Der hat schon Gelb!

Seit letzter Woche haben wir ihn endlich wieder, den alljährlichen Streit über vorsätzliches Foul-Spiel in der Bundesliga. Dieses Mal wurde er ausnahmsweise nicht in München vom Stadionzaun gebrochen, sondern von der Chef-Mimose in Dortmund...

Es hatte schon eine gewisse Tradition. Spätestens nach etwa zehn Spieltagen einer Saison beschwerte sich sehr zuverlässig die Abteilung Attacke des FC Bayern München via Bild-Zeitung über die nicht hinzunehmende Härte, mit der gewöhnliche Bundesliga-Spieler ihre teuer bezahlten Edel-Kicker malträtieren. Häufig fiel das in den jetzten Jahren mit dem verletzungsbedingten Ausfall von Arjen Robben zusammen, dem "Mann aus Glas", wie ihn die spanische Sportzeitung Marca einst taufte. Man verlangte dabei den besonderen Schutz solch kreativer Fußballkünstler durch den Schiedsrichter. Das Kalkül war dabei so durchschaubar wie Glas. Kaum ein anderer Bundesliga-Spieler "zieht" soviele Fouls und Freistöße wie Robben. Doch der hatte in dieser Saison kaum Gelegenheit dazu, da ohnehin schon von Beginn an malad. Und zur Überraschung der verdutzen Bayern, zog nun plötzlich Thomas Tuchel diese Karte, die bei Schiedsrichtern und Medien trotz gegensätzlicher Beteuerungen nie ihre Wirkung verfehlt.

Nach der ersten Saison-Niederlage der Borussen gegen Leverkusen machte Dortmunds Trainer die übertriebene Härte der Pharma-Betriebssportgruppe für die 2-0-Klatsche verantwortlich. In Zahlen führte Bayer tatsächlich auch in der Foul-Statistik eindeutig, nämlich mit 21 zu 7. Tuchels mimosenhaftes Gejammere darüber auf der PK brachte im Gegenzug den Trainer-Kollegen Roger Schmidt auf die Palme. Ein Wort gab das andere und die zwei Streithähne verließen ohne den obligatorischen Hand-Shake die Bühne. Schmidt nahm die Gelegenheit zu Provokationen sehr gern an, klebt doch dieses Weichei-Image an ihm wie rosa Zuckerwatte, seit ihn German Burgos, genannt "der Affe", als Co-Trainer von Atletico Madrid an der Außenlinie bei einem CL-Spiel im letzten Jahr als "Puto" beschimpfte. Das ist im Spanischen das männliche Pendant zu einer "Puta", also einer Hure, im Deutschen würde man das wohl "Strichjunge" nennen. Grund für diese Beleidigung war übrigens auch ein Streit über angeblich systematisches Foul-Spiel, doch damals begangen an Leverkusener Spielern.

Dabei hat Thomas Tuchel ja Recht, wenn er die Foul-Statistik bemüht, in der die Zahlen aus dem Leverkusen-Spiel sich widerspiegeln. Die Dortmunder werden eindeutig häufiger gefoult als Spieler anderer Mannschaften. Bisher waren sie bereits 114 Mal die Opfer und sie führen aktuell zudem mit nur 47 begangenen Fouls die Fairness-Tabelle an, also das Ranking für die barmherzigen Samariter im Profi-Fußball. Leider geht Thomas Tuchel dabei nicht auf die Gründe ein und beschränkt sich auf den Vorwurf der übermäßigen Härte anderer Mannschaften. Legt man nämlich die Ballbesitz-Statistik neben die Foul-Statistik, macht plötzlich alles Sinn. Wer sich erlaubt, mit durchschnittlich fast 70 Prozent Ballbesitz im eigenen Stadion seine Gegner wie Tanzbären am Nasenring durch die Manege zu führen, der muss sich nicht wundern, dass Fouls auf dem Fuße folgen. Es weiß doch jeder Kreisliga-Fußballer, dass ein Foul ursächlich zu keinem anderen Zwecke dient, als dem Gegner den Ball abzuluchsen. Wenn es schief geht, nennt man das Foul. Und je öfter man den Versuch unternimmt, den Ball zu bekommen, umso häufiger resultiert daraus auch mal ein Foul. Logisch. Diese Art von systemimmanenten Fouls ist nicht zu verwechseln mit vorsätzlich begangenen Frust-Fouls, nur begangen weil man schlecht geschlafen hat oder das Konto schon wieder in den Miesen ist, was ja in der Bundesliga eigentlich auszuschließen ist. Das Foul gehört zum Spiel, solange sich eine Mannschaft zu seiner Vermeidung nicht dazu entschließt, die weiße Fahne zu hissen und vollkommen auf eigenen Ballbesitz zu verzichten.

