Fanneken Piss

Die gute alte Fußballtoilette stirbt aus. Auch sie steht sinnbildlich für die überbordende Kommerzialisierung im Fußball. Das prophetische Bulletin des 7. Bundesligaspieltags öffnet die Tür in eine Realität, die bisher nur selten beschrieben wurde.

Bei den Ablösesummen kann niemand mehr von Mondpreisen sprechen. Katarpreise werden gezahlt. Sie sind um vieles höher. Von der Fanrealität sind diese Summen so weit entfernt wie zum Mond und wieder zurück. Die bekannten Zahlen hinter dem Neymar-Transfer haben die Diskussion unter den Fans zusätzlich befeuert. Diskutiert wird, wieviel Kommerz im Fußball eigentlich noch erträglich ist. Weitere Themen sind Anstoßzeiten, 50+1-Regel, Retortenclubs und finanzielles Fairplay. Unterdessen schreitet eine gewisse Entfremdung voran. Womit sollen sich die Fans noch identifizieren? Die Spieler fallen aus. Kicken sie gut, „machen sie den nächsten Karriereschritt“. Kicken sie mäßig, hat sich das Thema auch erledigt. Kicken Sie sehr gut, werden Sie Milliardäre, mit denen die Fans nichts zu tun haben wollen.

Die Ich-AG

Prophet André Bühler diagnostizierte kürzlich bei einem durchschnittlichen Bundesligaspiel, es würden im Grunde „elf Ich-AGs gegen andere elf Ich-AGs“ auf dem Platz stehen. Der Befund ist höchst nachvollziehbar - und er geht an die Substanz des Mannschaftssports. Die Zeiten für Fußballromantiker werden härter.

Ich gebe gerne zu, dass ich zu diesen Romantikern gehöre. Schon die modernen Arenen, die anstelle von richtigen Fußballstadien getreten sind, vergällen mir den fußballerischen Graswurzelgenuss. Kürzlich war ich beim Fußball zu Gast auf Schalke, einer riesigen Turnhalle. Auch der Ausflug nach Düsseldorf war aus romantischer Sicht unbefriedigend. Ich fand mich unterm Dach einer zum Stadion umgewandelten Grand-Prix-Eurovisions-Arena wieder. Statt Gras stieg mir der Apfeltee in die Nase, den mein Nachbar in einem Shisha-ähnlichen E-Gerät verbrannte. „Die Atmo kannste in der Pfeife rauchen“ dachte ich und überlegte, woran man wohl den echten Fußballgenuss nach meinem persönlichen Gusto erkennen könnte.

Meine Oma

Von meiner Oma, die vor langer, langer Zeit im Nordschwarzwald eine Gaststätte führte, erfuhr ich einst, woran man eine gute Wirtschaft erkennt: „An der Salatsoße und am Klo wirst Du sie erkennen“, das wusste Oma ganz genau. Sie war lange Wirtin des Ochsens in Unterreichenbach im Nordschwarzwald. Oma’s Weisheit, stelle ich heute fest, gilt auch im Fußball, wo selbst Toiletten zum Sinnbild der Kommerzialisierung geworden sind. Reinen Stadiongenuss erkennt man an den Toiletten. Nicht am Dressing.

Der Toilettenbefund gleicht dem Fußballbefund aufs Haar. Schauen wir also rein, hinter die Türe mit dem Mann-Symbol auf der Tür. Wir blicken auf Pissoire in Reih und Glied. Die wundervollen Pissrinnen, an denen einst die druckgeplagten Männer reihenweise zusammen standen, sterben aus. In den modernen Arenen hat jeder sein eigenes Pissoir bekommen. Warum eigentlich? Wo man früher in der Halbzeit, wenn’s dringender war als auszuhalten, enger an der Rinne zusammenrücken konnte, muss man sich heute in lange Schlangen einreihen. Das ist nicht nur unpraktisch, sondern auch unromantisch. Der moderne Eventbetrieb hat die schönen Pissrinnen abgeschafft, damit die Fußballromantik in vollautomatischen Wässerungsintervallen fortgespült wird.

Die Toilette als Sinnbild

Welch Duplizität der Ereignisse, um die wundervolle alte Reporterfloskel zu bemühen. Die Spieler kicken allein. Die Fans pissen allein. In den Toiletten und auf dem Platz: Kein Zusammenhalt. Alle schön für sich.

Man könnte von einer Denaturierung des Toilettenganges sprechen. Die Bevormundung der Fans findet selbst hinter der Toilettentür statt. Wie es natürlich funktioniert, habe ich schon vor zehn Jahren beim Regionalligaspiel Darmstadt gegen Augsburg festgehalten (siehe Abbildung 1: Konstanter Abstand beim Pinkeln in freier Natur). Das Beispiel zeigt mustergültig das sichere Gespür für den richtigen Abstand. So sind Pissrinnen einst entstanden. Um den Abstand musste sich niemand Gedanken machen, denn jeder wusste, dass Mann diesen von ganz allein findet. Damals als die Toilette noch von örtlichen Fliessenlegern eingerichtet wurde und nicht von anonymen Projektplanern in fußballfernen Architekturbüros. Damals freute sich der Fliessenleger Müller (früher Mittelstürmer der zweiten Mannschaft), dass er sich für seinen Verein ins Zeug legen konnte und eine schöne Pissrinde modellieren durfte. Heute freut sich nur der Geberit-Konzern.

Das Klorakel

Andersrum gewendet: Wer also echte Fußballromantik sucht, erkennt den wahren Genuss an den Toiletten. Aus meiner subjektiven Erinnerung eine Liste an Fußballstadien, in denen ich meine kleine Notdurft solidarisch in feinst gekachelte oder metallische Pissrinnen lenkte:

- Grotenburg in Uerdingen
- Bieberer Berg in Offenbach
- Kickersplatz in Degerloch
- Erzgebirgsstadion in Aue (wird leider gerade renoviert).

Die Liste stimmt überein mit den Empfehlungen zum fußballromantischen Stadionbesuch. Wer die Liste noch ergänzen möchte: Ich freue mich auf Hinweise.

Falls die Tipps zahlreich eingehen, bin ich gerne bereit, die Aktion „Rettet die Pissrinne“ zu starten. Ich würde dann der Mülheimer Punkrock-Band die Domain www.pissrinne.de abkaufen - oder sie mit einem Soundtrack in meine Pro-Pissrinnen-Kampagne einbinden. Auf diese Weise könnte ich für Fußballromantiker und Groundhopper einen ultimativen Toilettenreiseführer auf den Leib schreiben, der ausschließlich Graswurzelstadien ausweist.

Das Motto der bundesweiten Aktion, die flashmobtechnisch meine Kampagne krönen würde: „Moderner Fußball - verpiss Dich.“