Das Fußball-Molekül.

Zu Beginn der Rückrunde gleich Grundlegendes. "Warum der Mensch den Fußball liebt", das erklärt das Gast-Bulletin des Propheten Bernhard Ubbenhorst. Er hat im prophetischen Bulletin des 18. Spieltages unter anderem das Fußball-Molekül entdeckt. Heureka!



Meine Stammkneipe, das sogenannte fischlabor, verfügt über einen hervorragend ausgestatteten Stammtisch. Tisch 7, wie er vom Servicepersonal lapidar bezeichnet wird, versammelt eine Reihe kenntnisreicher Experten, darunter manche Propheten. Die beherrschenden Themen in unserer hochintellektuellen Runde sind, wie nicht anders zu erwarten war, rein schöngeistiger Natur. Wir verhandeln neue deutsche Lyrik, ebenso wie die Aussagekraft postmoderner atonaler Kompositionen. Von Zeit zu Zeit besprechen wir aktuelle Forschungsbeiträge aus der Wissenschaft. Politik dagegen berührt uns selten, zu banal, das Thema.

Kürzlich diskutierten wir in dieser Runde das Phänomen Fußball. Ausnahmsweise. Der tabellensiebenundfünfzigste Prophet Hannes Krauß-Ceasar nahm dabei Bezug auf einen Text, der vom Tabellenneunundachtzigsten, dem Journalisten und allestextenden Propheten Bernhard Ubbenhorst zur Europameisterschaft 2012 formuliert wurde. Persönlich halte ich seine Gedanken zur Faszination des Fußballs für überaus relevant. Endlich mal einer, der Neuland betritt. Bevor der Text in den schöngeistigen Schubladen verschwindet, bringe ich ihn gerne im Rahmen des Bulletins zur Kenntnis. Ein großes Vergnügen, danke lieber Bernhard.

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Warum der Mensch den Fußball liebt.

Zu Zeiten großer Fußballereignisse, wie heuer zur Europameisterschaft, teilt sich die Gemeinde stets in zwei Lager. Die einen lieben den Fußball und die anderen hassen ihn und dazu hassen diese noch all jene, die ihn lieben. Fußball als das Vergnügen der Dummen, jenseits vom Guten, Wahren und Schönen der Welt. Primitiv und unverständlich. Die Fußballhasser machen sich über eine ernstzunehmende und durchaus zu respektierende Sache lustig. Vielleicht ist die mangelnde Aufmerksamkeit ihrer Fußball liebenden Mitmenschen in Zeiten großer Fußballereignisse der Grund dafür. Wahrscheinlicher handelt es sich um pure Ignoranz aus Unkenntnis. Dem kann abgeholfen werden.

Fangen wir mal mit den Basics an: Der klassische Fußball besteht aus einer Handvoll Lederflicken. Exakt zwölf schwarze Fünfecke und zwanzig weiße Sechsecke, zusammengehalten von exakt 90 Nähten. Das Flickenwerk aus Pentagon und Hexagon ist seit der Antike die ideale, geometrisch darstellbare Annäherung an die Kugel. Schon Archimedes beschrieb ihn so, den Fußball, aber hat ihn etwas weniger spektakulär "abgestumpftes Ikosaeder" genannt. Pumpt man Luft in diesen noch etwas kantigen, vielflächigen, "archimedischen Körper", kommt Spannung in die Sache und fertig ist die rundum perfekte Kugel. Der Fußball wird manchmal auch Pille, Kirsche, oder Ei genannt. Zu den etwas seltener verwendeten Synonymen gehören Buckyball, Fulleren und C60. Kaum ein Mensch kennt diese Begriffe, doch sie sind der Schlüssel zu einer Erklärung, für die nahezu magische Anziehungskraft, die von einem Fußball ausgeht. Und das geht so.

Der Architekt und Tausendsassa Richard Buckminster Fuller nahm sich 1927, nach dem plötzlichen Tod seiner Tochter, nicht aus Gram das Leben, wie es ihm zunächst opportun erschien, sondern er nahm sich stattdessen vor, die Welt zum Nutzen der Menschheit zu verändern und ein klein wenig besser zu machen. Heraus kam dabei ein ganzheitliches Konzept für Gebäude, das sich die Multifunktionalität der Natur zum Vorbild nahm. Vereinfacht gesagt, versuchte er "Mehr mit Weniger zu tun" und Gebäude nach Vorbildern aus der Natur mit minimalem Materialeinsatz und maximaler Stabilität nachhaltig und ressourcenschonend zu bauen. Einige seiner, Domes genannten, kugelförmigen Bauten, hatten dank ihrer "magischen Anzahl" von Fünf- und Sechsecken eine sehr große Ähnlichkeit mit Fußbällen. Das ist aber nur der erste Teil der Geschichte. Denn die ideale Struktur seiner auch "geodätische Kuppeln" genannten Fußbälle suchte "Bucky" Fuller in der Natur nämlich vergeblich. Obwohl er sich sicher war, dass Gott bei der Schöpfung der Erde auf diesen genialen, hochsymmetrischen Bauplan kaum verzichtet haben dürfte.