Thomas Tuchel weiß all das natürlich bestens und dazu auch, dass die heutzutage in der Bundesliga geahndeten Fouls bis auf sehr, sehr wenige Ausnahmen mal so rein gar nichts mit übermäßiger Härte zu tun haben. Es handelt sich um normales Tackling, wie es schon seit Gründung der FA nun mal ausdrücklich zugelassen ist, um den Gegner vom Ball zu trennen. Hierzulande wird das Grätschen, Sperren und Blocken oder erlaubter Körperkontakt genannt. Erlaubt, solange dabei der Ball eine zielorientierte Rolle spielt. Mit einer wie von Tuchel latent unterstellten, vorsätzlichen Gefährdung hat das wenig zu tun. Die Spieler sind bestens geschult und schon aus eigenem Gesundheitsinteresse dazu in der Lage, richtig zu reagieren, wenn mal wieder ein Gegenspieler die berühmte Hunderstelsekunde zu spät kommt, den Ball nicht trifft, sondern nur des Gegners Bein oder gar beide Beine. Sie kennen die Regeln. Solch unfaires Trennen vom Ball geht in gefühlt über 90 Prozent aller Fälle mit einstudierten Fallübungen zum Eigenschutz und hernach mit wohldosierter Theatralik einher, die dem Schiedsrichter genügend Gewissheit darüber verschaffen soll, dass hier ein Freistoß geboten ist und beim nächsten Mal dann aber auf jeden Fall auch eine Verwarnung. So richtig weh tut so etwas selten, wie jeder aktive Fußballer bestätigen wird, ohne sich dadurch in die Klischee-Ecke von Macho versus Weichei stellen zu müssen. Deshalb sind ja an jedem Wochenende so viele Spontan- und Wunderheilungen auf Sportplätzen zu beobachten, was viel eher ein Grund zum Klagen wäre.

Dortmunds Präsident Watzke hatte nach dem Aufflammen dieser Diskussion mit der ihm eigenen messerscharfen Logik auch gleich eine Lösung für die negative Foul-Statistik seiner Kicker parat. Man solle doch einfach selbst häufiger foulen, um den vermeintlichen Nachteil auszugleichen. Foulen mit Ansage und Vorsatz? Dümmer geht's nicht. Aber vielleicht weiß er es ja nicht besser. Watzke ist ja in dem Alter, in dem er sich noch sehr gut an einige limitierte Kicker von früher erinnern müsste und an Zeiten, in denen das vorsätzliche Foul-Spiel noch zur Tugend erhoben wurde. Damals wurde ein anderer Fußball gespielt als heute und das brachiale Element war Teil der Fußballschule.

"Eisenfuß" Horst-Dieter Höttges war als knochenharter Verteidiger bekannt, so wie etwa Werner Lorant, der bei der Abwehrarbeit auch keine Verwandten kannte. Vierzehner Stollen vorn und mit offener Sohle voraus ins Geschehen. Wurde der Ball dabei verfehlt, wenn er denn zuvor überhaupt da war, dann floss auch schon mal Blut. Mitunter sehr eindrucksvoll, wie an einem schönen Sommertag im Jahr 1981, als der Bremer Norbert Siegmann dem Bielefelder Ewald Lienen mit seinen Stollen den Oberschenkel auf 30 Zentimeter Länge aufschlitzte. Bei weniger spektakulärem Ausgang wurde damals darüber kein Wort verloren. Kein Blut, kein Foul. Aufstehen, sich entschuldigen und weiter geht's. Ganz ohne blaue Flecken ging kaum ein Spieler nach Hause. Außer vielleicht Johan Cruyff, der es wie kein anderer verstand, sich mit Ballett-artigen Hüpfern über die grätschenden Beine hinweg schadlos zu halten.

Das Foul als Mittel zum Zweck hat so etwa seit Beginn der Neunziger, mit der Etablierung des modernen, laufintensiven Fußballstils der Amsterdamer Schule ausgedient, auch wenn es heute immer noch den einen oder anderen bösen Buben gibt, der glaubt, sich mit gezielten Tritten und Schlägen Respekt verschaffen zu müssen. Übrig geblieben ist heute nur noch das sogenannte taktische Foul, bevorzugt als Zupfen am Trikot ausgeführt, um den Gegenspieler aus dem Gleichgewicht zu bringen und am Fortlaufen zu hindern. Das sieht dann mitunter eher wie neckisches und fast zärtliches Gerangel aus, wird aber trotzdem mit Gelb bestraft.

Der gute Tuchel sollte sich angesichts solcher Foul-Statistiken wie beim Spiel gegen Leverkusen anstatt zu lamentieren lieber selbst auf die Schulter klopfen. Die hohe Anzahl der Foul-Spiele gegen sein Team sind ein eindeutiger Beleg für die Qualität seiner Mannschaft und seines taktischen Systems. Doch Überlegenheit ist kein Garant für Erfolg und nicht immer gewinnt die "bessere" Mannschaft. Das war schon immer so. Auch wenn's weh tut, man muss auch mal klaglos und mit Anstand verlieren können. So wie Carlo Ancelotti nach seiner ersten Saison-Niederlage gegen Atletico Madrid. Es ist eine Frage des Charakters und der Reife. Aber Tuchel ist ja noch jung, irgendwann wird er auch das beherrschen.