Glaubensbekenntnisse

Fußball und Religion haben viel gemeinsam. Was tun, wenn einem der rechte Glaube an den Fußball plötzlich abhanden kommt?
Fußballfans sind ja wie Kirchgänger. Sie gucken allwöchentlich pflichtbewusst einmal nach, was sich auf dem heiligen Rasen in ihrem Fußballtempel so tut, verfolgen dabei eine sehr traditionell ablaufende Liturgie, tragen dabei mitunter Kutten, singen dazu ihre Choräle und fahren mehrmals im Jahr auf Pilgerreise, um ihre feste Glaubenstreue unter Beweis zu stellen. Sie huldigen dem Fußballgott und hoffen sehr, er möge ihnen immer gnädig sein und ihren Abstieg in die Hölle verhindern. Sie schimpfen Verräter ebenso einen Judas und sehen in manchen ihrer Rasenheiligen hin und wieder einen Mensch gewordenen Fußballgott, den einzigen und allmächtigen, der als alleiniger Herrscher über allem wacht.
Die Parallelen zwischen dem Fußball und einer montheistischen Religion, wie etwa dem Christentum, sind ja nicht zu übersehen und wurden deshalb schon häufig beschrieben. Man kann bei vielen Zitaten zum Thema Religion das Wort Religion beispielsweise problemlos durch das Wort Fußball ersetzen, ohne dass es völlig abstrus klingt. Etwa "Fußball ist das Opium des Volkes" nach Karl Marx oder auch etwas länger bei Goethe: "Ich fühle, dass der Fußball manchem Ermatteten Stab, manchem Verschmachtenden Erquickung ist. Nur - kann er denn, muss er denn das einem jeden sein?"
Womit wir schon beim Kern des Themas wären. Nein, das muss er nicht einem jeden sein. Vielen Menschen geht der Fußball schlicht am Atheisten-Arsch vorbei oder sie pflegen andere, exotische oder okkulte Glaubensriten und suchen ihr Seelenheil etwa beim Cricket oder Wasserball. Doch der Glaube an den Fußball ist weltweit und mit größter Anhängerschaft verbreitet. Die meisten werden als Kinder ungefragt zu Anhängern einer Religion oder Sportart gemacht und kommen nachher nicht so leicht wieder davon los. Das weiß ich selbst aus Erfahrung. Seit 50 Jahren bin ich schon treu dabei, doch seit einiger Zeit plagt mich eine Glaubenskrise. Ich falle gerade, für mich selbst kaum zu glauben, so langsam vom rechten Glauben an den Fußball ab. Wenn jemand vom Glauben abfällt, bedeutet das im herkömmlichen, also religiösen Sinn, dass er nicht mehr an das glauben mag, was ihm seine Religion stets als Wahrheit pries. Im Fußball hieß diese Wahrheit für mich: Der Fußball ist für alle da.
Im Fußballspiel und im Stadion sind unabhängig von Herkunft und Stand alle Menschen gleich. Der Glaube an das Gleiche einigt sie, obwohl das, an was sie glauben, höchst abstrakt und irreal ist. Ist bei Religionen ja auch so. Der zweiwöchentliche Götzendienst im Fußball-Tempel fiel mir jedoch in den letzten Jahren zunehmend schwerer und wurde mir immer öfter zur Last. Mein Glaube wurde auf harte Proben gestellt. Mein Weg zur letztlich erlösenden Erkenntnis danach war lang, da ich das Offensichtliche schon allzu lang nicht sehen wollte. Nämlich, dass die Hohepriester des Fußballs im Laufe der Zeit diesen zutiefst demokratisch organisierten und auf die Gleichheit aller bedachten Sport aus Profitsucht zur Handelsware degradiert haben und die Fans zu Kunden. Sie opferten diesen Sport nach und nach vollständig auf dem Altar des Mammons. Aus echter Liebe wurde käufliche Liebe. Sodom und Gomorrha war nichts dagegen.
