Nerds unter sich

Mit dem Ausdruck Nerd bezeichnet man sonderliche Menschen, die an Spezialinteressen hängen. Ich habe das spielfreie Wochenende für ein Bekennerschreiben genutzt. Das prophetische Bulletin des zweiten Spieltags muss dafür herhalten.
Weinprobe, Whiskeytasting, Käseverkostung - kennt man schon. Neuerdings wird die Kennerschaft immer abstruser zelebriert. Gin, Craftbeer, Zigarren, Schinken, Oliven, Lammfleisch - überall werden spezielle Veranstaltungen angeboten und mir scheint so, als wäre ich Außenseiter, weil ich am Kennertisch aus dem Stand kein zehnminütiges Impulsreferat über die dreißig Sorten Minze halten kann. Der Trend zur nerdigen Besserwisserei bei Nahrungsmitteln ist ungebrochen. Egal, welche Flüssigkeit gerade im Glas ist, sei es auch nur schnödes Mineralwasser: ohne Tiefenkenntnis des Inhalts, seiner Herkunft und der Produktionsfinessen ist in geselligen Runden kein Staat mehr zu machen. Prüfende Stille, wissende Mine und ein Adjektiv, das ohne Zweifel den vernommenen Genuss in Worte fasst, sind Pflicht. Ein urbaner Gaumen muss jederzeit Rechenschaft ablegen können. Wer sprachlos bleibt, oder schnöde „schmeckt mir“ sagt, steht sofort unter dem Verdacht, nicht wertzuschätzen, was geboten wird. Wer beim Grillen ohne Abo der Zeitschrift beef daneben steht, wem bei Fachgespräch über Sous-vide-Garen die Luft wegbleibt, hat verspielt. Das Connaisseurtum hat längst um sich griffen. Es verfügt über einen eigenen Wortschatz. Langenscheidt hat gerade ein Wörterbuch deutsch-kulinarisch in Vorbereitung. Vor der Spezialisierung ist kein Entkommen. Keine Ahnungslosigkeit erlaubt. Mit Kennerminen zählen Experten alle Gin-Manufakturen Thüringens auf (Geheimtipp!) und rattern die steirischen Kaffeeröstereien auf, die noch vom Inhaber geführt werden (wird erst in drei Jahren hip). Genussmessen schiessen überall aus dem Boden. Nach dem Mahl ein Sherry gefällig? Im Prinzip gerne, aber nur wenn er mit der crème brûlée harmoniert. Die Standardfloskel „Das Wichtigste ist, dass es schmeckt“ stimmt auch ohne den zuvor gehaltenen, halbstündigen Vortrag über die einmalige Wurstproduktion in der südostlichen Slowakei. Nerderei und Akademisierung sind längst Bestandteil der unserer erlesenen Genusswelt. In der unendlichen Tiefen des Netzes stecken längst Spezialseiten für panamesischen Tequila oder ein Guide durch alle Reissorten des thailändischen Mekongdeltas.
Festzuhalten bleibt: Guter Wein wird nicht besser, wenn man ihn wortreich besingt.
Beim Fußball liegen die Dinge naturgemäß anders. Nehmen wir zum Beispiel die diametral abkippende Sechs oder die hängende Neun. Bei diesen Ausdrücken handelt es sich zweifellos um handfeste Bereicherungen der Sprache. Gekonnt werden die allgemein bekannten Rückennummern dazu verwendet, neue taktische Stellenbeschreibungen möglichst kurz und anschaulich darzustellen. Oder wir nehmen das Spiel in den Zonen. Während man früher im Raum verteidigt hatte, stellt man heutzutage Passwege zu - und fasst damit den Sachverhalt einen präzisen Begriff. Damit sich der Spieler alles merken kann, hat der Trainer zuvor einen Matchplan formuliert. Strategien sind gestern. Taktik ist Siebziger. Als Bulletinschreiber muss ich schon aktuell bleiben. Ich gebe zu, diese sprachliche Präzision sauge ich auf. Offenbar hat die DFB-Trainerschule für diese Spielzeit eine neues Wörter- und Floskelbuch herausgebracht. Titelgeschichte: Der schwimmenden Pressspieler zwischen den Ketten. Es stimmt ja schon: Gerade die Spieler zwischen den Ketten sind wichtig um die gegnerische Ballzirkulation zu unterbrechen. Da braucht man Druck auf den Ball und eine extrem hohe Intensität, damit durch die pendelnde Dreierkette (die beim gegnerischen Ballbesitz zur Fünferkette wird) kein Schnittstellenpass gespielt werden kann. Da muss die ganze Mannschaft verteidigen. Vorne sollten Pressingfallen aufgestellt werden. Wenn die Mannschaft den Ball erobert hat, kommt es auf den Umschaltmoment an. Und wenn’s nach vorne geht, könnte man statt hängender Neun auch einen Wandspieler einsetzen. Problem ist nur: Auf dem Transfermarkt stehen gerade wenig dieser Wandspieler zur Verfügung, die vorne den Ball wirklich fest machen können.
