Hammer-Heart

Viele hiesige Fußball-Fans pflegen den Luxus, sich neben ihrem deutschen Verein dazu noch für einen englischen Club zu begeistern. Auch West Ham United steht hier sehr hoch im Kurs, aber warum eigentlich?
Claret and Blue! Das sind die Farben des West Ham United Football Club und sie sind im Osten Londons häufig im Straßenbild anzutreffen. Das bordeauxrote, hellblau umrandete Wappen mit zwei gekreuzten, gelben Schmiedehämmern darauf, findet sich auf vielen Mützen, Trikots und Jacken und gar nicht so selten, ist es auch hierzulande als Fan-Accessoire zu sehen. Einige dieser "Hammers" oder auch "Irons" wie sich die West Ham-Fans nennen, haben etwa in München, im Sauerland und sogar am Bodensee eigene Fan-Clubs gegründet. Und selbst in Stuttgart laufen mir häufig welche über den Weg. Grund genug, sich diesen Londoner Verein mal genauer anzuschauen.
Das letzte Heimspiel lief alles andere als glücklich für die Hammers. Hammerhart sozusagen, wurden sie von Manchester City getroffen und mit 0 zu 4 aus dem eigenen Stadion gefegt. Zu hart selbst für die treuesten Fans, denn beim Schlusspfiff fanden sich nur noch die etwa 2500 mitgereisten Fans der "Citizens" im großen Rund des Olympic Stadiums. Das Spiel stand von Anfang an unter einem schlechten Stern. Und der trägt einen Namen: Dimitri Payet! Mit einer beispiellosen Arbeitsverweigerung arbeitete der gefeierte Publikumsliebling der erfolgreichen Vorsaison in letzter Zeit systematisch darauf hin, den Verein noch in diesem Winter in Richtung Marseille verlassen zu dürfen. Und wenn in den Arbeitervierteln im Londoner Osten die Arbeitsverweigerung nix mit Streik zu tun hat und ausgerechnet den Liebling der West Ham-Fans betrifft, dann gibt's Ärger.
Das Vereins-Management reagierte vorsorglich mit ikonoklastischem Übereifer und tilgte die Konterfeis Payets rund ums Stadion und entfernte sein übergroßes, vom Stadiondach hängendes Trikot gleich mit. Nur um dafür vorzusorgen, dass die Fans diesen Bildersturm mit weitaus geringerer Sorgfalt nicht selbst besorgen. Die Enttäuschung der Fans ist verständlich. Payet war nach der letzten, erfolgreichsten Saison seit langer, langer Zeit ihr großer Hoffnungsträger für eine blendende und erfolgreichere Zukunft, im neuen, größeren und luxuriöseren Ambiente des Olympic Stadiums. Wieder einmal platzte eine dieser Hoffnungsblasen für die Fans, die sie in ihrer Vereinshymne "Forever blowing bubbles" fatalistischerweise selbst beschwören, mit den Refrain-Zeilen: They fly so high, Nearly reach the sky, Then like my dreams, They fade and die.
An ihrer vorherigen Spielstätte in der Green Street, dem sogenannten Upton Park, der eigentlich Boleyn Ground heißt, waren die Hammers seit ihrer Gründung zwar ebenso erfolglos aber weitaus glücklicher, wie mir scheint. Im Olympic Park, einem auch für die Leichtathletik konzipierten Stadion-Rund liegt der Platz gefühlt einen Kilometer von den Fans entfernt und es will dort nicht so Recht die Stimmung aufkommen, für die der Upton Park einst berühmt war. Berühmt auch dafür, wenn auch wenig rühmlich, dass in den wilden Hooligan-Zeiten der Siebziger und Achtziger in seinem Umfeld legendäre Schlachten ausgetragen wurden, die mit Fußball nur am Rande oder eher gar nichts zu tun hatten.
Die Inter City Firm aus West Ham hatte dabei einen legendären Ruf. Gleich mehrere Verfilmungen beschäftigen sich mal mehr und mal weniger gelungen mit diesen harten Jungs. Angeblich hinterließen sie bei ihren ausgeknockten Sparringspartnern gern mal eine Visitenkarte mit der Aufschrift: "Congratulations! You've just met the I.C.F.!", als kleine Erinnerungshilfe im Falle einer vorübergehenden Amnesie, falls diese im Falle eines vorhergehenden Falles als Folge dieses auftreten sollte. Dieser Spruch ist auch der Titel eines Buches zum Thema, von Cass Pennant, das sehr lesenswert ist, wenn man keine Probleme damit hat, zwischen gewaltverherrlichendem Bullshit und einer präzise geschilderten Milieu-Studie eines Insiders zu unterscheiden.