Das erinnert etwas an die Entwicklung, die der christlichen Kirche im späten Mittelalter auf ihrem Höhepunkt der Verkommenheit schließlich die Reformation und den Gläubigen in ganz Europa obendrein den Dreißigjährigen Krieg bescherte. Auch wenn das nicht in fünfzig Jahren erledigt war, sondern viele Jahrhunderte in Anspruch nahm. Geht's auch etwas kleiner? Fragt sich nun mancher. Nein, denn die Analogie ist tatsächlich verblüffend, von Anfang an. Die ursprünglichen, schlichten romanischen Kirchen des frühen Mittelalters wandelten sich nach und nach von reinen Stehplatztempeln für Gläubige jeden Standes in die prunkvollen und überladenen Kathedralen der Spätgotik und Renaissance. Mit Sitzplätzen im edlen Chorgestühl für die Reichen und Mächtigen, Sitzbänken im Mittelschiff für die, die es standesgerecht bezahlen konnten und Stehplätzen hinten in den Seitenschiffen für den Rest, der überhaupt noch Einlass fand. Auch die "Steher" mussten ihr Eintrittsgeld in den Klingelbeutel entrichten. Übertragen auf den Fußball korreliert das mit dem Wandel der zweckdienlichen Stehplatzstadien in die aufgepimpten Fußballarenen der Neuzeit, mit dem Chorgestühl in den VIP-Logen für Krösus und Konsorten und, wenn überhaupt, mit den wenigen Stehplätzen für das gemeine Volk.
Die schlichte Liturgie einer Messe des Frühmittelalters wich den mit Pomp und Orgel und schickem Ornat zelebrierten Selbstinszenierungen der herrschenden klerikalen und weltlichen Eliten, die oft identisch waren. Glaube, Macht und Kommerz vereint. Die Kirche verstand es immer hervorragend, die Masse der Gläubigen mit allerhand Dramaturgie in den Bann zu ziehen. Und ließ sich dafür fürstlich bezahlen. Alles kostete Geld. Der Ablasshandel war ein Bombengeschäft, genauso wie der Devotionalien- und Reliquienhandel, vom geweihtem Wasser zu Wucherpreisen bis hin zum Präputium Jesu, das gleich tausendfach angeboten wurde, ohne dass das jemanden verwunderte. Sowie die Tatsache, dass man bei der Menge der angebotenen Originalholzsplitter von Jesu' Kreuz für den Betrug bestimmt einige Hektar Wald hat niedermachen müssen. Der Trick war dazu, den Gläubigen neben dem einzigen und allmächtigen Gott noch allerlei Heilige für unterschiedlichste Glaubenszwecke anzudienen, deren Gewogenheit man sich durch entsprechende Verehrung und finanzielle Zuwendung erwerben und kaufen konnte.
Der Heiligenkult war der Starkult des Mittelalters und aus dem Monotheismus wurde faktisch der finanziell sehr viel lukrativere Polytheismus, der den Fan-Artikel-Absatz mit Devotionalien und Reliquien vervielfachte. Die Gläubigen richteten sich mit ihren Heiligenbildchen kleine Hausaltäre ein, um nicht nur in der Kirche sondern auch daheim ihren "Stars" huldigen zu können. Jede Region schätzte dabei ihre lokalen Heiligen besonders. Dazu trug man allerhand religiöse Embleme als Kettenanhänger, Broschen oder Sonstiges am Körper spazieren, um seinen festen Glauben an Gott oder jenen und diesen Heiligen auch öffentlich darzustellen.
