Rien ne va plus!

Das berühmteste Fenster in der Welt und des Fußballs ist das Transfer-Fenster, auch Wechselperiode genannt. Letzteres hört sich eher an wie ein schlimmes gynäkologisches Problem. Deshalb bevorzuge ich die Metapher Fenster, obwohl ich das verwandte Wort Zeitfenster sehr überflüssig und ziemlich übel finde. Das Transferfenster wird nach Saisonende in Deutschland am 1. Juli geöffnet und schließt pünktlich am 31. August um 18 Uhr. Danach geht nichts mehr. Davor passiert alles, auch das, was den Propheten der Liga das Handwerk erschwert und auch so manchem Trainer Kopfschmerzen bereitet. Wie soll man die Qualität eines Kaders vernünftig einschätzen, wenn einige der zu Saisonbeginn auf dem offiziellen Mannschaftsfoto abgebildeten Spieler keine zwei Wochen später bereits bei einem anderen Verein spielen.

Wird das Transferfenster geöffnet, zieht es gewaltig und alles fliegt durch die Gegend. Vor allem Geld und zahlreiche Spielerberater samt ihren Schützlingen und die Vereins-Emissäre, die dann in Europa, Südamerika und Asien fleißig Bonus-Meilen sammeln. Es ist die Hochzeit des Sklavenmarktes für Fußball-Gladiatoren. In diesem Sommer wurden von den Vereinen in den fünf großen europäischen 1. Ligen in England, Italien, Deutschland, Spanien und Frankreich über 3,4 Milliarden Euro für exakt 2573 neue Spieler ausgegeben. Das sind 3400 Millionen! Heilige Maria Mutter Gottes von Bentheim! Diese Zahl verursacht bei mir einen unangenehmen Schwindel. Es geht doch nur um die zweitschönste Nebensache der Welt: Ums Kicken! Gehört sich das? Der neue Rekordpreis für den teuersten aller Kicker liegt incl. zu erwartender Bonuszahlungen nun etwa bei unglaublichen 110 Millionen Euro, die Manchester United für den Franzosen Paul Pogba aufs Konto von Juventus Turin überweisen muss.

Auch Pogbas etwas kauzig wirkender Spielerberater Mino Raiola, ein italienischer Pizza-Bäcker aus den Niederlanden mit Wohnsitz in Monaco, bekommt davon etwas ab. Er versteht offensichtlich sein Geschäft. Hatte er doch den selben Spieler erst kürzlich, 2012, für nur 3,5 Millionen Euro in der anderen Richtung von Manchester nach Turin transferiert. Es wurde damals kolportiert, dass Andrea Pirlo und Gianluigi Buffon nach dem ersten Training mit dem jungen Pogba sich halb tot gelacht haben, dass Manchester United eine solche Granate für so kleines Geld hat ziehen lassen. Und Mino Raiola verkündete dazu erst vor wenigen Tagen, dass schon sehr bald die Marke von 200 Millionen Euro für einen Transfer fallen wird. Dieser Wahnsinn kennt offenbar keine finanziellen Grenzen.

Schuld daran hat nicht zuletzt die EU, die ja seit einiger Zeit schon für alles als Sündenbock herhalten muss, was dem kleinen Mann nicht gefällt. Und das hat mit dem belgischen Fußballprofi Jean-Marc Bosman zu tun. Der zettelte vor über 26 Jahren so etwas wie einen Spartakus-Aufstand der Fußball-Gladiatoren an: "Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Kicken zwingt!" Er berief sich auf die in der EU garantierte Arbeitnehmerfreizügigkeit und setze so vor Gericht seinen ablösefreien Wechsel zu einem anderen Club durch. Erst seitdem gibt es ablösefreie Spieler, die auf dem Transfermarkt kostenlos zu haben sind. Die Vereine wussten das bei begehrten Spielern nur durch sehr lange Vertragslaufzeiten zu kompensieren. Die steigerten im Nebeneffekt den sogenannten Marktwert der Spieler drastisch, zu dem diese Spieler im Transferfenster dann aus ihren laufenden Verträgen herausgekauft werden können. Nicht jede Revolution führt zu einem guten Ergebnis. Von Arbeitnehmerzügigkeit kann in der sehr kurz bemessenen Berufslaufbahn eines Fußballprofis kaum eine Rede sein. Immerhin wird dieses Sklaventum heutzutage wesentlich besser entgolten.

Die kurze Zeit des alljährlichen Transfertheaters ist dazu auch höchst spannend für die Fans. Sie erhoffen sich entweder die alljährlich versprochene, qualitative und quantitative Verstärkung des Kaders ihres geliebten Vereins, oder sie hoffen heimlich darauf, dass sich für den vor Spielzeiten für teures Geld erworbenen Chancen-Tod doch endlich noch ein Abnehmer findet und er die teuren Vertragsleistungen nicht weiterhin nur als Tribünen-Gast erbringt. Gebannt verfolgt der Fan daher die Arbeit des zuständigen Sportdirektors: die diffizile Operation am offenen Kader. Da gibt es kleinere und größere Eingriffe, manchmal nur kosmetischer oder ambulanter Natur und auch mal radikal, wenn es um lebenserhaltende Maßnahmen und den Klassenerhalt geht. Da wird Implantiertes entfernt, das im Mannschaftskörper zu Abstoßungsreaktionen geführt hat, damit die Chemie wieder stimmt. Man beugt mit Verjüngungskuren den Verschleißerscheinungen vor oder baut einen neuen Schrittmacher ein, damit der Rhythmus wieder stimmt. Auch hier macht die Kohle den Unterschied. Die Privatversicherten können sich einen Chefarzt leisten, andere müssen sich mit einfachen Kassenleistungen begnügen. Und auch Kurpfuscher gibt es jede Menge. Ob diese Operationen gelingen, ahnt man nicht. Es gibt ja gute und schlechte Operateure. Da muss man schon die ersten 10 Spieltage der Rekonvaleszenz abwarten. Das gilt natürlich nicht für die sehr verehrten Liga-Propheten.

