten für das 0:0 standen sehr niedrig, die Ausgangslage also eindeutig. Rumpelkick mit Ansagen. Spielverweigerung par excellence. Trotzdem baute der Bezahlsender rituell seinen Expertentisch am Spielfeldrand auf. Dort sitzt stets der wissende Didi Hammann (Früher, als er noch manisch zwinkerte, war der sogar noch sympathisch) und der allwissende Lothar Matthäus (der allerdings nicht mal weiß, wie man sympathisch buchstabiert). Was an diesem Taktiktisch und in allen anderen Fachgremien des deutschen Fußballerklärfernsehens diskutiert wird, spottet jeder Analyse. Darum geht es ja auch nicht. Vielmehr sind die Diskutanten angehalten, so zu sprechen, dass es jeder Hobbytaktiker unter den Zuschauern versteht. Darum darf Lothar Matthäus in jedem Spiel feststellen, dass es besser wäre, „mehr über die Außen“ zu spielen. Zugegeben, Matthäus war ein Ausnahmespieler. Doch schon damals war sein Zugang zum Spiel mehr von Instinkt geprägt. Der gelernte Raumausstatter hatte ein fantastisches Gefühl für Raum und wie man ihn fußballerisch füllt. Wie beseelt von seinen damaligen Leistungen faselt er auch heute noch am sky „Dagdagdisch“, von Dingen, die er nicht versteht, in Satzstellungen, die er nicht beherrscht. Sozusagen rhetorisch über die Außen. Doch ich will mich von Matthäus nicht beim Thema Spielanalyse aufhalten lassen. Wie sie im TV aufbereitet wird, ist ein langes, schier endloses Trauerspiel.
Dazu ein Beispiel aus dem Alltag auf dem Platz: Jeder Trainer kennt zwei grundsätzliche Spielsituationen. Sie heißen „mit dem Ball“ und „gegen den Ball“. Wie sich seine Mannschaft bewegen soll, richtet also sich stets nach dem Ballbesitz. Die meisten Trainer haben für diese beiden Aggregatzustände unterschiedliche taktische Formationen. Der SC Freiburg verteidigte früher gerne 4-1-4-1. Wenn’s nach vorne ging, wurde daraus ein 4-1-3-2. Das ist ähnlich, aber nicht gleich. Aber schon zu hoch für jede spieltaktische TV-Gesprächsrunde. Bei den meisten Kommentatoren hört es schon vorher auf. Die obligatorische Zweiteilung in "mit den Ball" und "gegen den Ball" nichts, was Programmplaner für massentauglich halten. Dabei haben Reporter, im Gegensatz zum Zuseher, das ganze Spielfeld im Blick. Sie könnten, wenn sie denn nur wollten, vieles zur Erhellung desjenigen beitragen, der hinterm Herd an seinem Lamm schmort und trotzdem mitbekommen will, wie es um die Mannschaften im Olympiastadion bestellt ist. Aber seit Jahrzehnten ignorieren die Spielbesprecher jede Möglichkeit des taktischen Erkenntnisgewinns.
Als Paradebeispiel rufe ich Fritz von Thurn und Taxis in den Zeugenstand. Er hat in den letzten Jahrzehnten keinen Laut gefunden, der ihm erlauben würde, Spieltaktisches zu erklären. Tatsächlich begleitet er Spiele ausschließlich lautmalerisch. Manchmal singt er ein „A“. Manchmal formt er ein langgezogenes „O“. Oft rollt er sein südfränkisches „R“ über zwei Spielminuten hinweg. Von Thurn und Taxis hält das für Stimmung. Diese Orchestrierung hat mit dem Spiel nur mittelbar zu tun, mit Sprache gar nichts. Was Taktik ist, wird man dem alten Fritz sowieso nicht mehr beibringen. Zu spät für sein Alter. Er spricht, als hätte er die Erfindung des Catenaccio noch erlebt - und nicht begriffen.
Das alles kann also Frank Wormuth nicht gemeint haben, als er diese Woche im kicker kritisierte, dass Taktik überbewertet sei. Wormuth ist immerhin Chef-Ausbilder des DFB. Das Aufatmen von Thurn und Taxis und Matthäus war fast greifbar als Wormuth sprach: „Dadurch, dass sich immer mehr Menschen mit Fußball beschäftigen, kommen immer neue Gedanken hinzu. Man sieht plötzlich Dinge, die vielleicht gar nicht da sind oder zumindest so nicht intendiert waren." Wormuth grundierte seine Aussage mit einer feinen Metapher: „Das ist wie bei einer Vernissage, wo dann Menschen ergriffen vor einer Leinwand mit Farbklecksen stehen, sich fragen, was ihnen der Maler sagen wollte und anschließend irrsinnig viel Geld dafür bezahlen. Was uns der Maler sagen wollte? Nichts.“ Meinte Wormuth.
