Das haben wir uns verdient

"Das Team erzielt denverdientenAusgleich, geht anschließend alsverdienterSieger vom Platz und steigt anschließend trotzdem verdient ab. Dasprophetische Bulletin des 18. Bundesligaspieltags über den ewig verdienten Spielausgang.
Ziemlich bescheuerte Kiste, die Diego Benaglio am Wochenende kassierte. Beim Rückpass von Luiz Gustavo holperte der Ball. Der Torhüter wollte die Kugel wegdreschen, aber der Ball sprang über einen Grasbüschel. Benaglio traf ihn nicht richtig. Aus dem Befreiungsschlag wurde eine sanfte Bogenlampe. Altintop kam mit dem Kopf dazwischen, er wollte gleich einköpfen, über den Keeper hinweg. Der Augsburger Stürmer setze den Ball jedoch an die Latte. Benaglio wollte klären, flog aber zu tief. So lag der Torhüter sogar noch vor der Kugel im Tor. Diese sprang von der Latte wieder ins Feld zurück. Nun endlich konnte Altintop den Ball versenken. Mit seinem zweiten Kopfball ins fast leere Tor. Ganz leer war es freilich nicht. Benaglio lag ja schon drin.
Ein absurder Treffer. Ursächlich hervorgerufen durch eine lange Kette an Zufälligkeiten. sky-Kommentator Marc Hindelang wusste trotzdem schnell, wie er das Tor einordnen musste. „Der verdiente Ausgleich“, stellte er fest - und drehte damit die beliebteste aller Gebetsmühlen des durchschnittlichen Kommentatorenssprechs. Hindelang berichtete im Rahmen der sky-Konferenz aus Wolfsburg. Seine letzte Einblendung war vielleicht zehn Minuten her. In dieser sprach er noch davon, wie sehr der FC Augsburg verunsichert war und wie wenig Augsburg bis dato auf die Reihe brachte. Und plötzlich: „Der verdiente Ausgleich!“ Wie aus dem Nichts. Reiner Zufall übrigens. Aber wer traut sich, es am Kommentatoren-Mirko so zu benennen? "Ich melde mich aus Wolfsburg, wo soeben Augsburg völlig zufällig zum Ausgleich kam." So spricht niemand. Ergo: Verdient. Augsburg hatte sich das Missgeschick Benaglios verdient. Das entbehrt zwar jeder Grundlage, hört sich aber besser an.
Die Hinterherwisser
Was ist nicht alles verdient im Profifußball: der Treffer, der fällt. Die Mannschaft, die führt. Der Sieg, der in Ordnung geht, weil er ja ach so verdient ist. Alles verdient. Weil Sie leidenschaftlich gekämpft haben, weil sie spielerisch besser waren, weil sie vom Trainer besser eingestellt waren, weil sie vor dem Tor so kalt waren, weil sie die besseren Einzelspieler hatten, weil sie die Gunst der Stunde nutzten, weil sie neunzig Minuten eine engagierte Leistung zeigten, weil sie immer dran blieben… ach egal, verdient ist es immer irgendwie, und wenn nicht, dann dreht man es eben so hin. Von Ernst Huberty bis Jochen Breyer: Fast fünfzig Jahre verfolge ich nun Fußball (meine Mutter behauptet: seit meinem vierten Lebensjahr). In dieser Zeit wurden gefühlte 97 Prozent aller Tore von den zuständigen Spielbesprechern als verdient eingeordnet. Maximal drei Prozent aller Treffer fielen „gegen den Spielverlauf.“ Einer dieser eher seltenen Exemplare fiel am Wochenende in Leverkusen. Es war das 1:0 für Bayer. Sky-Reporter Kai Dittmann stellte völlig zutreffend fest: „Gladbach spielt. Leverkusen trifft.“ Ich stand auf und verneigte mich vor dem wachen Verstand des Kommentators.
Seit ewigen Zeiten wollen uns Kommentatoren ihre besondere Expertise vorgaukeln, in dem sie das Spiel vom Ergebnis her besprechen. Und immer dasselbe Muster: Weil eine Mannschaft führt, war sie auch besser. Ergo: So wie es steht, haben es beide Mannschaften auch verdient. Wenn Fußball nur so einfach wäre. Die Wahrheit ist komplizierter.