Auch die Spieler bereiten sich intensiv auf das Transferfenster vor. Sie sind ja schließlich die Ware auf diesem Milliarden-Markt und stellen sich in diesem Fenster zur Schau. Die einen wollen glänzen und legen in den letzten Saison-Spielen zuvor nochmal ne Schippe drauf, andere simulieren Verletzungen oder geben den Unzufriedenen, um den längst anvisierten Wechsel zu einem anderen Verein zu befördern. Und wie auf jedem Sklavenmarkt der Antike, wird auch beim modernen Gladiatoren-Kauf die Ware auf Herz und Nieren geprüft. Da reicht heute kein Blick auf ein möglichst makelloses Gebiss. So mancher Transfer scheiterte schon im letzten Moment, weil beim unerlässlichen Gesundheits-Check mit modernstem Gerät ein kleines Gelenkmäuschen im arthrotischen Knie entdeckt wurde, eine nicht ganz dicht schließende Herzklappe oder sonstige versteckte Mängel. Da platzen Spielerträume von jetzt auf nachher. Oder es hakt anderswo kurz vor Transferschluss. Bei einem Fax-Gerät fehlt das Papier, es fehlt eine Unterschrift oder die Uhr läuft mal wieder schneller, als gedacht. So wie dieses Jahr beim eigentlich schon perfekten Wechsel von Axel Witsel zu Juventus Turin. Der 18 Millionen teure, belgische Nationalspieler mit Afro-Look hockte tagelang und bis kurz vor Transferschluss in einem Turiner Hotel und wartete auf letzte Unterlagen von Zenit St. Petersburg. Die kamen zu spät - Rien ne va plus - und der arme Kerl musste frustriert einen Flieger zurück in sein russisches Exil besteigen.

Die einen nennen den Transfermarkt verrückt, die anderen unmoralisch und der gewöhnliche Fan schüttelt nur mit dem Kopf, weil er es nicht gewohnt ist, in solchen Milliarden-Dimensionen zu denken. Deshalb ist er meist sehr froh, wenn dieses verdammte Transfer-Fenster endlich schließt und er sich wieder auf das Wesentliche konzentrieren kann. Je nach Liga und Spieltag kann er das am Freitag, Samstag, Sonntag, Montag oder war's Dienstag oder gar Mittwoch? Die genauen Anstoßzeiten können Sie der örtlichen Presse entnehmen. Das findet er viel eher verrückt und unmoralisch, so wie andere den vollkommen überhitzten Spielermarkt. Und doch ist der gewöhnliche Fußball-Fan selbst und sein Interesse an diesem wunderschönen Sport eine oder gar die entscheidende Wurzel allen kommerziellen Übels, obwohl er nichts dafür kann und es sogar bitterlich beklagt.

Denn die Nachfrage und das Angebot bestimmen den Markt, das gilt auch beim Fußball. Und die Nachfrage nach Fußball durch den gewöhnlichen Fußball-Fan ist europaweit immens groß. Entsprechend wächst das Angebot, um diese Nachfrage zu befriedigen. Vor allem medial und damit lässt sich prächtig Geld verdienen, von dem die Fußball-Vereine über Lizenzen mit sogenannten Fernsehgeldern einen großen Batzen abbekommen. Und da Geld bekanntlich Tore schießt, investieren die reichen und erfolgreichen Vereine dieses Geld in gute Spieler, um weiterhin erfolgreich zu sein, damit die scheinbar unerschöpfliche Quelle der Fernsehgelder nicht versiegt. Das ist der Teufelskreis, den der ahnungslose Fan durch seine Begeisterung für den Sport am Leben hält. Wir machen das doch nur für euch, entgegnet die Vorstandsherrschaft den Fans und Vereinsmitgliedern, die in Deutschland die Kommerzialisierung des Fußballs beklagen. Sie wissen sehr wohl um diese Lüge, da sich in diesem Business schon lange kein Geld mehr mit den treuesten Fans in der Fan-Kurve verdienen lässt. Sie verschweigen die Wahrheit, da die als folkloristische Beigabe in den Stadien erwünschte und durch die Einnahmen in den VIP-Lounges subventionierte Fan-Kultur in den Vereinsstrukturen noch gebraucht wird.

Die Betonung liegt auf noch, denn irgendwann wird auch hierzulande die umsatzhemmende 50-plus-1-Regel fallen und die dann konzern-geführten Fußball-Vereine werden sich der lästigen, weniger zahlungskräftigen Kundschaft genau wie andernorts entledigen. Kostet dann eine Dauerkarte wie in England ein paar Monatsmieten, erledigt sich das von allein. Rien ne va plus! Die Leute kaufen die günstigeren Bezahl-Abos, sehen sich die Spiele im Fernsehen an und unterstützen so noch ungewollt das System, das sie aus den Stadien drängt.

Solange Fußball-Fans dieses Spiel willig mitspielen, wird sich das nicht verhindern lassen. Noch ist aber nichts verloren. Höchste Zeit für einen kleinen Spartakusaufstand der Fans. Die VfB-Mitglieder unter den Liga-Propheten können ja bei der nächsten Mitgliederversammlung am 9. Oktober gleich damit anfangen. Gegen das, was der Verein mit seiner Personalpolitik und der Ausgliederung für die Zukunft plant, ist das Fan-Dasein in der zweiten Liga das wahre Paradies.