Die Verrückten von Neapel

Das prophetische Bulletin des 25. Bundesligaspieltags kommt live aus Neapel. Das alljährliche Groundhopping führte eine kleine prophetische Delegation in die Stadt, die das Gegenteil von Perfektion markiert. Klar, dass auch bei uns vieles schief ging.

Sie sind unter uns, die Verrückten von Neapel. Wir hatten ein Hotel an der Piazza Dante bezogen. Im ersten Stock wippen wir mit den feinen Polit-Grooves, die die Gassen vom Dante-Platz aus erfüllen. "Die Verrückten", so nennen sie sich selbst. Potere al Popolo. Alle Macht dem Volk. Am Wochenende wählten die Italiener. Der Wahlkampf war schon lange vergiftet. Nach dem ausländerfeindlichen Attentat von Macerata wurde es noch schlimmer. Neapel ist zum Gegenpol geworden. Aus dem Staub der Stadt steigt eine neue linke Bewegung empor. Vor wenigen Monaten entstanden, könnte sie am Wahlsonntag sogar die 3-Prozent-Marke knacken und ins italienische Parlament einziehen. In Neapel finden die Menschen kaum Arbeit. Dementsprechend geht es bei den Verrückten vor allem um die Arbeit, wer sie verrichten darf - und wem gehören soll, was dabei rum kommt. Die Bewegung Potere al Popolo kommt dabei sympathisch rüber. Von der Piazza Dante weht der Duft bester Rauchware in die Gassen der Altstadt. Neapel empfängt unsere Groundhopperdelegation extrem freundlich. Dabei warnen die Alt-Philosophen. Wundervoll liegt Neapel, schrieb einer, am Meer unter dem Vesuv, in warmem Klima, alles schön. Es sei wie im Paradies. Allerdings sei es von Teufeln bewohnt. Laut Philosoph sei dies ein notwendiger Ausgleich. Damit Schön und Schrecklich wieder im Gleichgewicht wären. Wir blicken vom Hotelzimmer auf die Kundgebung. Auch Philosophen können sich täuschen.

Der Philosoph täuscht sich sogar gewaltig. Neapel ist klasse. Die Leute: Erste Sahne. Immer zu einem Schnack aufgelegt. Selbstironisch sowieso. Es geht ja auch nicht anders. Die Stadt wurde gebaut, um zu zeigen, dass die Perfektion auch ein Gegenteil kennt. Wer hier lebt, hat sich längst damit abgefunden. Darum ist man hilfsbereit, wo man kann. Sogar die Fußballprofis wurden angesteckt. SSC-Neapel-Stürmer Dries Mertens hat in der letzten Woche am Bahnhof Pizza unter den Bettlern verteilt. Keine Marketing-Maßnahme des Vereins. Eher einfach so. Mit Kapuze und Sonnenbrille, damit man den hochdotierten Fußballprofi nicht erkennt. Ein Journalist hat zufällig Wind bekommen von der Aktion. Sonst wäre Mertens komplett unerkannt geblieben. Man kann sagen: Der belgische Stürmer ist in Napoli angekommen. Alle wissen, dass hier nichts geht. Drum steht man zusammen.

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Natürlich gilt das auch für die Curva im San Paolo. Auch für das Stadion gilt: weit weg von Perfektion. Der kleine Unterrang ist immer leer. Kein Wunder, von dort aus sieht man kaum über die Werbebanden. Aber die Napolitaner sind das gewohnt. In der Stadt stehen zahlreiche Bauruinen. Neubauten, die nie fertig geworden sind. Irgendwann hat einer aufgehört zu bauen. Warum auch immer. Jetzt stehen halbfertige Wohnbunker rum - so sinnlos wie der Unterrang im San Paolo. Egal. Die alte Groundhopperweisheit, dass sich die Seele der Stadt im Stadion spiegelt, zeigt sich in der Kurve. Auch die betäubenden Rauchwaren schweben wieder in der Luft. Sie funktionieren wie Weichzeichner. Als Napoli nach fünf Minuten in Führung geht, explodiert die Tribüne. Vesuv Hilfsausdruck. Eine Minute später gleicht die Roma aus. Die Lava erstarrt. Nur die Rauchwolken sind noch da. Schemenhaft erkennen wir im riesigen Stadion, wie die Roma Tor um Tor erzielt. Der Fußball wie die Stadt. Perfektion ist anders. Aber mit Hingabe. Wir freuen uns daran, wie die harten Ultras in der Halbzeit ihr Pausenbrot verzehren. Wir Touristen sind die einzigen, die nichts zu futtern haben. Der Rest knabbert an etwas, das sich aus der Alufolie schält. Wer Napoli-Fan ist, braucht eben eine Grundlage. Eine Stunde vor Mitternacht strömen wir mit den Fans an den Bahnhof. Chiuso. So ist das eben in Napoli. Trenitalia hat bereits Feierabend gemacht. Busse fahren auch keine. Es sind sechs Kilometer in die Innenstadt, aber nur, wenn man bereit ist, durch ein kilometerlanges Tunnel zu spazieren. Über den Berg sind es elf Kilometer. Nur die Touristen wundern sich. Die Napolitaner wissen, dass der öffentliche Nahverkehr noch nie funktioniert hat. Der Straßenverkehr ist längst zusammengebrochen. Wir gewinnen einen Nachtspaziergang - und ein besseres Gefühl für die Stadt, und wie man mit ihr umgeht.

