Farbenspiel.

Endlich ist Musik drin im Bulletin. Aus akuellem Anlass des 7. Spieltags wage ich Gedanken in Moll und Dur. Natürlich gehört auch die rote Karte zum fußballerischen Farbenspiel.

Über Fußball zu schreiben, bedeutet grundsätzlich ein Risiko. Meine Stuttgarter Färbung kann ich nicht verbergen. Obwohl ich weiß, dass der Mittelpunkt der Welt definitiv woanders liegt. Wenn ich heute über Musik schreibe, kann es eigentlich nur noch schiefer gehen. Da kenne ich mich noch weniger aus, und das Element "Geschmack" tritt noch deutlicher zu Tage. Alle musikalischen Versuche, die dargebotene Qualität zu skalieren, bleiben fehlerhaft. Ob Charts, Casting-Shows oder Grand Prix - es gibt kein Gut, und kein absolutes Besser. Trotzdem gilt in meiner verzweifelten Lage: Hoch verteidigen, mutig auf die Misstöne draufgehen – auch wenn man Risiko läuft, hinten einige Gegentreffer zu fangen.

Meine musikalische Unkenntnis war schon früh an meiner Plattensammlung abzulesen. Da tummelte sich neben wenigen harmonischen Klängen, manches, das anderen Zeitgenossen in den Ohren schmerzte. Neulich fuhren wir übers Land. Aus dem Lautsprechern ächzte der wundervolle Gun Club. Klassiker. Helden aus früheren Tagen. Mein geliebte Freundin Nina Graß bat mich umgehend, diesen Titel schnell zu überspringen, sie könne diese Heulboje, die nicht mal einen Ton halten kann, keine Sekunde länger ertragen. Ich gebe zu: Dass Sänger Jeffrey Lee Pierce keinen Ton halten kann, war mir in den 30 Jahren zuvor nicht aufgefallen. Aber Nina hat zweifellos recht. Fachmännische Ohren hören sofort, was Absicht ist, und was einfach nicht gekonnt. Der Typ kann nicht singen. Prophetin Graß ist in diesen Dingen eine absolute Autorität. Die Sängerin kann nicht nur einen Ton halten, sie bringt ihn sogar auf vortrefflichste Weise zum Klingen. Ihre eigene Band ist auf jeden Fall einen Klick wert. Im Zusammenhang dieses Bulltins sollte erwähnt werden, dass der Text zu ihrem wunderbaren Titel "Farben hören" schon vor anderthalb Jahren geschrieben wurde.

Auch von Prophet Markus Herrmann weiß ich, dass er Teil eines ambitionierten Band-Projektes ist. Die Werke von „San’s Order“ kann man vielleicht am besten beschreiben, wenn man erwähnt, dass die Bandmitglieder im zweiten Untergeschoss der Stuttgarter Szenekneipe Cup Tormentoso ihren Übungsraum bezogen haben. Schon im ersten Untergeschoss, dort wo die öffentliche Bühne steht, ist kaum daran zu denken, einen Ton zu halten. Weil man überhaupt keinen rauskriegt, bei der dicken Luft, die zu 99% aus abgestandenem Zigarettenrauch besteht. Das Konzert am letzten Donnerstag wurde präsentiert von einem Booking-Büro, das sich offiziell als „Biertrinkerszene“ bezeichnet. An den Wänden sind nur noch wenige freie Flächen zu finden, an denen man einen Kleber anbringen kann. Die Experten mögen aufgrund dieser Informationen aus dem Underground die Qualität des Schuppens einschätzen. Prophet Herrmann und San’s Order spielen dort im zweiten Untergeschoss. Dementsprechend tiefgründig ist ihr Sound. Eben ein anderer Zugang zur Musik. Hauptsache Herzblut. Ein wenig Gun Club ist auch dabei. Gefällt mir. Aber zum eigentlichen Thema.

Musik beim Fußball – da gibt es viele wundervolle Titel und große Momente, die mir spontan einfallen. Durch Musik kann der große fußballerische Moment tatsächlich noch größer werden. Nur einige Beispiele von tausenden, völlig subjektiv zusammengestellt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

- Ich steh nicht auf Musical, aber dass die Liverpooler Fans ihr „You’ll never walk alone“ von der Bühne ins Stadion geholt haben, ist eine der wichtigsten Heldentaten in diesem Zusammenhang. Prophetin Nina Graß hat mir einst eine ganze CD aus über 16 verschiedenen „You’ll never walk alone“-Interpretationen zusammengestellt, viele davon aus dem Stadion. Wunderbar. 16 Versionen lang.

- Ich steh nicht auf Schlager. Aber dem legendären Waldau-Gassenhauer „Heja, heja, Kickers vor“ liegt eine besondere Würde inne. Ganz besonders dann, wenn er aus dem maroden Lautsprechern der alten Kickers-Haupttribüne schallte. Musik: Erwin Lehn. Text: Blacky Fuchsberger. Nicht nur aus diesem Grund an dieser Stelle eine Erwähnung wert.

- Ich steh nicht auf Karnevals-Musik. Aber die Hymne des Kölner Karnevalsklubs ist absolut einzigartig. Und das schreibe ich nicht, weil ich weiß, dass Prophetin Dagmar Floßdorf verstimmt wäre, wenn ich sie nicht erwähnen würde. Klasse Hymne.

- Ich steh auch nicht auf Heavy Metal, aber Hells Bells vor einem Heimpiel ist mal amtlich in Ordnung. Und bei einem Tor der Totenkopf-Elf legt Blur los. Song 2. Schon allein darum, muss man Pauli gut finden, egal, wieviel Kommerz diejenigen stört, die sich schon lange „not established since 1909“ fühlen.