Besonders viele Visitenkarten hatte die Inter City Firm stets am Mann, wenn es mal wieder gegen den verhassten Millwall FC ging und die Konkurrenten von den "Millwall Bushwackers", die in diesem Fall mehr als bereit waren, auch mal wieder auf den Busch zu klopfen. Diese Rivalität zwischen den Fans von West Ham und Millwall darf getrost als die älteste in der Fußballgeschichte bezeichnet werden. Und ihren Grund hat sie allein in den gesellschaftlichen Verwerfungen jener Zeit, in der sie vor über 100 Jahren entstand. Im Osten Londons waren damals entlang der Themse die großen Docks und Werften und unzählige, Metall verarbeitende Industriebetriebe angesiedelt. West Ham United trug das noch den Vorgängernamen "Thames Ironworks", nach dem gleichnamigen Schiffsbauer, bei dem die Kicker der Betriebsmannschaft angehörten. Der schon zuvor gegründete Verein Millwall Rovers war damals als Betriebsmannschaft der "Millwall Docks" noch in unmittelbarer Nachbarschaft der "Ironworker" zuhause und die Rivalität nahm damals ihren Anfang. Zum einen lag es in einem sozialen Gefälle zwischen "besseren Schiffsbauern" und "einfachen Dockarbeitern" begründet und zum anderen in der ökonomischen Konkurrenzsituation der Betriebe, in der sich diese gegenseitig bezichtigten ihnen Aufträge und damit Lohn und Brot wegzunehmen. Diese Konkurrenz der, heute würde man sagen, "Abgehängten" beider Seiten, übertrug sich auf den Fußballplatz und auf das Umfeld der Vereine.
Die Feindschaft blieb auch erhalten, nachdem der nun Millwall FC genannte Verein seine Spielstätte in Ostlondon aufgeben musste und auf die andere Seite der Themse nach Südlondon umzog. Was nicht sehr verwundert, da doch die Arbeitsstätten der verfeindeten Lager nach wie vor nebeneinander lagen. Für die etwas sozialromantische Erklärung der Feindschaft, die Arbeiter von Millwall Docks seien denen von Thames Ironworks mal als Streikbrecher in den Rücken gefallen, sind auf die Schnelle keine eindeutigen Belege zu finden. Aber auch so hat die älteste Fan-Feindschaft der Fußballwelt eine höchst interessante Geschichte. Dass sie garantiert auch in Zukunft keine Freunde mehr werden, das haben die Fans beider Lager erst 2009, beim League-Cup-Spiel der zwei Vereine am 25. August in Upton Park, bewiesen. Die "Upton Park Riots 2009" hinterließen viele Schwerverletzte und große Verwüstungen in den Straßen rund um den Boleyn Ground und gelten Schwarzmalern bis heute als Beleg dafür, dass Fußball-Fans in der Tiefe ihres Herzens allesamt gewalttätige Vollidioten sind. Was natürlich überhaupt nicht stimmt.
Was aber auf jedem Fall stimmt ist, dass West Ham United als zuverlässig erfolgloser Underdog seit ewigen Zeiten eine besondere Anziehungskraft ausübt. Für die "No Future"-Generation der britischen Punk-Ära in den Siebzigern und unterschiedlichste Skinhead-Gruppen etwa war das Loser-Image des Vereins sehr sexy. Und wo sonst konnte man sich damals mit seinen Doc Martens beschuht besser als Teil einer vom Establishment des reichen Londoner Westens argwöhnisch beäugten anarchischen Subkultur fühlen, als auf der Dr.-Martens-Tribüne des Upton Parks? Was natürlich nicht heißt, dass West Ham-Fans generell und allesamt am liebsten Loser sind. Diese Zeiten sind ja lange vorbei. Doch immer wenn mir hierzulande ein West Ham-Fan meines Alters begegnet, sehe ich vor mir, wie ihm unter dem imaginären Irokesen der Punk noch feixend im Nacken sitzt. Selbst wenn er dabei sein Fan-Trikot in den Farben Claret und Blue bei einer gepflegten Runde Golf spazieren trägt. Sehr sympathisch! Echt der Hammer, dieser Verein!