Am nächsten Tag brechen wir auf nach Benevento. Nicht, weil wir was gegen Napoli hätten. Im Gegenteil. Wir lieben die Unvollkommenheit und wollen den Abstiegskracher Letzter gegen Vorletzter erleben, Benevento gegen Hellas Verona. Weil eine Bahnverbindung nur am hellen Morgen angeboten wird, entscheiden wir uns, ein Auto zu mieten. Wir erreichen das Stadion zeitig. Nicht viel los dort. Tifosi fehlen. Zehn Minuten bevor wir eintreffen, wurde der gesamte Spieltag der Serie A abgesagt. Der Capitano der Fiorentina, Davide Astori, war am Morgen gestorben. Man mag sich kaum über Groundhopperpech beschweren. Die Welt ist eben nicht perfekt. Und wir freuen uns, dass wir es erleben dürfen. Als wir in der Innenstadt nach einer sky-Bar suchen, um ein Bundesliga-Ersatzprogramm aufzurufen, werden wir von einer Polizeistreife angehalten. Prophet Frank trägt einen dunkelblauen Hoodie. Wir werden für Hellas-Tifosi gehalten. Die Beamten notieren pflichtschuldig unsere Passnummern. Als Hellas dürften wir gar nicht hier sein. Danach steigen wir in den Streifenwagen. Die freundlichen Beamten fahren uns zur Cafébar mit dem besten Fußballprogramm der Stadt. Carabinieri als Taxi. Unbezahlbar.

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Perfekt ist woanders. Hier ist Napoli. Schon vor dem abgesetzten Spiel in Benevento, bei der Anreise zum Napoli-Match im Sao Paolo, waren wir perfekt assimiliert. Wir folgten dem Delegationsmitglied, welches in unseren bisherigen Ausflügen nicht unbedingt durch Reiseleiterkompetenz überzeugte. Er wisse genau, wie man zum Stadion komme. An besagter Haltestelle "Quattro Giornate", die auf allen U-Bahn-Plänen mit einem Ball-Signet ausgezeichnet war, standen wir bereits eine Stunde vor dem Spiel. Runde sechzig Jahre ist es her, als der SSC Neapel dort sein letztes Spiel ausgetragen hatte. Das Ball-Signet auf den Fahrplänen hat überlebt. Sonst nichts. Es gab übrigens noch eine weitere Station mit einem Ball-Signet – ungefähr am entgegengesetzten Ende der Stadt, deren Straßen rituell verstopft sind und deren Nahverkehr kaum funktioniert. Um pünktlich zum Anpfiff in der Kurve zu stehen, benötigen wir von Bahnhof zum Stadion eine Fabelzeit über 1500 m flach.

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Napoli ist klasse. Es war längst Montag, als wir am Sonntagabend die famose Altstadt-Bar "Perditempo" verließen. Verlorene Zeit! Die Menschen, mit denen wir sprachen, wählten wohl ausnahmslos Potere al Populo. Wir nutzen die Gelegenheit, um über aktuelle Wahlergebnisse zu sprechen und um die politische Seele Italiens anhand einer Wähler-Stichprobe zu analysieren, die uns nach einigen Getränken zu viel als zweifellos valide erschien. Im Gegenzug mussten wir erklären, warum Deutsche so unzufrieden sind, dass sie jetzt auch eine extreme Rechte wählten. Das fällt schon nüchtern schwer. Doch für die notwendige Leichtigkeit sorgten feine Klänge von Tuxedomoon und Canned Heat. Falls beim Rückflug unser Gepäck auf Drogen kontrolliert wird, könnte es an den Klamotten vom Vorabend liegen, deren Dampf durch die Gepäckstücke dringt. Am späten Montagmorgen melden die Zeitungen, dass bei den Parlamentswahlen die Cinque Stelle und Rechts- und Mitterechts-Parteien vorne liegen. Die Menschen der Stadt werden manche gute Rauchware benötigen, um sich die Lage weichzuzeichnen. Die Welt ist doch verrückt.