Die Analogie zum Fußball ist auch hierbei selbst für wenig Fantasie-Begabte nicht zu übersehen. Der Fußball gerät in den Stadien immer mehr in den Hintergrund. Ein Fußballspiel im Stadion ist zu einem Spektakel verkommen, neudeutsch auch Event genannt, das zu nichts anderem dient, als Geld damit zu verdienen. Der Starkult spielt dabei auch hier eine große Rolle. Die Fans werden durch allerlei Extras bei Laune gehalten, die ihnen suggerieren, den hoch verehrten Stars ein bisschen näher zu sein. Gegen Entgelt natürlich. Panini-Bilder und Autogrammkarten sind die Heiligenbilder der Fußballwelt und mit Fahnen, Schals, Mützen und Wimpeln oder sogar in mit Fußballinsignien versehener Bettwäsche, lässt sich das Glaubensbekenntnis zum Fußball täglich individuell erleben und immer wieder erneuern. Aber das kostet eben. Die Stars sind immer mal wieder neue Gesichter und auch die Devotionalien folgen ständig neuen Moden. Mancherorts werden mehrmals im Jahr neue Fan-Trikot-Kollektionen angeboten, die, weiß der Teufel warum, jedesmal reißenden Absatz finden. Die Vermarktung des Glaubens an den Fußball muss sich immer wieder neu erfinden, um die Fans bei Laune zu halten und die Umsätze zu sichern.
Und schon die Kirche im Mittelalter verstand es bravourös, ihre profitorientierten Interessen zu Ungunsten der Masse der Gläubigen hinter dem Credo zu verstecken, dass dies alles ja nur zu ihrem ganz persönlichen Seelenheil und Besten geschehe. Es sei praktisch alternativlos für den Gläubigen, wenn er nicht das Risiko der ewigen Verdammnis, sprich den Abstieg in die Hölle (etwa von Meppen?), eingehen wolle. Jeder der ernsthaft an dieser quasi gottgewollten Ungerechtigkeit zweifelte, wurde sofort als mit dem Teufel paktierender Ungläubiger beschimpft und war so von der Exkommunikation bedroht. Also gewissermaßen Stadionverbot. So ging es allen christlichen Ultras. Ob man sie nun Häretiker, Ketzer oder Wiedertäufer nannte, wer gegen das bestehende Machtverhältnis in der Kirche aufbegehrte, hatte mit der Exkommunikation das schlimmste Los für einen gläubigen Christen zu befürchten, die ewige Verdammnis. Das zog als Disziplinierungsmittel damals immer. Die nervigsten Zweifler stellte man an den Pranger oder schickte sie via Scheiterhaufen post mortem direkt in die Hölle. Auch im heutigen Fußball ist es so, dass auf jede wie auch immer dargebrachte Kritik am System Fußball gleich reflexartig die Ausgrenzung erfolgt: Das ist doch alles nur zu eurem Besten! Ihr schadet dem Fußball. Das ist vereinsschädigend. Ihr seid keine echten Fans! Also Ungläubige, und die Bestrafung folgt ohne Widerruf oft auf dem Fuße, als Ultima Ratio auch durch die Exkommunikation. Also den Ausschluss aus der Fußballgemeinde.
Ein lebenslanges Stadionverbot war ja mal ein probates Drohmittel in England, um so manchem Auswuchs auf den Tribünen Herr zu werden. Die Mehrzahl der Hooligans, die sich schon früher davon kaum hat abschrecken lassen, kommt jedoch heute aus einem anderen Grund nicht mehr in die Stadien: wegen der absurd hohen Eintrittspreise dort. Die Ausgrenzung aus der Gemeinde über den Geldbeutel erfolgte auch in der mittelalterlichen Kirche schon über die steigenden Eintrittspreise ins Paradies. Wer seine Abgaben an die Kirche nicht leisten konnte oder am Kirchen-Event-Handel nicht teilhaben wollte, der stand praktisch mit einem Fuß bereits im Fegefeuer und so gut wie in der Hölle. Das Ganze trieb die Kirche solange auf die Spitze, bis jemand diesen Selbstbetrug der unübersehbar immer ungerechter gewordenen Kirche und ihre Geschäfte laut anprangerte. Das Geschäftsprinzip der Kirche fiel in den Jahren nach Luthers Thesenanschlag wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Es gab plötzlich mit einer neuen, reformierten Kirche eine Alternative zur Exkommunikation und ewigen Verdammnis.
