Das Red-Bulletin

Tradition versus Kommerz, Kohle und Stahl versus Plastik, Echte Liebe versus Falsche Liebe – auf solche synonymen Gegensätze wird auch in den Medien gern zurückgegriffen, wenn ein "Traditionsverein" wie Borussia Dortmund oder Mainz 05 auf einen sogenannten "Plastik-Verein" wie RB Leipzig oder TSG Hoffenheim trifft. Oder letztere gar beide beim "El Plastico". Die Fans der Traditionsvereine reklamieren für sich, die einzig wahren Fußball-Fans zu sein und überschütten die Fans des kleinen anderen Lagers mit Hohn und Spott oder auch schon mal drastischer, etwa mit einem Kübel Fäkalien, wie vor dem Sonntagsspiel der Mainzer gegen Hoffenheim geschehen. Recht so, feixt so mancher Traditions-Fan dann still und heimlich, ohne dabei auch nur rot zu werden. Das Feindbild steht felsenfest und die finanzstarken Investoren Dietmar Hopp oder Dietrich Mateschitz geraten deshalb auf den Stehplatz-Tribünen auch schon Mal bildlich ins Fadenkreuz der Kritik. Und das in einer Art und Weise, die in anderen, etwa politischen Zusammenhängen sehr viel schneller als Aufruf zur Gewalt geahndet würde. Grund genug, diesen Phrasen-Salat der Gegensätze von Tradition, Kommerz, Plastik und Echter Liebe einmal auf ihre Substanz hin zu prüfen.

Traditionsbewusste Fußball-Fans bemühen gern die Gründungsgeschichte ihres Vereins als Beleg für ein bereits von den Ahnen begründetes Daseinsrecht ihres Clubs und die schon seit quasi ewig verankerte Verbundheit der regionalen Bevölkerung zu diesem. Je älter, desto traditionsreicher. Doch so einfach ist das mit der Fußballgeschichte nun auch wieder nicht. In den frühesten Gründungsjahren einiger Fußballvereine Ende des 19. Jahrhunderts war Fußball nun mal alles andere als ein Volkssport und Fans, die diesen Sport liebten und das lokale Team unterstützten, gab es auch noch nicht. Ebenso wenig etwas, was wie ein Stadion aussah und solchen Fans Platz geboten hätte. Fußball galt als Fußlümmelei für Kinder und Jugendliche und wurde im Kaiserreich "Englische Krankheit" genannt. Ein Sport für reiche verwöhnte Bengels und nichts für die Arbeiterklasse. Für solche Sperenzchen hatten die Menschen zur Blütezeit der Industrialisierung im Umfeld von Kohle und Stahl gar keine Zeit, sie mussten malochen. Freizeit gab es noch nicht. Die Popularität des Sports nahm erst Anfang des 20. Jahrhunderts und dann vor allem zwischen den Weltkriegen zu, als die Arbeiter geregelte Arbeitszeiten und somit auch Freizeit hatten. In den 20er-Jahren boomte die Gründung von Fußball-Vereinen dann erst so richtig.

Von den heute noch in den ersten zwei Ligen etablierten sogenannten Traditions-Vereinen haben viele damals eine völlig untergeordnete Rolle gespielt, mit entsprechend geringer Fan-Unterstützung. Ebenso wie die 1899 gegründete TSG in Hoffenheim. Wann geht's denn dann definitionsgemäß los, mit dieser Tradition? Sind nur damals bereits erfolgreiche Vereine Traditionsvereine? Gehören nur Vereine aus Großstadtregionen dazu? Oder die seit der Gründung der Bundesliga daran teilnehmenden Clubs? Fällt in diesem Sinne auch der erst 1948 gegründete 1. FC Köln bereits durch das Raster? Vor diesem Hintergund wird schnell offensichtlich, dass der Traditionsverein ein Mythos ist, der allzu beliebig und unreflektiert als abgrenzendes Merkmal angeführt wird. Tradition ist dazu auch eine Frage der Altersperspektive. Ist ja alles schon lange her. Das treibt manchmal lustige Blüten, wie den schönen Kommentar eines HSV-Fans, der bei einer weiteren Umbenennung des ehemaligen Volksparkstadions sinngemäß kommentierte: "Für mich wird es immer die AOL-Arena bleiben."

Ein ebenso gewichtiges Argument zur Abgrenzung von den Retorten-Clubs finden deren Kritiker in der Anzahl der Vereinsmitglieder. Weltweit führend dabei ist der FC Bayern München mit aktuell 277.000 Mitgliedern. Keiner hat mehr, auch nicht bei den Fans, aber das zu bewerten, ist eine andere Geschichte. In Deutschland folgen danach Schalke 04 mit aktuell 145.000 und Borussia Dortmund mit 139.000 Mitgliedern. Da kann die TSG Hoffenheim mit etwa 6200 Mitgliedern nicht mithalten und RB Leipzig mit offiziell 600 Mitgliedern, davon aber nur 17 stimmberechtigt, schon mal gar nicht. Doch auch dieser Gradmesser ist mit Vorsicht zu betrachten. Zum einem korreliert die Anzahl der Vereinsmitglieder nicht mit der tatsächlichen Fan-Basis eines Vereins und zum anderen ist der Status des Vereinsmitglieds sehr unterschiedlich zu interpretieren. Die Mitgliedschaft im jeweiligen e.V. geht doch mit unterschiedlichen Rechten, vor allem Stimmrechten einher. Verein ist eben nicht gleich Verein. Die Frage ist dabei, wem die verehrte Fußballmannschaft gehört.

