Gefangen!

Investoren pumpen Milliarden in unser Spiel. Profis und Berater verdienen irrationale Summen. Höchste Zeit, auch einmal zu untersuchen, wie rational sich Fans verhalten.
Die Diagnose ist eindeutig: Als Fußballfans sind wir ziemlich unerklärlich. Rationales Konsumentenverhalten Fehlanzeige. Seit Kindesbeinen stecken wir in der Falle. Irgendwann in jungen Jahren ist mit uns etwas passiert, was wir unser liebes, langes Leben als Erweckungserlebnis feiern: Wir wurden Fan eines bestimmten Fußballvereines. Ein x-beliebiger Club wurde zu „unserem“ Verein. Wir identifizieren uns mit etwas, was wir nicht selbst beeinflussen können. Mit diesem Verein gewinnen wir. Mit diesem Verein verlieren wird. Und je häufiger wir verlieren, um so offensiver zelebrieren wir unsere Treue. Sprechen wir es ruhig aus: Als Fan sind wir unserem Verein komplett ausgeliefert. Abhängig sind wir nicht, Fußball ist keine Droge. Aber so ähnlich.
Wider besseres Wissen.
Die Lauterer Freunde wissen, wovon die Rede ist. Sie schnaufen auch in der Krise hoch auf ihren Betzenberg. Und das, obwohl Fritz Walter tot ist, obwohl sich Klaus Toppmöller zurückgezogen hat, und obwohl kein Harry Koch mehr hinten aufräumt. Nur der Mythos lebt noch. Man muss schon tief einatmen, um ihn noch zu bemerken. Aber einmal Lauterer, immer Lauterer. Das gilt dort wie anderswo. Zum Beispiel in Nürnberg. Dort feiern die Fans seit Jahrzehnten, dass ihr Glubb a Depp ist. Wo keine Leistung ist, muss eben ein Kult her. Die Schalker sind darin Experten. Insgeheim wissen sie alle, dass sie auch in den nächsten fünfzig Jahren keine Hand an die Meisterschale bekommen werden. Aber egal. Ein Meister der Herzen kann nichts erschüttern. Die Aufzählung liesse sich beliebig verlängern. Alle 35 Profivereine (außer Bayern) könnte man aufzählen. Die Klubs in den dritten Ligen sowieso. Mehr noch alle Regionalligisten. Egal welche Klasse, egal welche Farbe: Ein Fan ist nur ein Fan, wenn er treu ist. Andersrum bedeutet das für uns Fans: Im Grunde sind wir unserem Verein ausgeliefert. Auf Gedeih - und meistens auf Verderb.
Wir Irrationalen.
Mit einem „homo oeconomicus“ haben wir also nichts am Hut. Im Gegenteil. An uns Fans ist nichts wirklich rational. Und das ist auch gut so. Wenn’s unserer Mannschaft dreckig geht, fühlen wir uns erst recht verpflichtet, unseren Farben die Treue zu halten. Der Homo oeconomicus beißt gefrustet in sein Lehrerpult. Fans bleiben treu, was auch passiert. Die Fanschaft kündigen - das ist nur wenigen gelungen. Und wenn es einer schaffen sollte, finden wir Anderen ihn mindestens charakterlos. Adf-Wählen kann kaum schlimmer sein. Im Umkehrschluss bedeutet das: Wir können nicht anders. Bei echten Fans stehen Ruf, Freunde und Überzeugung auf dem Spiel. Als Fan sind wir an unseren Verein gefesselt – egal, was er mit uns anstellt. Das kann schön sein. Oder auch nicht.
Unschön sind vor allem die andauernden Niederlagen. Doch an diese haben wir uns längst gewöhnt. Seit kurzem müssen werden wir Fans von einem weiteren Stachel gepiekst: der Kommerzialisierung und anderen Begleiterscheinungen, die damit einhergehen. Mein Verein, der VfB Stuttgart, hat mir kürzlich einen Präsidenten vor die Nase gesetzt, dessen Sympathiewerte ungefähr auf dem Niveau von Alexander Gauland liegen. Aber was soll ich tun, wenn ich in der demokratischen Wahl unterliege und die Mitglieder ein Vollpfosten zu unserem Vorsitzenden wählen? Ich könnte meine Fanschaft ruhen lassen. Was dann meine Freunde über mich denken, kann ich einen Absatz weiter oben nachlesen. Die Feststellung ist deprimierend: Mein persönliches VfB-Fansein scheint alternativlos. Als einziger Ausweg taugt ein anderer Verein in einer anderen Sportart.
Das ist doch kriminell!
Noch schlimmer erwischen es im Moment die Freunde in Hannover. Sie müssen sich mit einem Machtmenschen auseinander setzen, der den Verein gekapert hat. Erst schleichend, kürzlich im Handstreich. Martin Kind verhält sich dabei zu 96 ungefähr wie Erdogan zur Türkei. Manche mögen darin gewissen Vorteile erkennen. Wer noch bei Sinnen ist, müsste sich abwenden. Insider behaupten, die Übertragung der Rechte an die ausgegliederte Servicegesellschaft, die mehrheitlich Martin Kind selbst gehört, sei bald ein Fall für die Kriminalisten. Ein homo oeconomicus würde sagen: „Gut, wenn mir’s in Hannover nicht mehr passt, dann geh ich halt nach Braunschweig.“ Aber so funktioniert das nicht mit einem Fans. Der Weg nach Braunschweig und Wolfsburg ist verstellt. Farben wechseln geht gar nicht. 96 oder nichts. Oder eben Handball.
Für die alltägliche Zwickmühle jedes Fans gibt es sogar einen Fachbegriff. Ich lernte ihn kürzlich vom Propheten André Bühler, Wirtschaftswissenschaftler und Sportökonom. „Captive consumer“ sind wir demnach. Gefangene Konsumenten. Gefangener Konsument - welch einleuchtender Begriff! Als ich diesen Ausdruck in seiner schillernden Brillanz erfasste, konnte ich mich eines wissenden Lächelns nicht erwehren. Selten erschein mir ein volkswirtschaftliches Phänomen in solch bahnbrechender Klarheit wie das Phänomen des gefangenen Konsumenten.
Das Fan-Gefängnis.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Gefangene können selbst dann nicht fliehen, wenn die Gefängnismauern plötzlich einen Namen haben. Trotzdem legt die sprachliche Deutlichkeit des Begriffes nahe: Ich bin nicht allein. Im Gegenteil. Wir sind alle gefangene Konsumenten. Uns unterscheidet nur die Farbe der Mauern. Manche sind rot-weiß gestrichen, viele blau-weiß. Manche strahlen grün-weiß. Andere Wände sind komplett in gelb-schwarz getaucht. Trotzdem: Am Ende des Spieltags sitzen wir alle im selben Block, starren aufs Spielfeld und singen gemeinsam: „Homo oeconomicus - wir wissen, wo Dein Auto steht.“ Zugegeben, das hört sich etwas albern an. Aber als gefangener Konsument ist es mir egal, was meine Gefängniswärter denken.