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Erst 1985, zwei Jahre nach Buckminster Fullers Tod, wiesen eine Handvoll Wissenschaftler um den Chemiker Robert Curl jr. den Bauplan des Fußballs in der Natur nach. Bereits in den Siebzigern hatte der Japaner Eiji Osawa die Existenz eines kugelrunden Moleküls mit 60 Kohlenstoff-Atomen theoretisch vorausgesagt. Robert Curl jr. fand das Fußball-Molekül schließlich bei einem Experiment, nannte es, Bucky Fuller zu Ehren, Fulleren, und bekam schließlich 1996 mit seinen Kollegen dafür den Chemie-Nobelpreis verliehen. Etwas viel Aufhebens, um so einen Kohlenstoff-Fußball, möchte man meinen. Zwar besteht alles Leben und Material auf Erden vor allem und auch aus Kohlenstoffverbindungen, doch die Fullerene sind eher selten. Es ging dabei in erster Linie um die Eigenschaften des C60-Moleküls. Eine dichte Packung solcher "Bucky Balls" ist zum Beispiel das perfekte Schmiermittel für die Mechanik von Maschinen. Der geringe Reibungswiderstand macht's.

Womit wir wieder beim Fußball wären. Nicht, dass dort nicht auch hin und wieder geschmiert wird, aber es ist exakt diese Eigenschaft des Balls, die letztendlich die Faszination des Fußballspiels ausmacht. Eine Kugel auf einer Ebene, berührt diese stets in nur einem Punkt. Gerät die Kugel in Bewegung, ist sie aufgrund des minimalen Reibungswiderstandes kaum zu kontrollieren. Dieses Problem mit schwer zu fassenden, bewegten kreisrunden Objekten, kennt die Menschheit seit Anbeginn und es ist eines der Ur-Mysterien dieser Welt.

Die Natur auf der Erde geht trotz ihrer Vielfalt ja sehr sparsam mit der kreisrunden Form um. So wie es in der Natur keine rechten Winkel gibt, sind auch Kreise und Kugeln nahezu nicht existent. Sie kommen im Bauplan schlicht nicht vor. Zu kompliziert. Und doch liegt die Kugel seit jeher im Auge des Betrachters verborgen. Der Augapfel ist nämlich die einzige exakte Kugelform, mal abgesehen von einigen Variationen bei Kurz- und Weitsichtigkeit, die nach Jahrhundertausenden der Evolution im Körper des Menschen überdauert hat. Und nicht zu vergessen, das Ei. Sichtbar etwa beim Huhn. Aber ebenfalls verborgen, in einer Kalkschale und umgeben von Eiweiß, findet sich das Gelbe vom Ei als exakt kreisrundes Objekt. Und das war's dann schon. Der Mensch kam sonst niemals mit blitzsauberen Kreisen und Kugeln in Berührung. Sie wuchsen weder auf Bäumen noch lagen sie irgendwo rum. Das erklärt vielleicht die Faszination, die von dieser geometrischen Form auf den Menschen ausgeht. Die unerreichbaren, zunächst als kreisrunde Scheiben identifizierten und als gottgleich verehrten Gestirne am Firmament trugen nicht unwesentlich dazu bei.

Nicht zu beherrschen und nicht von dieser Welt: der Kreis und die Kugel. So wenig wie sich der Lauf von Sonne, Mond und Planeten aufhalten ließ, schaffte Sisyphos es, in der Unterwelt einen kreisrunden Stein einen Hügel hinauf zu bugsieren. Die verhältnismäßig späte Erfindung des Rades vor gerade mal etwa 6000 Jahren belegt das Problem, dass der Mensch seit jeher mit dem Kreisrunden hat. Kein Wunder, dass auch heute noch kaum jemand dazu in der Lage ist, freihändig und ohne Zirkel einen Kreis zu zeichnen. Von der Antike bis in die Neuzeit widmeten sich Generationen von Mathematikern der Berechnung und Beschreibung von Kreis und Kugel. Die Geometrie des Kreises hat bis heute nichts von ihrer Faszination verloren. Die Kreiszahl "Pi", auch "Archimedische Konstante" genannt, beschreibt die Universalität des Kreisrunden im Verhältnis von Umfang zum Durchmesser. 3,1414159... usw.: Für viele Philosophen steckt hinter dieser Zahl das Geheimnis des Universums und des Daseins schlechthin und am jeden 4. März. (3.4 in amerikanischer Datumsschreibweise) treffen sich Mathematiker zum Welt-Pi-Tag und stellen einen neuen Rekord im Aufzählen der Nachkommastellen der Zahl Pi auf.

