Postfaktisches Bulletin

Was hat die Fankurve mit Trump, Brexit und anderen Miseren zu tun? Das postfaktischen Bulletin des 12. Spieltags räsoniert über Filterblasen andere verstörende Phänomene der letzten Wochen.

Haben wir sie eigentlich noch alle? Die Welt gerät aus den Fugen - und wir haben nichts Bessres zu tun, als über Fußball schreiben. Immer und immer wieder. Draußen geht alles schief. In den Staaten erigiert bald ein Vollpfosten mit dem IQ eines regierenden Penis. In Britannien sitzen sie mit Rudern an den Küsten, um mit ihrer Insel weiter von Europa wegzukommen. Hierzulande fuchtelt eine völkisch entrückte Scheinalternative mit Deutschlandfahnen - oder allem, was sie dafür halten. Böhse-Onkelz-Konzerte sind selbstverständlich ausverkauft. Jaja, ich weiß, die Onkelz sind längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen, etwa so wie Marine Le Pen in Frankreich oder die Freiheitlichen im Land der tiefen Schluchten. Aber all das schert uns anscheinend nicht. In diesem Fußball-Forum bleibt das Hirn rund. Konsequenterweise ignorieren wir alle, die Erde für eine Scheibe halten. Egal, wer uns regiert: Wir diskutieren über unberechtigte Elfmeter, traditionslose Dosen oder Fußballerfrisuren. Haben wir wirklich nichts Besseres zu tun?

Allen Ernstes: Fußball hilft! Der Lauf des Balles ist unser Freund. Das Spiel rettet uns. Und ganz beiläufig erklärt es uns die Welt. Zugegeben: Kein Abstauber von Fußballgott Alex Meier hat auch nur einen neuen Arbeitsplatz geschaffen. Kein Zaubertor von Messi hat je etwas gegen die Klimakatastrophe getan. Kein bedauernswerter Pegidist fühlt sich besser, weil er seit 2014 plötzlich im Land des Fußball-Weltmeisters lebt. Trotzdem schauen wir alle wöchentlich auf die Bundesligaergebnisse. Während sich hinter der Tribüne die Menschen den rechtsalternativen Pathosrätschen, hetzerischen Flachpfeifen und ewigen Lügnern zuwenden, zucken wir nur mit den Schultern - und regen uns auf, weil unser aufgerückter Verteidiger eine Flanke sinnlos hinters gegenerische Tor schlägt. Und trotzdem lernen wir im Spiel vieles über das Leben.

Mit Fußball kann man nämlich alles erklären. Unter anderem auch das Phänomen des Postfaktischen. Letzte Woche haben die Oxford Dictionaries (das ist sowas ähnliches wie der Duden bei uns) das Wort Postfaktisch zum Wort des Jahres erklärt. Gemeint ist damit die Erhebung einer gefühlten Wahrheit zur Tatsache. Zahlen, Beweise und Dokumente sind inzwischen wertlos geworden. Stattdessen sind die Flüchtlinge an allem Schuld, der Islam übrigens auch. Neulich hatte Frauke Petri sogar einen verliebten Blick vom Papst erhalten. Dochdochdoch, voller postfaktischer Ernst. Ich hab’s gelesen im rechten Netz. Wurde schon hunderttausendmal geklickt, das muss doch stimmen.

Egal wie die Welt durchdreht: Mit Fußball kann man sie erklären. Ich erinnere beispielsweise an das Bundesligaspiel VfB Stuttgart gegen Borussia Dortmund. Noch gar nicht lange her. Der VfB verlor 2:3 - und zwar einzig und allein wegen eines Schiedsrichters namens Aytekin. Das war wirklich offensichtlich. In der Cannstatter Kurve, wo ich stand, gab es nur eine Meinung: Der Aytekin verpfeift uns. Auch auf der Gegengerade: Alle überzeugt, der Aytekin verpfeift uns. Selbst die Haupttribüne, also diejenigen, die den besseren Blickwinkel haben: Schuld ist nur der Aytekin. Und hinterher in der Kneipe alle einig: Der Aytekin. So ein Arsch. Bestochen mindestens, wenn nicht Schlimmeres. Ein Tag später analysierte ich nüchtern die Partie. Zusammenfassung in der Glotze. Nur um mich nochmal zu vergewissern, und zu schauen, ob der Verband Aytekin bereits gesperrt hatte.

Mist. Was ich sah, passte mir mal überhaupt nicht in den Kram. Meine Mannschaft stolperte weit schlimmer, als ich es wahrhaben wollte. Dortmund war drei Klassen besser. Mindestens. Einer der besten Männer auf dem Platz war Schiedsrichter Aytekin. Er hätte zwar Mitte der ersten Halbzeit Nuri Sahin vom Platz stellen können. Das hätte er wirklich tun sollen. Aber alle anderen fünfzehn kniffligen Szenen, also diejenigen, in denen er meinen VfB zweifellos verpfiffen hatte, entschied er nüchtern und korrekt. Was hatte ich mich auf der Tribüne aufgeregt! Wie sehr bestätigt fühlte ich mich in meiner Wahrnehmung durch den tobenden Mob um mich herum! Und wie einfach schwarzweiß war noch die Welt gewesen, als ich sie nur von der Tribüne aus beurteilte - mit lauter gleichgesinnten Schwaben-Claqueuren um mich herum.

Ja, es kann schon schmerzhaft sein, wenn die Filterblase der eigenen Kurve plötzlich zerplatzt. Als Fußballfans wissen wir eben längst, dass die Dinge komplexer sind als 2:3. Wenn's schlecht läuft, müssen wir keinen schwarzen Mann dafür verantwortlich machen - und auch keine Flüchtlinge, keine Mexikaner und keinen Islam. Was das Postfaktische betrifft, haben wir als Fans einen reichhaltigen Erfahrungsschatz, der uns hilft, den Lauf der Dinge zu begreifen. Und genau aus diesem Grund werden wir an dieser Stelle nicht aufhören, nur und ausschließlich über Fußball zu schreiben.