Fifty Shades of Unentschieden

Remis is King! Das prophetische Bulletin des 20. Spieltags singt das Loblied des Unentschiedens, des ewig verkannten Spielausgangs und stellt fest: Das Remis spielt für die Popularität unserer Sportart eine entscheidende Rolle.
Nur wenigen ist es aufgefallen, aber an diesem Bundesligaspieltag hat etwas gefehlt: das Unentschieden. Vielleicht waren die Beteiligten noch verstört vom merkwürdigen Unentschieden, das sich letzte Woche in Taunusstein-Seitzenhahn abgespielt hatte. Da ließ eine Frau zwei Handwerker ins Haus, dann ging sie. Als sie nach ein paar Stunden wiederkam, fand sie die beiden Arbeiter tot im Keller. Die Polizei ist sich sicher: Die gute Frau hat damit nichts zu tun. An beiden Leichen fanden sich Spuren von Gewalt. Der eine starb nach Einwirkung eines stumpfen Gegenstandes. Im toten Körper des Anderen erkannte man stichartige Verletzungen. Während die Polizei noch auf die Ergebnisse der Obduktion wartet, sind wir Propheten, darunter jede Menge Sonntagskommissare, schon weiter. Unsere Entscheidung lautet: Klares Unentschieden. Kein 0:0. Eher 1:1. Allerdings ein 1:1 der trostlosen Sorte, zugegeben.
Im Fußball hat das Unentschieden einen miserablen Ruf. Es steht im Verdacht, langweilig zu sein. Reflexartig denkt man an ein spielerisch ödes 0:0 ohne jeden Höhepunkt. Oder an die Enttäuschung über den ausgebliebenen Dreier. Schließlich geht man mit Siegeszuversicht in den Spieltag. Was dazu führt, dass man das Remis hinterher als Enttäuschung empfindet. Der eine Punkt, den es für das Unentschieden gibt, ist ja auch weniger als die Hälfte von den drei Punkten, die man für einen Sieg gutschreiben kann. Selbst die Regelhüter des Fußballs haben es offenbar nicht so mit dem Remis, der Null, wie sie abwertend im deutschen Totoblock bezeichnet wird. Die Österreicher notieren an dieser Stelle übrigens ein X, sowas wie „Ausgang unbekannt“. Auch mein Mit-Bulletinschreiber Bernhard reagierte mit sanfter Zurückhaltung („Da bin ich indifferent“) als ich ihm ankündigte, ein Loblied auf das Unentschieden zu singen. Dabei ist das gepflegte Remis zweifellos das verkannte Salz in der Fußballsuppe. Und gerade in diesen Zeiten ein Segen.
Gut oder Böse? Schwarz oder weiß? Gehörst Du zu uns oder zu den Anderen - zu den Gewinner oder Verlierern? Diese Fragen stellen vor allem einfache Gemüter. Es hilft Ihnen, noch mitzukommen, bevor es zu kompliziert wird. Wenn diese Dummen damit an die Macht kommen, und die Menschen tatsächlich in ihre schlichten Kategorien teilen, ist es um Sportlichkeit und Fairness geschehen. Wie vorbildlich erscheint an dieser Stelle unsere Sportart. In der Natur des Fußballs ist es von Anbeginn verankert, dass es mehr gibt als Sieg oder Niederlage. Mehr als das digitale 1 oder 0. Dazwischen ist nämlich unendlich viel wundervolles Grau. Fifty Shades of Unentschieden. Mindestens. Genau diese Schattierungen machen die Angelegenheit so spannend.
Hat jemand im Wildwasserkanu schon unentschieden gespielt? Im Biathlon kommt es auch selten vor. Im Tennis ist es ziemlich unmöglich. Nicht mal im Tischtennis ist das Remis ein bekannter Spielausgang. Dabei zeigt der Fußball, wie einfach es ist: 90 Minuten, manchmal ein paar mehr. Abpfiff. Egal, wie es steht, ob ein Tor gefallen ist oder nicht, ob es einen Gewinner gibt oder nicht. Der Fußball entspricht dem Leben. Irgendwann ist Abpfiff. Und der richtet sich nicht nach dem Ergebnis, das gerade auf der persönlichen Anzeigetafel aufleuchtet. Dann schüttelt man sich kurz die Hände, geht auseinander. Und vielleicht, wenn es gut läuft, kickt man ein andermal wieder. Vielleicht gibt’s ja beim nächsten Mal einen Sieger.