Der etablierten Kirche liefen die Gläubigen in Scharen davon, manche mehr und manche weniger freiwillig, um sich einer aus ihrer Sicht oder der ihrer Lehnsherren gerechteren Kirche zuzuwenden. Dieses Szenario wünschen sich sicherlich auf den Fußball übertragen auch viele Fans. Doch der Kampf um eine Reformation im Fußball wird kein leichter sein und sehr lange dauern, bis der Fußball zumindest wieder ein bisschen anbetungswürdiger wird. Vielleicht kommt ja am Höhepunkt der Fußballdekadenz, wenn der nicht ohnehin schon erreicht ist, mal jemand daher und nagelt 50 Thesen oder so an die Tore der Stadien, damit Bewegung in die Sache kommt. Ich eigne mich leider nicht für solche Dinge, möchte aber der ganzen Sache schon mal vorgreifen. Ich exkommuniziere mich freiwillig selbst, um diesem Dilemma zu entkommen. Ich erlege mir ab Ende dieser Saison selbst ein Stadionverbot auf und werde jede meiner Mitgliedschaften in Bundesligavereinen aufkündigen. Ich werde mit keinem Cent mehr direkt oder indirekt diesen vollkommen aus dem Ruder gelaufenen Kommerzbetrieb des Fußballs finanzieren. Das ist für jemanden, der seit etwa vierzig Jahren kaum einen vierzehntägigen Stadionbesuch verpasst hat, ein ganz harter Schritt. Doch ich bin mir sicher, das Richtige zu tun. Zudem ist es der für mich einzig ehrliche und sinnvolle Schritt, bei meinen nagenden Glaubenszweifeln. Man muss ja nicht gleich konvertieren oder dem Glauben ganz abschwören. Es gibt bestimmt ein paar kommerzfreie Fußball-Landgemeinden, oder die eine oder andere Fußball-Spelunke, in der ich mit anderen Selbst-Exkommunizierten zusammen ganz konspirativ dem Glauben weiter anhängen kann.
Und für alle, die sich vor solch einem Schritt fürchten: die Exkommunikation führt keinesfalls zur ewigen Verdammnis. Ganz im Gegenteil. Bei Licht betrachtet, lässt man die Fußballhölle ja so bereits hinter sich. Zumindest was die letzten 10 Jahre im Stuttgarter Neckarstadion angeht. Dort hat man mit unermüdlichem Gewinnstreben gepaart mit Unverstand ein Fußballparadies in eine Fußballhölle auf Erden verwandelt. Mit seelisch und körperlich fühlbarer Pein, mit schlechtem Bier und ungenießbarer Wurst zu teuflischen Preisen, mit penetranter Werbung, Schlagergedudel und lautstarkem Marktgeschrei vollgestopft bis über und in die Ohren. Und nun verkaufen sie diese Konsumhölle den Fans auch noch als den größten VfB aller Zeiten. Wer's glaubt wird selig. Sagen sie dort. Das ist Lug und Trug, die besten Zeiten des Fußballs habe ich in Stuttgart bereits vor langer Zeit gesehen. Wenn sich an der Kommerzialisierung des Fußballs in absehbarer Zeit nichts ändert, kommen solche Zeiten in Stuttgart und auch anderswo nicht wieder zurück. Ob man diesen profitorientierten Zirkus mitmachen und mitfinanzieren will, muss jeder für sich selbst entscheiden. Ich bin jedenfalls nach dieser Saison raus und überlasse meinen Stehplatz jemand anderem, dem es nichts ausmacht, den Share-Holdern, den DFL-Profiteuren und den Großkopfeten in den Logen die gewünschte Stimmung im Stadion zu liefern. Amen!