Gedanken zur Gedenkminute

Viele Künstler werden erst posthum berühmt. Im Fußball ist das jetzt auch passiert. Gar nicht schön. Da kann weder der Fußballgott noch das prophetische Bulletin des 14. Bundesligaspieltags wirklich trösten.
Bei Gedenkminuten weiß ich selten, was ich gedenken soll. Geschweige denn wem.
Wenn ein Vereinsmitglied gestorben ist, von dem ich noch nie gehört habe, nehme ich mir während der obligatorischen Gedenkminute im Stadion jedesmal vor, dass ich nach dem Verstorbenen googeln werde. Klar, das geht nicht während der Stadiontrauer. Wie sähe das bloß aus: Alle versunken - und ich tippe auf meinem Handy rum... Das geht nicht. Aber kaum ist das Innenhalten vorbei, geht's auch schon los. Die Mannschaften wuseln aufs Feld und spätestens wenn das Spiel angepfiffen wird, habe ich meinen Vorsatz bereits vergessen. Ähnlich ungehorsam sind meine Gedanken bei Gedenkminuten anläßlich Unglücksfällen. Nach dem Zugunglück von Bad Aibling beispielsweise, dachte ich während der Trauerminute ungefähr folgendes: „Was hat das jetzt mit Fußball zu tun? Hätte man sich die Trauerminute nicht sparen sollen? Wird eigentlich vor Handballspielen, Rockkonzerten oder Opernaufführungen auch eine Gedenkminute eingelegt - oder ist der Fußball die einzige Sportart mit einer solchen Gedenkminuteninflation?“ In der Stille überlegte ich, ob vielleicht der Fußballgott eine Antwort auf meine Fragen hätte. Natürlich habe ich mich gleich an höchster Stelle erkundigt. Im Stadion war’s ja schreiend ruhig. Hätte der Fußballgott geantwortet, ich hätte seine Worte genau vernommen. Aber er schwieg. Ausdauernd. Warum eigentlich? War in meinem Stadion der Fußballgott überhaupt anwesend?
Immer bei Gedenkminuten denke ich, ich wäre der einzige im ganzen Stadion, der während diesen Sekunden so einen unsäglichen Mist gedenkt.
Neulich stürzte eine ganze Mannschaft ab. Endstation für Chapecoense am kolumbischen Berg El Gordo, dem Dicken. Von jetzt auf gleich, ein ganzes Team ausgelöscht. Und warum: Weil der Pilot sich mit dem Spritverbrauch verschätzt hatte. Selten war eine Wahrheit so erschütternd banal. Flugzeugabstürze in entlegenen Regionen interessieren normalerweise keine Sau. Diesmal nicht. Stadiontrauer kann als Gradmesser dienen. Ich persönlich nahm an der weltweiten Trauer in Aue teil. Ich fror gerade dem Zweitligaspiel meiner Stuttgarter entgegen. Es war eine der wenigen Gedenkminuten, in der ich mich ganz im Sinne der Minute verhielt. Sogar die Bengloszünder und kulturlosen Ultras machten keinen Mucks und blieben still wie die Klomäuschen in den Barackentoiletten des Erzgebirgestadions. Weiter von Brasilien entfernt kann man gar nicht sein als im Erzgebirge. Und trotzdem: Sogar als Trauermuffel trauerte ich im Wortsinne. Mehr noch: Ich erinnerte mich sogar noch zu Hause daran, etwas zu recherchieren.
71 Menschen starben. Mannschaft, Vereinsvertreter und Journalisten. Nur sechs Menschen überlebten. Darunter drei Spieler. So unsagbar schlimm das Ganze ist, zwei Schicksale halte ich für extrem verwirrend. Zum einen die Geschichte von Danilo, des toten Torwart-Helden von Chapeco. Ihn hatten sie im Halbfinale gegen San Lorenzo euphorisch gefeiert für seine Wundertat. San Lorenzo ist der Lieblingsklub von Papst Franziskus, das nur am Rande. Mit einem geistesgegenwärtigen Reflex bewahrte Danilo seine Mannschaft vor dem K.o in der Nachspielzeit. Damit rettete er Chapecoense ins Finale, dem ersten großen Endspiel der Clubgeschichte. Er machte die Reise erst möglich, das behaupteten sie in ganz Chapeco vor dem Flug. Jetzt spricht niemand mehr davon, dass er für die Flugreise verantwortlich war. Danilo überlebte sogar. Kurz. Aus dem Krankenhaus telefonierte er noch mit seiner Frau. Die anschließende Notoperation überlebte er nicht.
Moises Ribeiro Santos lebt noch. Der Mittelfeldspieler hatte sich im Juni das Knie verdreht. Er kämpfte sich in der Reha wieder ran ans Team. Und als die Mannschaft das Halbfinale gewann, sah er seine Chance, bei der großen Erfolgsgeschichte noch mitzuspielen. Zuletzt ging es wieder steil aufwärts mit ihm. Aber sein Trainer Caio Junior berücksichtigte ihn dann doch nicht für den Finalkader. Natürlich war er traurig als seine Kollegen nach Kolumbien aufbrachen. Selbst als Zuschauer wäre er doch so gerne mitgeflogen. Hauptsache dabei. Jetzt weiß er, warum er zuhause bleiben musste. „Gott hat mich beschützt“, soll Moises gesagt haben. Warum er die Anderen nicht beschützt hat, kann auch Moises nicht erklären.
Auch der Fußballgott schweigt dazu. Natürlich könnte es sein, dass es überhaupt nicht gibt. Vielleicht wohnt er auch in einem anderen Stadion. In einem kleinen Dorf in Vorarlberg haben sie ihm eine kleine Kapelle gewidmet. Wenn ich mal wieder dort bin, sprech ich in direkt an. Versprochen. Natürlich während einer Gedenkminute. Denn dafür sind sie schließlich da.