Atemlos in Lautern

Warum fährt man mit der Murmeltruppe eines Chaosvereins zu Auswärtsspielen? Im prophetischen Bulletin des 5. Zweitligaspieltags berichte ich von einem Selbstversuch, den ich in vollen Zügen genoß.

Unter der Woche erkundigte sich Prophet Peter Michels aus Mönchengladbach, ob wir in Stuttgart alle durchdrehen würden. Antwort: Eigentlich nicht. Alles wie früher, nur früher. Einen Trainer pro Saison verliert der VfB auf jeden Fall, in diesem Jahr schon nach dem vierten Spieltag. Alles normal. Mehr als 10.000 Brustberingte kümmert das nicht sonderlich. Darum machten Sie sich auf nach Lautern. Warum eigentlich? Haben die nichts Besseres zu tun? Nun... Da ich einer von ihnen war, will ich dieses Bulletin nutzen, um Auskunft zu geben.

Warum fahren Menschen zu Auswärtsspielen?

Um die eigene Mannschaft gewinnen zu sehen? Nein. Eher nicht. Schließlich weiß man nie, wie es ausgeht. Das wußte schon Herberger. Und selbst diejenigen, die es wissen müßten, gehen trotzdem auswärts. Schließlich war am Samstsg auch der Bremer Auswärtsblock in Gladbach voll. Es muss andere Gründe geben. Meine Vermutung: WirFans gehen auf Auswärtsspiele, weil wir einer fast verlorenen Fußballromantik anhängen. Wir lieben das Spiel und die Atmosphäre, die es hervorruft. Das nennen wir Fußballkultur. Am Betzenberg kann man sie mustergültig genießen. Wir spazieren vom Bahnhof an unzähligen Büchsenbierständen vorbei, lassen die merkwürdige Kreisverkehrskunst mit den Helden von einst links liegen, laufen durch den sozialen Wohnungsbau untendurch und steigt dahinter empor zur Fußball-Kathedrale, die sich rein äußerlich ebenso hässlich präsentiert wie der ganze Rest. Schön ist anders. Aber so ist die Fußballkultur. Sie weiß genau, dass man sich an ihr berauschen muss. Ohne Schönsaufen funktioniert sie nicht.

Atemlos nach Lautern

Philipp Köster hat kürzlich in 11Freunde genau beschrieben, warum wir am letzten schönen Samstag des Jahres ausgerechnet nach Kaiserslautern fuhren. "Fußball ist deshalb so ein faszinierendes Spiel", schreibt Köster, "weil es uns immer etwas vom Leben erzählt, von großen Siegen und bitteren Niederlagen, von Hoffnung und Resignation, von nicht mehr für möglich gehaltenen Wendungen, von hochfliegenden Träumen und grandiosem Scheitern. Deshalb gehen die Leute ins Stadion". Für all dies scheint Kaiserslautern eine maßgeschneiderte Destination. Und weil man in Stuttgart all das nachfühlen kann, brachen wir auf ans andere Ende des Pfälzer Waldes. Natürlich mit dem Zug. Um den vollen Kulturgenuss einzuatmen.

Voll war's tatsächlich im Zug. Auf der Hinfahrt wie auf der Rückfahrt verpassten wir unseren Anschluss aufgrund Verspätung. Auf der Hinfahrt stiegen wir in die S-Bahn und sie bescherte uns neben Atemlos-durch-die-Nacht-Sound von stimmungssüchtigen Lautern-Fans auch einen Betze-Veteran, der im ziemlich unverständlichen Pälzeridiom von früher erzählte – von damals, als die Betze-Helden für eine frische Fleischworscht und einen Laib Brot spielten. Ich dachte, es läge an meiner Hörschwäche, dass ich nicht jede genuschelte Veteranenpointe verstand. Ich lachte mit, in der Hoffung, den richtigen Zeitpunkt zu erwischen. Auf dem Bahnsteig in Lautern erfuhr ich, dass es meinen Mitreisenden eben so erging. Was ich allerdings deutlich vernahm: Es war von "Fritz-Walter-Wetter" die Rede und von "7:4" und von "Punkte mit der Post nach Lautern schicken". Köster hat recht. Es sind die Legenden vor 30, 40 und 60 Jahren, die uns noch immer bewegen. In diesem Fall von Mannheim nach Kaiserslautern.

Fan-Freundschaften

Für die Atemlosigkeit der S-Bahn wurden wir reichlich belohnt: von einer wunderbaren Atmosphäre. Man darf gewiss feststellen, dass die Innenstadt von Kaiserslautern so attraktiv ist wie die von Sinsheim. Im Stadion zeigt sich jedoch der Unterschied. Die rotverteufelte Westkurve überzeugte mit einer feinen Choreo. Unsere weiß-roten Farben waren ebenso würdig vertreten. Dafür zollten sogar die Lautern-Fans hörbar Respekt. Überhaupt verstehen sich beide Fangruppen gut. Man kann sich leicht auf den gemeinsamen Feind einigen. Die überzeugende Ankündigung "Wir scheissen Euch zu" reimt sich harmonisch auf Karlsruh. So ist die Fußballkultur. Auch Derbes gehört dazu. Selbst wenns stinkt wie in einer überfüllten S-Bahn.