Man muss Wormuth ausdrücklich zustimmen. Doch man solle ebenso betonen, dass er nicht beabsichtigte, Fritz von Thurn und Taxis zu entlasten. Wormuth bezog sich auf Philosophiedebatten über flache Vier, diametral abkippende Sechs, Doppelacht oder die hängende Neun. Trotzdem bereichern diese Formationen die Fußballsprache und unsere Möglichkeiten. Blogs wie www.spielverlagerung.de haben die Fußballanalyse fraglos voran gebracht. Dass darin oft Dinge zu lesen sind, an die kein Trainer bei seiner Aufstellung je gedacht hatte, das erschließt sich mit normalem Menschenverstand. Trotzdem mag ich die Spielbeobachtungsnerds. Sie erweitern den Horizont und bilden einen angenehmen Gegensatz zu Lothar Matthäus. Auch wenn man nicht alles wörtlich nehmen sollte.
Wie man trotz gründlicher Durchdringung aller möglichen Zusammenhänge daneben liegen kann, kann man bei Eduard Schmidt besichtigen. Schmidt ist ein Berliner Taktiknerd ersten Ranges. Akribisch untersucht er jedes Spieldetail - vom Aufwärmprogramm bis zur Vita des Trainers. Wer wissen will, wie Taktiknerds ein Spiel beobachten, sollte in seinen Blog klicken. Dort sind Sätze tiefster Welterkenntnis zu bestaunen. Ein Beispiel: „Beim Juego de Posición geht es um Strukturen, um Zonenbesetzungen, um Dreiecke, um lokale Überzahlen, um positionelle Dynamik und letztlich entscheidend um die möglichst permanente Destabilisierung des Gegners; und das alles in einer ballorientierten Ausrichtung des Kollektivs. Jeder Trainer, der seinem Spiel eine derartige Philosophie zugrunde legt, bestimmt dabei gewisse Richtlinien und Grundsätze, die unter möglichst hoher Variabilität und Unberechenbarkeit eingehalten werden sollen.“ Soweit Eduard Schmidt. Die Sequenz stammt aus einer Analyse einer Mannschaft, die Schmidt mindestens für „hochinteressant“ hielt. Das Team, das nach seinem Dafürhalten damals ein hochentwickeltes „Juego de Pocición“ spielte, waren die Stuttgarter Kickers. Schmidt sah sie beim Auswärtsspiel in Cottbus. Vor zwei Jahren, als die Kickers noch in Liga 3 spielten. Seine Freunde fügten Eindrücke einer Begegnung auf der Stuttgarter Waldau hinzu. Aus alledem erstand diese spieltaktische Heiligsprechung.
Kaum ein Jahr nach dieser Analyse wurde Kickers-Trainer Horst Steffen entlassen. Zwei Jahre danach finden sich die Stuttgarter Kickers im hinteren Abschnitt der vierten Liga. Weitere Abstürze sind nicht komplett ausgeschlossen. Ich möchte nicht wissen, was welche Kraftausdrücke der Degerlocher Platzwart parat hätte, wenn er auf das avancierte „Juego de Pocisión“ seiner Blauen angesprochen würde, das sie vor zwei Jahren noch so vorbildlich gespielt hatten. Spielanalytiker Eduard Schmidt mag einwenden, dass seine Befunde durchaus zutreffend waren – und er schließlich nie behauptet hätte, dass Spielstrategien alleine über Wohl und Wehe einer Mannschaft entscheiden. Stimmt. Trotzdem darf man davon ausgehen, dass Frank Wormuth derartige Analysen meinte, als er letzte Woche von der Überbewertung der Taktik sprach.
Ich weiß nicht, ob Eduard Schmidt am Samstagabend im Olympiastadion war. Vermutlich hätte sich sogar der detailversesssene Spielanalytiker nur unendlich gelangweilt. Nach dem 1:0 der Hertha stellte Kommentator Wolf-Christoph Fuss fest: „Ein Spiel würde dem Tor gut tun“. War aber kein Spiel - und wurde auch keines mehr. Was sich nach dem 1:0 veränderte, waren einzig und allein die schauspielerischen Leistungen der Herthaner, alles Schüler ihres Mannschaftskapitäns Vedad Ibisevic. Zeitschinden in höchster Vollendung. Ganzkörperverletzungen allenthalben. Überall Aua. Irgendwann in der zweiten Halbzeit brannten die Sicherungen des Frankfurters Haris Seferovic durch. Rote Karten nach ansatzlosen Ellenbogenschlag. Praktisch Aua im Kopf. Danach erzielte Hertha noch das 2:0, das war ein paar Minuten vor Schluß. Danach pfiff ich eigenmächtig das Spiel ab. Weitere hanebüchende Analysen des versammelten Dagdigdisches wollte ich mir ersparen. Außerdem war mein Lamm fertig. Endlich. Eigentlich zwei Stunden zu spät.