Spätestens seitdem im Jahr 2010 das Spitzer-Weltraumteleskop ein C60-Fußballmolekül erstmals im All und zwar im planetarischen Nebel Tc1 aufgespürt hat, sollte auch dem größten Skeptiker die wahre Bedeutung klar geworden sein. Der Fußball trägt offensichtlich nach wie vor ein unerklärtes Geheimnis kosmischen Ausmaßes in sich. Das Bestreben eines Fußballers, diese mysteriöse Kugel bis zur Perfektion zu beherrschen, steht somit in der Tradition einer großen Wissenschaft, die sich zur Aufgabe gemacht hat, dieses Geheimnis zu lüften. Woran Sisyphos noch scheiterte, ist für Fußballer kein Problem. Es bereitet ihnen pures Vergnügen. Und einen Ball ins Tor zu zirkeln und mit ballistischen Berechnungen innerhalb von Hundertstel Sekunden den idealen Lauf des Fußballgestirns vorauszubestimmen, und zwar nicht nur Pi mal Daumen, das gebietet allerhöchsten Respekt. Ob Allessandro Del Piero, Joao Pinto oder Gerard Piquét - um nur mal einige Fußballkünstler zu nennen, welche die "Archimedische Konstante" sogar im Namen tragen - große Fußballer wollen, wie Buckminster Fuller auf seine Weise, auch nur die Welt ein kleines bisschen besser machen. Sie tragen praktisch zum Erkenntnisgewinn in der Wissenschaft und Philosophie bei und nebenbei macht es Spaß, ihnen dabei zuzusehen. Man lernt dabei viel über das Leben und Zusammenleben.

Alle, bei denen diese Zeilen zur Fußball-Erkenntnis beigetragen haben, sind herzlich ins Lager der Fußball liebenden eingeladen. Auch dort ist das Schöne, Wahre und Gute und das Leben sowieso zuhause.

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Soweit der Gastbeitrag des Propheten Ubbenhorst, nun der Blick auf die prophetische Tabelle - wo fast nichts mehr ist, wie es in der Vorrunde war. Nur der Tabellenführer hat sich gehalten, Marvin Burmester freut sich sogar über einen kleinen Abstand zu den Verfolgern. Dahinter reibt sich der geneigte Beobachter die Augen. Benny Liebner dos Santos auf 2. Wahnsinn! Einfach mal so 22 Plätze übersprungen. Und das nicht irgendwo im Mittelfeld, sondern ganz vorne, an der Tabellenspitze, dort wo es den Anderen besonders weh tut. Woran das wohl liegen mag? Meine Vermutung: Leverkusen verlor einige Plätze. Hertha ging leicht nach unten. Auf der anderen Seite der Pfeilrichtung klettert Freiburg aus dem Keller - und zwar in eine Region, die durchaus prophetische Relevanz besitzt. All diejenigen Propheten, die diese Verschiebungen auf dem Zettel hatten, profitieren - und das nicht zu knapp. Prophet Benny Liebner dos Santos gehört dazu, obwohl die Bedingungen überhaupt nicht brasilianisch sind, erweist er sich im Schneetreiben unserer Prophezeiungen als zielsicher. Auf Platz 3 jetzt die vortreffliche Kölner Hymnen-Sopranistin Dagmar Floßdorf. Wenn das kein Rückrundenauftakt ist: Köln gewinnt in Hamburg. Selbst prophezeit sie sich auf Platz 3 empor. Bald ist Karneval. Da geht die Stimmung durch die Decke. Alle Achtung.

Weitere Propheten mit glänzenden Vorzeichen folgen auf den Plätzen. Georg Graß gewinnt 30 Plätze, jetzt auf 5. Lars Ritzal gewinnt 38 Plätze, jetzt auf 7. Diesen Platz teilt er mit Markus Herrmann aus dem fischlabor, Tisch 7. Prophet Herrmann, der gewiss unter dem Tor seines Namensvetters litt, gewinnt 28 Plätze und rangiert ebenfalls auf Platz 7, punkt- und fähnchengleich mit Lars Ritzal. Und was bitte, ist auf Platz 12 passiert? Man vermutet schon fast einen Rechenfehler. Sonntagskicker und Prophet Udo Ziegler gewinnt 78 Plätze und steht nun auf 12. Jawogibtsdennauchsowas! Derlei Sprünge hielt ich bisher für absolut ausgeschlossen. Ich wähnte dabei die Physik, die Molekularbiologie und auch die höhere Mathematik auf meiner Seite. Aber es ist wie früher in der Schule. Je wissenschaftlicher die Dinge werden, um so häufiger liege ich daneben. Udo Ziegler führt den höchst praktischen Beweis, dass immer alles drin ist. Fußball-Molekü Hilfsausdruck. Mitten in der Saison überspringt er fast die gesamte Tabelle. Einfach so. Weil er plötzlich 6 Richtige hat. Und weil er sich den Saisonhöhepunkt für den Januar aufgespart hat. Es ist magisch. Nein, Udo ist magisch. Ich vermute fast, da werde ich die Woche schon brauchen, um über diesen Senkrechtstart hinweg zu kommen.