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Im Bild: Der Aufstieg auf den Betzenberg.

Vorherrschende Tristesse erweist sich als guter Nährboden für Fußballromantik. Nicht nur was den sozialen Wohnungsbau betrifft, trifft dies zu. Auch für den Spielaufbau der Lauterer gilt es. Die 11 roten Teufel wirbelten so konfus durcheinander, dass dabei sogar die VfB-Abwehr aussah, als wäre sie ein Bollwerk. Ballstoppen gehört offenbar nicht zum Trainingsinhalt bei FCK-Trainer Korkhut. Ballverstolpern schon, und so war es für verunsicherte VfB-Spieler ein leichtes, das lausige Tor Vorsprung über die Zeit zu retten. Not gegen Elend. Aber eine wunderbare Stimmung. Hicks. Ja, freudetrunken beobachteten wir das Geschehen. Meine Freunde sorgten dankenswerterweise dafür, dass trotz dämlichen Kartensystems die Bierversorgung flüssig lief.

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Lauterer Kreisverkehrskunst, festgehalten von Prophetin Intili

So ist Fußball (2.0)

Was Lautern dem VfB voraus hat, erfuhr ich von unserem LautererReiseführer. Er erklärte uns, wie das so sei in der Zweiten Liga. "Zuerst ist es noch lustig, Du kommst als Bundesligist, spielst mal wieder vorne mit und freust Dich über Siege. Anfangs ist es nicht schlimm. Auch in der zweiten Zweitligasaison bist Du Dir sicher, dass Du bald wieder aufsteigst. Schließlich scheiterst Du nur knapp, mitunter erst im Relegationsspiel. Aber in den folgenden Spielzeiten tauchen immer mehr andere Favoriten in der Liga auf – oft von oben, manchmal von unten. Und alle haben einen großen Etat. Da wird die Luft dünner. Und bevor Du Dich versiehst, hast Du Dich an die Trostlosigkeit der Liga gewöhnt. Schließlich schaust Du nach unten. In die Dritte Liga. Und bist froh, dass Du oben bist. Noch. In diesem Moment sind Deine Freunde, die einst mit Dir ins Stadion gingen, schon deutlich weniger geworden. Und wenn Du ehrlich bist: Es ist ja auch trostlos. Dann ist es nur noch traurig. Und Du versprichst Dir, dass Du in der Dritten Liga nicht mehr dabei bist, weil Du dieses Gekicke nicht mehr erträgst und auf die Idee kommst, dass Du mit Deiner Zeit auch was Besseres anfangen kannst." So sprach mein Freund, der Lautern-Fan. Und trotz eines mittelmäßig überzeugenden 1:0-Siegs fürchte ich, dass ich es ihm bald nachfühlen kann.

Wir sind bei den tieferen Gründen angelangt. Warum fahren 12.000 Leute aus Stuttgart nach Kaiserslautern? Es ist die Fußballromantik zum Einen, aber zum Anderen auch die Vermutung, dass man einen Ausflug nicht mehr oft erleben kann. Dass Kaiserlautern nicht so groß ist, ist überdies sehr praktisch. Auch meine kleine Delegation profitierte davon. Am Bahnhof trafen wir auf weitere Propheten, die sich ebenfalls auf die Fußballkultur und die zünftige Art, sie zu genießen, verstehen. Feinschmecker unter sich. Hicks. Mit uns und weiteren nachhaltig gutgelaunten Stuttgartern stiegen wir in den Regionalexpress nach Mannheim. Allerdings war er damit so hochkrätig besetzt, dass in Neustadt an der Weinstraße alle Systeme versagten. Per Durchsage wurden wir auf den Bahnsteig gezwungen. Wegen Überfüllung! Erst als die meisten Fahrgäste in die parallel verkehrende S-Bahn vergrault wurden, ging es weiter. Ein VfB-Fan monierte, dass es nicht logisch sei, erst 40 km nach dem Start eine Überfüllung zu bemerken. Aber warum soll bitte die Deutsche Bahn logischer sein als das Reiseverhalten der VfB-Fans? Außerdem: Dass die Bimmelbahn stehen bleibt, gehört eben auch zur zünftigen Auswärtsfahrt. Ist ja auch egal. Hauptsache, der VfB wird niemals untergehen. Und bald fahren wir nach Aue. Aue! Ist doch klasse! Unbedingt hin. Und am Freitag ist Bochum. Die Perle des Ruhrgebiets. Schade, Freitag liegt doof. Vielleicht dann Würzburg. Au ja. Würzburg. Gute Idee! Würzburg ist exotisch. Müssen wir unbedingt machen. Die Stimmung war also blendend. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir uns die zweite Liga längst stilecht schön getrunken. Resümee: Wir genossen die Auswärtsfahrt in vollen Zügen. Haha! Spitzenwitz.