- Schließlich muss derjenige heilig gesprochen werden, der einen der besten Songs ever „Seven Nation Army“ von Jack White und seinen genialen White Stripes ins Stadion geholt hat. Es waren wohl Belgier, aus Brügge, die während der Championsleague damit begannen. Danke dafür, ihr Helden der Tribüne.

Lauter gute Songs, lauter gute Ideen - wo man hinschaut in der Fußballwelt. Nur eine Quelle der Geschmacklosigkeit outet sich pausenlos: ausgerechnet die deutsche Nationalmannschaft. Da hatte Klinsmann für jede Disziplin einen eigenen Experten. Beschäftigte Psychologen, Analytiker und Buddhas. Nur die Musikauswahl überlies er den Ahnungslosen. Was die Adler-Kicker in ihrer Umkleidekabine hören, quälte mich, beleidigte mich, brachte mich um den Verstand. Im Jahr 2006, im Laufe des Sommermärchens, hörten unsere Kicker Xavier Naidoo: „Dieser Weg wird kein leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer.“ Naidoo, der niederträchtige Banalo im Gewande eines Menschenfreundes, legte mit Hilfe der Nationalmannschaft eine Schleimspur durch ganz Deuschland. Nicht einmal das Fußballspiel ist so einfach gestrickt, dass man es mit den Denkstrukturen der Mannheimer Heulboje erfassen könnte. Dass die deutsche Mannschaft unter diesen unsäglichen Betroffenheitsklängen überhaupt das Spiel um den dritten Platz erreichen konnte, darf als Höchstleistung der besonderen Art betrachtet werden. Zugegeben: Naidoo kann einen Ton halten. Mehr auch nicht. Stein, steinig, steinigen. Der Weg muss kein weiter sein.

Wer gedacht hätte, das Tal der Geschmacklosigkeit wäre bereits durchschritten, irrte gewaltig. Die Weltmeisterschaft in diesem Jahr wurde geschmückt mit Helene Fischer. Genau die Helene Fischer, die man kaum noch abschalten kann in diesem Land. Die Folge: In jeder Halbzeit - von Bundesliga bis Kreisliga - spielt die Stadionregie das Lied, mit dem die Nationsmannschaft auf der Bühne vor dem Brandenburger Tor empfangen wurde. Nach meiner Einschätzung war Atemlos ein weit größterer Skanda als der putzige Gringo-Tanz. Jens-Christian Rabe hat zum Tourauftakt in der Süddeutschen eine umfassende Würdigung vorgenommen, und festgestellt, dass Helene Fischer das Ende aller Kritik bedeutet: "Teflon Lene, denkt man - und verwirft die Idee gleich wieder, weil einem gar nichts einfällt, was an ihr abrutschen könnte. Damit ist die Frau der kapitalistische Glücksfall schlechthin. Natural Born Perfect.“ Auch die deutsche Nationalmannschaft war nicht mehr kritikfähig. Es macht michatemlos. Es ist ein Skandal.

Dementsprechend schwarz sehe ich für das kommende Welt-Turnier in Russland. Auf der nach oben offenen Shitlist deutscher Mitgröl-Musik, Marke "Der-singt-genau-was-ich-fühle", fehlt eigentlich nur noch die Schülerband aus meiner erweiterten Nachbarschaft. Russland = Abenteuerland, man muss es nicht erklären, es reicht schließlich, wenn man es fühlt: Es würde passen. Außerdem: Bestätigen nicht alle Reporter, wenn sie in einer prall gefüllten WM-Arena stehen, man würde „Emotion pur“ spüren?. Kürzlich wurde die Plattitüde zwar abgelöst vom Ausdruck „Gänsehaut pur“, aber am puren Wahnsinn ändert das ja nichts. In der Tat, die Gänsehaut bekomme ich auch – und zwar bei Pur. Meine einzige Hoffnung in diesem Zusammenhang besteht darin, dass ich ein schlechter Prophet bin. Und falls meine Ahnung doch zutreffen sollte, sperre ich mich für die nächste WM einfach ein, vielleicht in den Proberaum im zweiten Untergeschoss des Cap Tormentoso, bei Bier und Zigaretten – und zwar mindestens so lange, bis ich einen Ton halten kann.

Dort unten in meinem Verließ sitze ich dann fest und singe, so gut es mein Ton zulässt „Was wollen wir trinken, sieben Tage lang, was wollen wir trinken, so ein Durst“. Dabei übe ich nicht nicht nur den exakten Ton, sondern auch den Akzent eines Hermann van Veen. Warum das? Genau: Es ist die Torhymne von 1899 Hoffenheim und ich singe sie zu Ehren unseres neuen Tabellenführers Wolfgang Ehret. Was das Singen von Torhymnen betrifft, wäre es allerdings deutlich einfacher, die Lieblings-Torhymne des prophetischen Zweitplatzierten Andreas Wilkens zu intonieren: Eine Schiffshupe! Das würde ich vielleicht noch hinbekommen - nach einigen Hup-Versuchen. Welche Torhymnen verwenden eigentlich Hannover 96 (der Verein des Drittplatzierten Marvin Burmester), der 1.FC Nürnberg (der Verein des Viertplatzierten Rudolf Büchner und der 1.FC Kaiserslautern (der Verein des Fünftplatzierten Stefan Linn)? Nur mal so gefragt, einige herausfordernde Aufgaben sind hilfreich, wenn man über Wochen im zweiten Untergeschoss des Cap Tormentoso eingesperrt ist.