Mehr Rugby bitte

Fußball kann so vieles von Rugby lernen. Vor allem gute Manieren. Das prophetische Bulletin des 26. Spieltags wirft sich ins nach allen Regeln der Kunst ins Gedränge.

Vor etwa hundertfuffzich Jahren spielte man Schweinsblasen. Auf holprigen Wiesen. Mit eitrigen Murmeln. Die Regeln änderten sich von Spiel zu Spiel. Die einen wollten die Saublase nach vorne tragen, die anderen lieber nach vorne treten. Meistens einigte man sich auf eine Mischung. Oder die Gastgeber nutzen ihr Platzrecht und diktierten die Regeln. Manche bevorzugten das Bücken um das halbrunde Ding in die Hand zu nehmen. Denen war es recht, dass das Spielgerät sowieso eiförmig war. So konnte man es besser unter den Arm klemmen. Andere wollten den Raumgewinn mit dem Fuß erreichen, vulgo: kicken. Sie sahen es nicht ein, dass man sich bücken muss. Lässt sich doch gut stauchen, das Ding. Andauernd über die Regeln zu diskutieren, war wohl irgendwann ziemlich nervig. Man schrieb sie einfach auf. Die Einen trafen sich zum Diktat in Rugby, wo ein „running game“ zu Pergament gebracht wurde. Die Andere schlossen sich im Association Football zusammen und definierten das „Dribbling game.“ Kurzform: Soccer. Beides passiert so gegen 1870, grob taxiert.

Auch Rugby-Spieler geben zu, dass das ihr Regelwerk komplexer geraten ist. Aber vielleicht liegt gerade darin der Grund, warum Rugby in vielen Kleinigkeiten heute ausgereifter erscheint als Fußball. Der Spruch „Football is a gentle game for rough men. Rugby is a rough game for gentlemen“ sollte an dieser Stelle nicht fehlen. Tatsächlich ist es der vor allem der sportliche Anstand, das sportsmenship, das der Fußball dringend vom Rugby lernen sollte. Es ist immer wieder erstaunlich, wie die Kühlschränke, die auf dem Rugbyfeld übereinander her fallen wieder behende aufstehen, wenn der Schiedsrichter pfeift. Sich die Köpfe einrennen ist erlaubt. Verletzung markieren bei Halsabschlagen verboten. Fairness genießt im Running Game einen ganz besonderen Stellenwert. Das gilt vor allem gegenüber dem, der die Fairness verwaltet. Der Schiedsrichter ist keine schwarze Sau, sondern Respektsperson. Im Gegenzug erwiest er sich als großer Kommunikator, der während jedes Spielzugs erklärt, was er von den Spielern sehen will. Auf diese Weise wissen alle jederzeit, woran sie sind.

Weitere Kleinigkeiten sind vorbildlich geregelt: Das Spiel wird pünktlich abgepfiffen. Jeder kann die Uhr sehen, bei längeren Verletzungen oder ähnlichem bleibt sie stehen. Wenn die Minuten abgelaufen sind, muss nur noch die führende Mannschaft in Ballbesitz kommen, dann ist fertig. Diskussionen über Nachspielzeit sind dem Rugbyspieler unbekannt. Und das Beste: der Videobeweis. Und damit wären wir im Hier und Jetzt, oder genauer gesagt, letzten Mittwoch in Paris. Dort wurde die Videoüberwachung erstmals so eingesetzt, dass sie eine Bereicherung für unser Spiel war. Der deutsche Schiedsrichter Felix Zwayer pfiff, und sein Schiri-Kumpel Tobias Stieler verbesserte ihn aus dem Ü-Wagen - und zwar in Situationen, die vorher genau definiert wurden. Das Ganze war so erfolgreich, dass sogar die Franzosen, die 0:2 verloren, zugaben, dass Monsieur Video seine Sache gut gemacht hatte. Ohne ihn hätten die Franzosen vermutlich unentschieden gespielt, oder sogar besser. Spielentscheidende Szenen wurden vom Big Monsieur zugunsten der Spanier korrigiert. Die Experten waren sich einig: So geht’s. Hätten die Regelhüter häufiger Rugby geschaut, hätte man schon vor Jahrzehnten drauf kommen können, dass spielentscheidende Szenen von außen überprüft werden müssen, wenn man die Fairness ernst nimmt. Wenn man es schnell und transparent macht, gewinnt das Spiel.

Also schauen wir nochmal genauer aufs Rugby. Oder besser gesagt: Wir lauschen. Beim Rugby kann man jeden Pieps, den der Schiedsrichter macht, über Lautsprecher mithören. Das Publikum kann jederzeit die Entscheidungen des Spielleiters. Pfiffe gegen Schiris kommen beim Rugbypublikum nicht vor. Und auch die Spieler diskutieren nicht. Die allfälligen Beleidigungen, der überflüssige Trashtalk und die Belagerungen der Schiedsrichter wären sofort verschwunden, wenn der Mist live über alle Lautsprecher übertragen würde. Auch die Trainer verhalten sich vorbildlich. Vierte Schiedsrichter sind überflüssig. Beim Rugby sitzen die Chef-Trainer auf der Tribüne. Warum Fußballtrainer am Spielfeldrand stehen, wo sie kaum was sehen, ist eines der vielen Merkwürdigkeiten unserer Sportart. Für die taktische Analyse ist die Perspektive von oben klar besser. Und wenn der Chef-Trainer etwas mitteilen will, spricht er mit seinen Assistenten. Die unsäglichen Aufführungen, die viele Fußballtrainer am Spielfeldrand aufführen, und damit ungewollt ihre eigene Unfähigkeit demonstrieren, wären mit einem Schlag abgeschafft.

Ach, und noch ein Letztes: Wann gab’s eigentlich beim Rugby letztmals ein Null zu Null? Der Fußball kann sich weiterhin Vieles abschauen. Der Videobeweis ist ein Anfang. Unangetastet sollte nur eines bleiben: der runde Ball.