Bei Licht betrachtet macht es keinen Unterschied, Mitglied beim FC Bayern, Borussia Dortmund oder bei RB Leipzig und der TSG Hoffenheim zu sein. Eine Einflussnahme auf das Wohl und Wehe des geliebten Clubs und die verehrte Fußballmannchaft ist bei allen nahezu unmöglich und die Mitgliedschaft kann man sich eigentlich sparen. Die Fans unterstützen im Prinzip keine Vereine mehr, ob mit oder ohne Tradition, sondern das was sie dafür halten, nämlich unterschiedlichste Formen von Kapitalgesellschaften, von der GmbH bis zur Aktiengesellschaft. Der 139.000 Mitglieder starke Verein der Dortmunder Borussia hält nur etwa 5,53% des Aktienkapitals der Borussia Dortmund GmbH [&] Co. KGaA. Andere wie die Evonik AG besitzen weitaus mehr mit größerem Einfluss, wieder andere viel weniger. So wie Uli Hoeneß, der besitzt auch einige von den 49 Prozent der Aktien in Streubesitz. Echte Liebe gehört eben dazu!

Ausnahmen bilden in dieser Hinsicht im deutschen Erstliga-Fußball heute nur noch der FC Schalke 04, der SC Freiburg, SV Darmstadt 98 und FSV Mainz 05. Alle anderen Vereine sind, wenn auch in unterschiedlichem Maße, längst ebenso wie die dafür gescholtenen Vereine Leipzig und Hoffenheim abhängig von Kapitalgebern und nur so noch überlebensfähig. In hohem Maße trifft das etwa auf Hamburg, Frankfurt und Ingolstadt zu und auf die Werksmannschaften aus Wolfsburg und Leverkusen ohnehin. Und auch die Führungsetagen der letzten verbliebenen, echten Fußballvereine, denken hin und wieder mal laut darüber nach, den Profi-Fußball in eine Kapitalgesellschaft auzugliedern. "50+1" heißt bei dieser Transaktion das Zauberwort, dass der DFB einschränkend vor diese Art der Kapital-Akkumulation stellt. Es bedeutet, dass dem Verein mindestens 51 % einer derartigen Kapitalgesellschaft gehören müssen. Theoretisch, denn bei Leverkusen, Wolfsburg und auch Hoffenheim wurde dieses durch die Anwendung der sogenannten "Lex Leverkusen" schon mal nicht allzu streng ausgelegt.

Die Inbrunst, mit der ein Großteil der Fans vor allem den "Dosen-Club" aus Leipzig und die "SAP-Kicker" aus Hoffenheim und die damit assoziierte "Kommerzialisierung des Fußballs" verteufeln, hat offensichtlich eine nicht zu unterschätzende psychologische Komponente, die auf nicht ganz unbegründeten Ängsten beruht. Die Berufung auf eine Art von Tradition zur Abgrenzung ist gewissermaßen eine etwas verzweifelte Flucht in die gute alte Zeit und ihre vermeintlichen Werte, die es zu erhalten und zu bewahren gilt. Das was da in Zukunft scheinbar unweigerlich auch auf die Bundesliga zukommt, ist andernorts in Europa schon längst geschehen, das Sterben traditioneller Fan-Kulturen inbegriffen. Das kann einem schon Angst machen.

Und just als die Roten Bullen sich an diesem Wochende auch von der Tradition nicht eindosen ließen, ploppte in Fußball-Fachzeitschriften eine Nachricht auf, deren Inhalt befürchten lässt, dass die Kommerzialisierung des Fußballs in Zukunft noch schneller fortschreiten wird als bisher vermutet. Lars Leuschner, ein Professor für Handels- und Gesellschaftsrecht an der Universität Osnabrück hat eine schwerwiegende Rechstformverfehlung ausgemacht und nimmt dies zu nichts geringerem als Anlass, als den übermächtigen Verein FC Bayern München gerichtlich verbieten zu lassen. Als Vorlage dient ihm dabei die Causa ADAC, ebenfalls ein Verein. Der kicker führt dazu in Berufung auf Zeit-online aus: "Weil er zu hohe Umsätze getätigt hatte, um noch dem ideellen Zweck zu entsprechen, hatte der Automobilverein eine Strukturreform beschlossen, die den Einfluss des Vereins deutlich verringert. Auslöser dieser Entscheidung war damals das Amtsgericht München, das auch jetzt wieder im Fokus steht." Und weiter: "Deshalb sei es realistisch, so Leuschner, dass der 270.000 Mitglieder starke FC Bayern e.V. seinen Einfluss auf das operative Geschäft seiner Profifußballer aufgeben oder zumindest verringern muss. Dies könnte dann auch die 50+1-Regel stärker als ohnehin schon ins Wanken bringen, die besagt, dass ein Verein stets die Stimmenmehrheit haben muss. Mit der Rechtsauffassung des Amtsgerichts München sei das nicht vereinbar."

Die Fans der sogenannten Traditionsvereine sind gut beraten, ihre Energien nicht beim Leipzig- oder Hoffenheim-Bashing zu vergeuden, sondern aufmerksam das Geschehen in ihren eigenen Clubs zu verfolgen. Wenn die ohnehin schon wachsweich ausgelegte 50+1-Regel im deutschen Profi-Fußball fällt – und das ist für viele aus der Branche nur noch eine Frage der Zeit – wird dem Kapitalmarkt Tür und Tor geöffnet. Es winken satte Renditen. Die Folgen kann sich jeder Fußballfan denken, auch der, der glaubt, er habe es heute mit Hopp oder Mateschitz bereits mit dem Leibhaftigen zu tun.