Die Wissenschaft
Wer nüchtern auf das Spiel schaut weiß, wovon durchschnittliche Spielbesprecher nichts wissen wollen: dass Fußball über weite Teile ein Zufall- oder Fehlerspiel ist, je nach Interpretation. Wissenschaftler drücken es so aus: „Leistung und Erfolg sind beim Fußball weitgehend entkoppelt.“ Professor Eike Emrich vom sportwissenschaftlichen Institut der Universität des Saarlands stellt sogar eine Zahl in den Raum: „50 Prozent des Spielausgangs ist reiner Zufall,“ behauptet er. Und die Fußballgeschichte gibt ihm Woche für Woche Recht. Denken wir nur an die Pokalsensationen. Fünftligist Geislingen gewinnt gegen den frischen Europapokalsieger Hamburger SV. War der Sieg verdient? Oder war es auch Glück, weil beim 1:0 durch Geislingen Wolfgang Haug den Ball so traf, wie er ihn nie wieder in seinem Leben treffen sollte? Oder nehmen wir Celtic Glasgow vor zwei Jahren gegen FC Barcelona. Celtic mit zwei Chancen gegen Barca mit 85 Prozent Ballbesitz. 2:1 für Celtic. Klarer Fall: Verdient aufgrund der besseren Chancenverwertung. Zwei Pokal-Überraschungen aus den letzten drei Tagen: Celta de Vigo wirft Real Madrid raus. Wolverhampton Wanderers gewinnt auswärts bei Jürgen Klopp in Liverpool. Logisch, würden die Fußballbesprecher sagen: „Verdient! Weil sie an diesem Tag besser waren.“ Keiner würde an dieser Stelle einwenden: „Vielleicht verdient. Aber es war auch 50 Prozent Zufall im Spiel“
Im Handball oder Basketball, beim Bogenschiessen oder Minigolf gewinnt der Bessere mit deutlich größerer Häufigkeit als im Fußball. In vielen anderen Sportarten ist es ja tatsächlich so. Nehmen wir Ausdauersportarten wie Radfahren. Jeder Hobbysportler weiß, dass er besser wird, wenn er häufiger trainiert. Oder eben dopt. In jedem Fall ist seine Leistung etwa proportional zum Trainingseinsatz. Der Rest ist Wettkampf oder Tagesform. Diese Sicht der Dinge erscheint uns logisch. Dieses Denken entspricht unserer Welterfahrung. Wer viel tut, wer sich reinhängt, wird dafür belohnt. Schöne einfache Welt. Aus dieser Haltung entspringt auch die reflexartige „Verdient“-Diagnose. Tatsächlich neigt der Mensch dazu, sich alles erklären zu wollen. Am besten logisch. So sind wir gestrickt. Der Bessere möge gewinnen. Und wenn einer gewonnen hat, muss er ja der Bessere gewesen sein, sonst wär’s ja unlogisch. Menschen hassen Zufälle. Und sogar für das, was wir uns nicht erklären können, haben wir eine Erklärung. Dann betreten wir den Bereich der Religion, sprich: Fußballgott. Menschen hassen Zufälligkeiten. Fußballfans besonders. Und spätestens am Stammtisch haben wir für alles eine überzeugende Erklärung.
Der Championsleaguesieger
Dass ein Fußballspiel wesentlich von Glück und Pech beeinflusst wird, damit tun wir uns schwer. Wie tröstlich, dass jeder weiß, dass sich diese Zufälle, also Glück und Pech in einer Saison ausgleichen. Aber sogar diese Binsenweisheit lügt. Sagt zumindest Ottmar Hitzfeld.
Ich werde nie vergessen, wie ich diesen Satz in einem Gespräch mit Hitzfeld sprach. Ich hatte die Ehre ihn zu interviewen und war entsprechend ehrfürchtig, als ich mich mit dem großen Championsleague-Trainer unterhielt. Eine beeindruckende Persönlichkeit - und das sage ich selten über eine Person, die einmal Trainer des FC Bayern München war. Weil ich auch einmal etwas Intelligentes sagen wollte, sprach ich zu einem Zeitpunkt, der halbwegs passte: „Glück und Pech gleichen sich ja in einer Saison aus.“ „Nein“, belehrte mich der große Meister und erzählte mir von großen Mannschaften, die er trainierte, aber nicht immer dann die Meisterschaft holte, wenn sie am besten spielten. „Nehmen Sie zum Beispiel Freiburg und Stuttgart“, zitierte er damals vor drei Jahren ein aktuelles Beispiel. „Freiburg und Stuttgart spielen einen ausgezeichneten Fußball. Und wo stehen sie? Unten drin. Völlig unverdient.“ So sprach Hitzfeld. Freiburg stieg tatsächlich ab. Stuttgart spielte immer schlechter - und konnte die Klasse trotzdem halten. Freiburgs Abstieg und Stuttgarts Klassenerhalt waren zwar kein reiner Zufall. Aber Glück und Pech spielten eine Rolle.
„Das haben wir uns verdient,“ lassen wir uns also besser von Grooveminister vorsingen als von Spielern, Trainern oder Managern nach dem Spiel eigenlobvorhudeln. Selbst bei neutralen Beobachtern erzählt das „Verdient“-Attribut mehr über ihre eigene Weltsicht als über das Spiel. Zu loben ist dagegen Kai Dittmann, der nach der ersten Halbzeit Leverkusen gegen Gladbach am Wochenende messerscharf analysierte, dass Gladbach lediglich bei zwei Ecken nicht aufgepasst hätte und deshalb mit 2:0 hinten lag. Und sogar am Ende der Begegnung, als Gladbach noch mit 3:2 gewann, sprach er nicht davon, dass der Sieg verdient gewesen wäre. Diese Diagnose überließ er souverän einem Anderen. Am Expertentisch saß Deutschlands führender Welterklärer Lothar Matthäus.