Tatsächlich bin ich ernsthaft davon überzeugt, dass die Existenz des Remis einen Großteil der Faszination unserer geliebten Sportart ausmacht. Schon Herberger wusste: „Die Leute gehen zum Fußball, weil sie nicht wissen, wie es ausgeht.“ Dieser Satz erfährt durch das Unentschieden eine noch tiefere Bedeutung. Schauen wir auf die Wettquoten: Beim Handball, Basketball oder Eishockey, im American Football oder Rugby ist das Unentschieden eine seltene Wette. Die Quoten sind hoch. Der Spielausgang Unentschieden unwahrscheinlich bis unmöglich – selbst bei Begegnungen, die in einem Ligensystem ausgetragen werden.
Beim Fußball sind die Schattierungen vielfältiger und die Wetten komplizierter. Das Unentschieden erschwert die Lage. Im Schnitt erhält man bei einem Fußballspiel für ein Unentschieden etwa Quote 3,3, was einer Eintrittswahrscheinlichkeit für die deutsche 0 oder das österreichische X von ungefähr 30% entspricht. Wenn In Süditalien zwei Serie-B-Teams aufeinandertreffen, ist die Unentschiedenwahrscheinlichkeit etwas höher. Das liegt an den Mafiosi, die sich gegenseitig kein Auge auskratzen wollen. Dort wird häufiger remissiert als in anderen Weltregionen. Aber manchmal ist auch Taunusstein-Seitzenhahn ein kleines Bari. Eher etwas niedriger ist die Unentschiedenwahrscheinlichkeit wenn Bayern in Ingolstadt antritt. Das liegt wiederum am Bayern-Dusel, einem mafia-ähnlichen Phänomen, das sich leider genau andersrum auswirkt. Allerdings: Ob die Remistendenz höher oder niedriger ist, ist nicht entscheidend. Wichtig ist die plausible Möglichkeit des ehrenvollen Remis. Allein die Möglichkeit des Unentschiedens führt zur besonderen Würze des Spiels. Es ist der dritte mögliche Spielausgang. Das Weniger als Sieg, das Mehr als Niederliga. Die Akte X des Kicks. Wundervoll.
Der unentschiedene Spielausgang macht das Spiel noch unvorhersehbarer, noch mysteriöser und laut Herberger: noch sehenswerter. Im Ligenfußball ist die 0 an der Tagesordnung. Im ältesten Pokalwettbewerb der Welt, dem englischen FA-Cup, ist das Unentschieden seit fast 140 Jahren ein möglicher Spielausgang. Elfmeterschießen? Nicht im FA-Cup, wo in der Vorrunde ein Wiederholungsspiel auf dem Platz des Gegners ausgetragen wird. Enger Terminkalender hin oder her. Meiner Meinung ist die Einführung eines Elfmeterschiessen bei Pokalspielen einer der größten Irrwege, die der Fußball je begangen hat. Wiederholungsspiel bleibt das einzig Wahre. Schließlich konnten die Mannschaften im sportlichen Wettstreit keinen Sieger ermitteln. Darum müssen beide leiden - und ein paar Tage später grad nochmal antreten. Das nützt keinem so recht. Denn die Belastung eines solchen Wiederholungsspieles ist nicht zu unterschätzen. Gewiß, ein paar Momente der Fußballgeschichte würden fehlen. Der Belgrader Nachhimmel wäre derselbe wie meiner in Stuttgart-Plieningen. Aber wie viele unsterbliche Momente wurden erst gar nicht geboren, weil uns das fällige Wiederholungsspiel verweigert wurde?
Der irrlichternde Marco van Basten versucht gerade via seines Postens als FIFA-Irgendwas den Shoot-out einzuführen. Vielleicht handelt es sich dabei nur um Hollands Rache für manche Nicht-Qualifikation. Dabei ist die gute Lösung so einfach, wenn man bei einem K.O.-Turnier zu einer Entscheidung kommen will: Wiederholungsspiel zulassen. Wenn in der K.o.-Runde zwei Mannschaften unbedingt remissieren wollen, bitteschön, warum nicht? Einfach zulassen - und einen Tag später nochmal dieselbe Begegnung ansetzen. Die Mannschaften haben bei den großen Turnieren doch 23 Spieler dabei. Und wer erst im Wiederholungsspiel weiterkommt, der hat eben in der nächsten Runde den Nachteil der höheren Belastung. Wie einfach und gerecht ist das denn! Wer glatt weiterkommt, wird belohnt. Wer ein paar schöne Unentschieden mehr auf den grünen Rasen zaubert, muss eben länger durchhalten. So einfach ist Fußball. Normalerweise.
Wie prachtvoll fair ist doch das Unentschieden! Alle haben sich angestrengt. Ein 3:3 ist meist ein wundervolles Spiel. Es ging hin und her. Und hinterher geht keiner als Verlierer vom Platz. Niemand muss sich grämen. Man trifft sich mit dem Gegner und stößt brüderlich auf den jeweils gewonnenen Punkt. Wahrer Sportsgeist. A Gentlemens Kick. Danke, liebes Unentschieden.