Liebe Deinen Nächsten

Herzlichen Glückwunsch dem Vize-Meister der prophetischen Liga 16/17: Jens Kossian.
Mit ihm hatten nur die Wenigsten gerechnet. Aus der Tiefe des Raumes kommend, eroberte Prophet Jens Kossian am letzten Spieltag den zweiten Platz. Die liebe, lange Spielzeit hatte er gelauert. Vorne dabeizwar, aber nie entschlossen auf Top-Plätzen. Auf der Mauer, auf der Lauer, lag er, der alte Rumdrückeberger. Zwar im erweiterten Verfolgerfeld, doch stets souverän undercover. Vermutlich mit einem wissendenLächeln im Gesicht.
Nur einer behielt ihn stets im Auge. Prophet Mario Lomuscio hatte Kossian schon vor der Saison zum Duell gefordert. Die beiden Geschäftskollegen belauerten sich und man kann sich vorstellen, wieallwöchentlich gefeixt wurde. Tatsächlich stand Lomuscio im Privatduell lange auf der besseren Seite und belegte während der Vorrunde schon mal den absoluten Spitzenplatz unserer Prophiliga. Ich erinneremich an eine Phase, in der die sicherste Wette jedes Spieltags darin bestand, dass auf dem zweiten Platz der Prophetenliga Mario Lomuscio landen würde. Via Spieltagshymne rief ich ihn bereits zumGeheimfavoriten der Saison aus. Weit gefehlt.
Wer zuletzt feixt, feixt am besten. Mit Prophet Kossian muss man immer rechnen. Immer. Immer. Immer. Den Fehler, ihn auf die leichte Schulter zu nehmen, hatte ich schon vor Jahren mustergültig begangen,als ich gegen Kossian auf dem legendären Ground der Grundschule Gablenberg zum Büchsen-von-der-Latte-schiessen antrat. Das hätte ich nicht tun sollen - und gleich gar nicht einen Edel-Schmaus alsWetteinsatz auf meinen Erfolg setzen. Einmal warm geschossen, knallte Kossian die Büchsen gleich reihenweise von der Latte. Meine eigene Leistung will ich an dieser Stelle nicht bewerten. Der Wettbewerberinnerte an Vestenbergsgreuth gegen Bayern München – nur ohne Pokalüberraschung. Mit dem Kossian muss man immer rechnen.
Bei der feierlichen Übergabe nutzte ich die Gelegenheit, mit ihm über das prophetische Erfolgsgeheimnis zu plaudern - und darüber, wie gerade aus ihm, der in einer Wohnung mit Aussicht aufs Neckarstadionresidiert, ein Bayernfan werden konnte. Doch ich wurde zügig zurecht gewiesen. „Bayernfan schon“, präzisierte der Vize-Prophet, „aber auch ein Freund des VfB Stuttgart, des Karlsruher SC und auch derMünchner Löwen.“ Aha. Für viele Fußballfans mag die Antwort verstörend sein, wenn nicht total nach Banane klingen. Unter Unseresgleichen wird schließlich stets eine klare Position gefordert. Nichts wenigerals eine bedingungslose Unterstützung eines einzigen Vereins wird verlangt. Vor allem gegen die Mannschaften aus dem direkten Derby-Umfeld sei das eigene Team besonders hart zu verteidigen, so dielandläufige Meinung. Es ist vielleicht der einzige Punkt, der ansonsten verfeindete Fangruppen vereint: Wer Clubs gleichberechtigt in sein Herz schließt, die als Erzfeinde gelten, dem wird das Fansein rundwegabgesprochen.
Derlei Anwürfe lässt unser neuer Vize-Propheten mit großer Geste ins Abseits laufen. „Diese Nachbarschaftsprobleme der Fans sind nicht meine“, stellt er fest und fügt hinzu: „Liebe Deinen Nächsten“. Er seieben „ein Fan von Innen nach Außen“. Schließlich hätte er, wie viele andere auch, zahlreiche Zugehörigkeiten. Unter anderem sei er Schwabe, Württemberger, Baden-Württemberger, Deutscher und Europäer,argumentiert er, daher seien Derby-Feindschaften seine Sache nicht. Auf keinen Fall. Auf die kleine Sollbruchstelle in seiner Argumentation angesprochen, reagiert er ebenfalls souverän: „Bayern ist halt einUnfall.“
Während angesichts dieser Haltung mancher Hardcore-Fan nasrümpfig wird (das Adjektiv „nasrümpfig“ habe ich mir an dieser Stelle gerne aus dem Kossian’schen Wortschatz geklaut), bleibt Fußball-Feinschmecker Kossian entspannt. Zweifellos hat die lächelnd vorgetragene Souveränität unseres amtierenden Vize-Propheten viele beneidenswerte Dimensionen. Dass er mit Bayern häufiger gewinnt alsverliert, ist nur eine davon.
Aus prophetischer Sicht interessiert der seherische Vorteil, den er gewinnt: Vielleicht ermöglicht ihm gerade die Überwindung der Engstirnigkeit mancher Fans, dieses von komplett-erleuchtete Von-Innen-nach-Außen eine besonders objektive Sicht der Dinge. Möglicherweise kann Prophet Kossian durch die fußball-weltmännische Perspektive, die er einnimmt, einen besonders neutralen und objektiven Blick in dieZukunft der Liga werfen. Während wir Normalfans ständig das Problem haben, unseren eigenen Verein wegen Befangenheit recht unpräzise einzuschätzen, thront Kossian längst über den Dingen: alsübervereinlicher Prophet.
Sei es, wie es sei. Fest steht: Der alte Büchsen-von-der-Latte-Knaller ist großartiger Vize-Gewinner unserer Prophiliga. Dafür habe ich ihn beklatscht, gedrückt und aufs Allerwohlfeinste beglückwünscht.Während dieses wundervollen Momentes ignorierten wir beide allerdings, dass seine Tochter Finja diesen extremstergreifenden Moment im Leben ihres Vaters nicht vollständig teilen konnte.