Hardcoretore

RB Leipzig unter den Top5. Dino SV ganz unten. Selbst im Sechziger Mittelmaß der zweiten Liga geht ohne Investor aus Arabien nichts mehr. Das prophetische Bulletin des 6. Spieltags flüchtet dorthin, wo alles begann: auf den Bolzplatz.

Neulich kehrte ich an die Stätte meiner großen Erfolge zurück. Also dorthin, wo ich einst als Pimpf an der Seitenlinie stand und wartete, während die großen Jungs des Dorfes kickten. Damals war ich kaum größer als der Ball. Aber ich konnte warten. Es sollte dann nicht lange dauern, bis meine Zeit gekommen war. Nachdem ich es einmal aufs Spielfeld geschafft hatte, war ich während des folgenden Jahrzehnts nicht mehr wegzudenken aus den verschiedenen Aufstellungen, die sich täglich, fast stündlich, auf unserem Bolzplatz formierten. Die Mannschaften hielten natürlich nur solange, bis eine von beiden zehn Tore erzielt hatte. Dann wurde neu gewählt. Später kam es sogar vor, dass ich als Erster gewählt wurde. Ich erkannte darin deutliche Anzeichen der großen Fußballerkarriere, die nun bevorstehen würde. Daran konnte kein Zweifel bestehen.

Dieser Bolzplatz war mein Revier. Ich machte meine Hausaufgaben nur, damit mich die Mutter schnell zum Bolzen entließ. Ein Eifer, der belohnt wurde. Zwar nicht vom Lehrer, der mich wegen unvollständiger Hausaufgaben ständig auf dem Kieker hatte. Dafür aber von den jungen Kickern des Dorfes, die mich als variablen Spieler hoch achteten.Viel weiter sollte mein Talent später nicht reichen. Einige Jahrzehnte später hörte ich von einer Statistik, die offen legte, dass die Juni-Geborenen in den Auswahlmannschaften stets unterrepräsentiert sind. Sie seien in ihren Fußball-Jahrgängen immer die Jüngsten, und hätten daher signifikant oft körperliche Nachteile. In letzter Konsequenz hätten sie es ungleich schwerer, sich durchzusetzen, so die Studie. Als Juni-Geborener las ich dies mit Genugtuung. Da war sie endlich: die Erklärung für die ausbleibende Karriere, die nicht an meinem Talent kratzte.

Der Bolzplatz zwischen Friedhof und Kirche ist für mich ein heiliger Ort geblieben. Ich finde, er gehört unter Denkmalschutz – so wie jeder Bolzplatz geschützt gehört, auf dem ein hoffnungsvolles Jung-Talent zum ersten Mal gegen einen Ball getreten hat. Jedesmal, wenn ich Ort meiner fußballerischen Geburt zurückkehre, steigt in mir ein Heile-Welt-Gefühl auf, irgendwo in der weiten Region zwischen Hirn und Bauch. Darum war ich sehr beruhigt, neulich, als ich an meinem Ursprungsbolzplatz vorbei spazierte, dass er sich in feinstem Zustand präsentierte. Kein welliger Acker wie früher. Im Gegenteil. Der Rasen wie ein hübsch gepflegter Teppich. Ein Grün, so kräftig, wie es nur in einer Aue grasgrün sein kann. Ein Schnitt, so akkurat, wie es nur ein emsiger Platzwart hinbekommt. Vor mir lag ein Bolzplatz aus dem Bilderbuch. Mein Bolzplatz! Ohne Käfig drumrum. Die Häuser stehen zum Glück weit genug entfernt.

Und doch muss ich mich beschweren. Mal echt: Diese Tore gehen gar nicht! Offenbar wurde auch mein heiliger Bolzplatz heimgesucht, von diesen volleisernen Bolzplatztoren, die zweifellos als Vorstufe zu schwedischen Gardinen auf die Welt gekommen sind. Man sieht sie inzwischen auf jedem zweiten Kleinfeld des Landes. Man sieht sie in den Ausführungen Holz oder Metall. Beides geht gar nicht. Die Heavy-Metal-Versionen eines Bolzplatztores sind nicht nur ästhetisch untragbar, sie eignen sich auch dazu, unsere Jugend in akustischer Hinsicht zu verderben. Diese scheußlichen Dinger machen nämlich "Plong", wenn man reinschießt. Und bei "Plong" muss man aufpassen. Sonst fliegt einem als Torschützen der Ball sofort wieder in die Fresse. Was ist denn das für ein Tor, wenn der Ball gleich wieder rausfliegt? Zappeln muss die Kirsche, und zwar möglichst in Zeitlupe. Ich finde, solche Hardcore-Tore gehören verboten.

Schon klar. Die vollverschweißten Gefängnis-Tore sind deshalb so verbreitet, damit man die Tornetze nicht Wochen später in den Fußgängerzonen bewundern kann - zu Damenhandtaschen verarbeitet. Aber trotzdem: Ein satter Treffer muss im Netz eine Beule hinterlassen, damit er als Vorlage für einen steilen Karrieretraum dient. Sanft "Zosch" muss es machen, nicht laut "Plong". Wie oft sind wir Kinder früher vor dem leeren Tor gestanden, ganz für uns alleine - und haben ihn nur reingeballert. "Zosch!" "Zosch!", "Zosch!" Kein lautes Geräusch, gewiss nicht. Aber für Ball-Ästheten eines der Schönsten der Welt.

Inzwischen sind wir Weltmeister. Wir spielen wechselweise mit hängender Neuneinhalb oder diametral abkippender Sechs. Was wir allerdings nicht können: Tore aufstellen, die schön leise "Zosch" machen, wenn man trifft – die man trotzdem an Pfosten und Latte hängen lassen kann. Wo bleibt denn das Amt für sportakustischen Denkmalschutz, wenn man es wirklich einmal braucht?

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