Carpi diem

Man sah in Carpi schon Capri-Touristen, die sich nur im Navigationsgerät vertippt hatten. Die kleine prophetische Groundhopping-Abordnung landete mit voller Absicht in Carpi, der inoffiziellen Partnerstadt von Darmstadt.

Gerne überlasse ich ersten Sätze des Bulletins dem Propheten Cyrus Kathmann. "Carpi heißt die Verheißung", schreibt Kathmann live aus Carpi, "nicht Capri, nicht die Fischer von Capri, sondern die Fußballer von Carpi. In dieser Saison Serie-A-Club. Weil nur 4200 Plätze im Stadion, eklige Sicherheitsauflagen, ab ins benachbarte Modena. Heimspiel in der nächstgrößeren Stadt, in der Fremde. Und jetzt pass auf: Wir fahren erst mal nach Carpi vors Stadion. Staunen groß. Obelix in rotweisser Klamottenhaftigkeit Säulenheliger der Ultras. Carpi, das letzte gallische Dorf in Italien. Obelix nicht scharf auf Wildschweine, sondern auf Lambrusco, das heimische Getränk der Region. Der Dicke, der Doofe, der Bauchgesteuerte. Als Vorbild der Ultras. Kommt ohne Asterix und Idefix aus, braucht nur ein Fass Lambrusco." So hat es Prophet Kathmann scharfsinnig festgehalten. Als Mitreisender habe ich Worten nur noch wenig Ergänzungen hinzuzufügen. Einige Kleinigkeiten vielleicht. Jetzt im zweiten und letzten Teil von Groundhoppers Bulletin. Letzte Woche Velenje, diese Woche Carpi.

Carpi, das Darmstadt Italiens. Mit Carpi hatte nun niemand gerechnet. Nicht in der Emilia Romana. Nicht in Carpi selbst. Keiner hatte mit Carpi in der Serie A gerechnet. Vor einigen Jahren war der Provinzklub noch insolvent. Das war ums Jahr 2000 herum. Danach zog der neue Klub über die Dörfer der Gegend. In der italienischen Version der Kreisklasse wachsen nur auf wenigen Plätzen Grashalme. Ziemlich harte Zeiten. 2010 stieg Carpi in die Serie D auf. 2012 war der Verein aus der Po-Ebene schon in Serie B. Dabei ist der Klub kein Ein-Sponsor-Klub, bei dem ein reicher Mann seinen Heimatklub in die höchste Klasse pushen will. Das könnte man vielleicht vom benachbarten Sassuolo behaupten. Dort hat Giorgio Squinzi nach dem Ausstieg aus dem Radsport ein neues Hobby gefunden. Squinzi ist der Chef von MAPEI. Der Bauchemie-Konzern ist allein für die sensationelle Performance von Sassuolo verantwortlich. Ein wenig Hoffenheim weht durchs neue MAPEI-Stadion, das Squinzi in Reggio nell Emilia hingestellt hat. Übrigens mit Einkaufscenter und Großkino. Würde man unter seinem Sitz auf der Gegengerade des MAPEI-Stadions ein Loch graben und hinunterspringen, man würde direkt in der Hemdenauslage von ZARA landen. In Sassuolo, respektive Reggio, wirkt alles durchdacht. In Carpi scheint alles zufällig.

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Aus der Bundesliga erfahre ich, dass am Wochenende Hoffenheim gegen Darmstadt ein friedliches Null-null hingelegt hatte. Ob Carpi sein solch ausgeglichenes Ergebnis in der Serie A jemals gelingen wird, ist fraglich. Wir sahen die Partie des Sonntagsabends gegen das große Inter Mailand. Carpi durfte, wie von Prophet Kathmann erwähnt, nach Modena ausweichen. Etwa 4000 Zuschauer fasst das kleine Rund in Carpi. Schon für die Serie B war eine Ausnahmegenehigung notwendig, damit Carpi seine Heimspiele in der Stadt austragen konnte. In der Serie A ging das natürlich nicht mehr. 30 Kilometer südlich liegt Modena. Die Modeneser spielen in der zweiten Liga, ihr Stadion ist allerdings erstligatauglich. So gerade. Oder eben überhaupt nicht.

Beim Stadionbesuch in Italien fällt dem deutschen Groundhopper erst auf, wie schön man es in deutschen Stadien hat. Vor dem Besuch wartet man erstmal am Kartenschalter. Personalausweis vorzeigen, sonst kommt man nicht ins Stadion rein. Dann steht man im Schnitt eine Dreiviertelstunde in der Schlange. Weil eh schon die Luft steht, wird es im engen Gedränge der Anstehenden nicht besser. Die einzige Hoffnung, die man hat, ist diejenige, dass der Nebenmann nicht nocheinmal einem Freund winkt, der am anderen Ende ansteht. Kein Nebenmann soll bitte den Arm heben. Nicht solange die Temperaturen über 30 Grad sind und wir so dicht nebeneinander stehen. Bei jeder zweiten Karte verweigert das Lesegerät am Drehkreuz den Dienst. In Deutschland würden wir einen kollektiven Aufstand erleben. In Italien stehen die Menschen an. Sie scheinen es nicht anders zu kennen. Im Falle von Modena lasse ich allerdings mildernde Umstände gelten. Mit dem Aufstieg von Carpi und dem damit verbundenden Umzug konnte schließlich niemand rechnen. Dass zu Saisonbeginn die Infrastruktur noch auf Stand der Serie D ist, das sollte man nachsehen.