So ist das eben heutzutage unter Fußballexperten. Wortschatz ist wichtig. Informiertsein fast noch mehr. Früher reichte es völlig, wenn man alle Verletzungen der aktuellen Kaderspieler aufzählen konnte. Nur die Überexperten glänzten schon damals mit einer haltbaren Prognose für die Rückkehr ins Mannschaftstraining. Heute ist das zu wenig. Verletzungen und Prognosen kann überall im Netz nachlesen, dafür ist Expertise nicht mehr notwendig. Heute sind eigene Gedanken gefragt oder wahlweise ein viertelstündiger Impulsvortrag über die Weltstandsanalyse beim Anspielen von Halbräumen. Wer die Kunst der tiefgründigen Betrachtung nicht beherrscht, verliert schnell bei der bierlaunigen Spielbesprechung an Glaubwürdigkeit. Langenscheidt arbeitet übrigens an einem Wörterbuch „deutsch-taktisch“, aber das nur am Rande. Auch die allfällige Spielerkritik (Früher: „Du Pflaume!“) muss heute differenzierter vorgebracht werden. Wenn ein Spieler einen Ball versemmelt, formuliert man besser, dass er die ihm zugeteilten Aufgaben innerhalb des Mannschaftsverbundes nicht erfüllt. Der Kenner zeichnet sich aus, in dem genau für diesen Spieler bereits den Namen eines neunzehnjährigen Talents vom FC Mlada Boleslav (Geheimtipp!) parat hat, den man schon längst hätte verpflichten sollen. Er nennt auch den präzisen Marktwert laut transfermarkt.de und der Telefonnummer des zuständigen Spielerberaters.
Auch auf den Tribünen müssen die richtigen Diagnosen in die Schnittstelle gespielt werden, sonst ist der Verdacht groß, man sich nur oberflächlich mit dem Spiel befasst und höchstens in der lokalen Zeitung die Aufstellung gecheckt hat. Zugegeben, ein „Den muss er machen“ kann man sich inzwischen schenken. Das sieht jeder. Auch beim Torwartspiel kennen sich alle aus. „Wenn er raus kommt,…“ braucht längst keinen Nachsatz mehr. Der ganze Block weiß, wie der Satz weiter geht. Alles Experten um mich rum, ist doch klar. Wer die Analysen der Taktiknerds im Netz kennt (fast alle), dem kann man mit derlei Weisheiten nicht mehr kommen. Denen muss niemand erklären, wie sich unsere Stürmer gerade ihre Freiheiten in flügelnahen Positionen erkämpfen und aus diesen heraus die inversen Flanken schlagen, mit denen der Gegner in dieser Situation nicht rechnen konnte. Aber wir, wir haben das alles gesehen, war doch eh klar. Der nächste Gegner? Haben wir durch analysiert. Ein alternativer Matchplan für das eigene Team ist von uns bereits ausgearbeitet worden. Ob er auch von allen Mannschaftsteilen gelebt wird, darauf wird es am nächsten Spieltag verstärkt ankommen. Was wir heute gesehen haben, war durchaus ausbaufähig. Aber wir als Experten haben genau gesehen, dass die Anlagen schon sehr gut sind. Höchste Zeit, dass die Mechanismen innerhalb der Mannschaft greifen.
Festzuhalten bleibt: Schlechte Spiele werden auch nicht besser, wenn man sie pseudotaktisch besingt.
Ach, Weinproben finde ich übrigens echt doof. Die eingebildeten Weinbesserschmecker reden dermaßen hochnäsig und blasiert, das ist ja kaum auszuhalten. Und mal unter uns: „Wen interessiert schon Wein?“