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So weit weg von Darmstadt liegt Carpi übrigens auch taktisch nicht. Die Rotweißen aus Carpi igeln sich hinten ein - und versuchen mit schnellen Kontern ihr Glück. Schön anzusehen ist das weniger. Aber wir drücken die Daumen für die Obelixe aus Carpi. Ihr lambruscinischer Zaubertrank möge ihnen helfen. Links neben mir quasselt ein fast zahnloser Interisti die gesamte Begegnung durch. Meine mangelnden Italienisch-Kenntnisse helfen mir, denn vermutlich ist es praktisch, dass ich nicht jeden Satz von in der Tiefe begreife. Ohne ein Wort zu verstehen, vernehme ich, dass seine Leidenschaft größer ist als die Fachkenntnis, die in ihm wohnt. Ich überlege, ob er seine Kauleiste sicherheitshalber zu Hause gelassen hat. Damit nix schief gehen kann, wenn's hart auf hart kommt. Aber dann verwerfe ich den Gedanken. Schließlich soll man aufgeschlossen zeigen als Groundhopper. Ich gebe mich als Carpi-Fan zu erkennen - und habe mit dem Zahnlosen in der zweiten Halbzeit meinen Spaß. Das Vergnügen teilte er nicht vollständig. Schließlich muss er wenige Minuten vor Schluss mit ansehen, wie Carpi mit einem Konter und einem abgefälschten Schuss den Ausgleich gegen Inter erzielt. Dabei wollte doch Inter nur das 0:1 über die Zeit retten. Nach allen Regeln italienischer Minimalisten-Spielkultur. Aber plötzlich musste Inter-Keeper Handanovic den Ball aus dem Netz holen. In der kleinen Carpi-Kolonie flippte man vollständig aus. Ich vermied einen Blick zum Zahnlosen. Mitleid ist das Letzte, was man brauchen kann, wenn man gerade in schmerzhaftes Gegentor hinnehmen musste. Der erste Punkt in der Serie A war für Carpi greifbar nahe. Möglicheweise hielten sie ihn schon in den Händen. Zwei Minuten vor Schluss haben ihn die Obelixe wieder weggeworfen. Viel zu spät wurde der linke Flügel gedeckt. Das Tackling war sowas von elfmeterreif, dass der schlechte Schiedsrichter nicht anders konnte, als seine erste korrekte Entscheidung des Abends zu treffen. Elfmeter für Inter. 2:1 durch Jovetic. Schlusspfiff. Zahnlose Euphorie. Darauf einen Lambrusco. Was trinkt man eigentlich in Darmstadt? Ist das eigentlich schon Äppelwoi-Region?

Appelwoi oder Lambrusco? Möglicherweise würden die beiden Getränke sich nicht unbedingt eignen, um damit auf unseren neuen prophetischen Tabellenführer anzustoßen. Prophet Zirn, meine Damen und Herren, Prophet Zirn ist Tabellenführer. Ich betone das gerne und mit besonderer Sympathie. Denn richtig gelungen war das Wochenende des Propheten Zirn nicht unbedingt. Das ging ja in seinem Fall schon am Freitagabend los. 0:3 in Wolfsburg war gewiss nicht das, was man sich als Königsblauer für den Beginn des Wochenendes vorgestellt hatte. Und dann vergass man offenbar auf der Rückfahrt den jungen Draxler-Bengel mit nach Hause zu nehmen. Ob das nach dem Geschmack des Tabellenführers lief, da bin ich mir nicht sicher. Prophet Zirn wird gebührend entschädigt. Sein Verein hat nun ein prall gefülltes Konto. Und Prophet Zirn grüßt von der Tabellenspitze.

Hinter dem Tabellenführer bildet sich ein erlesenes Verfolgerfeld, das einen Blick lohnt. Der vorige Tabellenerste MC Graeff klemmt sich gleich hinter den Ersten. Lausige zwei Pünktchen trennen ihn vom Platz an der Sonne. Dahinter sehe ich Andreas Braun, den Stuttgarter Fahrlehrer, der schon manchen VfB-Jungprofi zum Führerschein verholfen hat. Und trotzdem vermute ich, dass in seinem Fahrschulwagen der größere Fußballsachverstand immer auf der linken Seite sitzt. Auf Platz Vier folgt Carsten Gier, einen ganz besondere Fußball-Experte, bei dem ich mir vornehme, dass ich ihm noch ein eigenes Bulletin widme. Und schließlich möchte ich Martin Krieg auf Platz 5 noch kurz besingen. Der ehemalige Produktionsexperte von Karius scheint ebenfalls nicht zufällig vorne zu landen. Sein Tipp liegt nun schon am zweiten Spieltag hintereinander unter den Top 5.

Auf alle Propheten, vorne oder hinten, erhebe ich mein Glas. Ach ja, es ist noch leer. Ich sollte vorher noch einschenken. Lambrusco oder Äppelwoi? Puh, da fällt die Entscheidung wirklich schwer. Ich vermute, da muss ich noch überlegen.