Schieflage

Fans rebellieren. Vereine können das nicht verstehen. Sie übersehen: Hinter den vereinsspezifischen Problemen verbirgt sich ein identisches Motiv: Abscheu gegen den modernen Fußball. Details im erzkonservativen Bulletin des laufenden Spieltags.

Fanbeschimpfungen sind in. Die Oberen in Verbänden, Vereinen und der BILD sind sich einig: Was Fans im Moment veranstalten, ist unter aller Sau.

Zum Wortführer der Fankritik schwang sich Alfred Draxler im Sport1 Doppelpass auf. Stein des Anstosses war ein Plakat, das im HSV-Block gezeigt wurde. Man würde die eigene Mannschaft bei Abstieg "durch die Straßen jagen" wurde via Transparent verkündet. Tatsächlich muss man darüber nicht lange diskutieren. Sowas geht ja gar nicht. Idioten gibt's eben überall.

Mindestens ebenso idiotisch ist allerdings, dass daraufhin alle Ultras als "Pack" verurteilt werden. Sport-BILD "Journalist" Alfred Draxler hat das am Sonntag in der Sendung sport1 Doppelpass getan. Systemblockflöte Draxler ist seit Jahrzehnten die schleimigste Fresse der deutschen Fußballberichterstattung – und das behaupte ich nicht nur, weil sein Haargel so unappetitlich dosiert ist, dass es in Strömen übers Gesicht läuft. Natürlich ist Draxler nicht doof. Ganz im Gegenteil. Seine Statements haben Strategie. Sie lautet: Eine Hand wäscht die andere. Draxler verteidigte Beckenbauer selbst dann noch, als es gar nichts mehr zu verteidigen gab. Draxler's Zentralorgan für allereinfachste Unwahrheiten sichert sich seit langem mit zuverlässiger Liga-Hofberichterstattung die besten Plätze in der Verwertungskette für Neuigkeiten. Wenn ein BILD-Mann etwas sagt oder schreibt, darf man getrost davon ausgehen, dass die Meinung mindenstes einem einflussreichen Verbandsoberen in den Kram passt, der sich bei passender Gelegenheit revanchieren wird.

"Wenn wir dieses Pack nicht aus den Stadien entfernen, haben wir auf die Dauer ein Riesenproblem", stellt Draxler fest. Die Einigkeit der gesamten Doppelpass-Runde sprach Bände. Auch von den zwei Stuttgartern am Glastisch war kein Widerspruch zu vernehmen. Der Journalist Oliver Trust und der VfB-Sympathieangestellte Thomas Hitzlsperger waren schon eingeschlafen oder nickten im Stillen. Nur Reinhold Beckmann stellte sich der schmierigen Simplifizierung entgegen. Kenntnisreich wies Beckmann darauf hin, dass man Ultras nicht über einen Kamm scheren kann. Beckmann war damit der einzige am Glastisch, der dem Titel eines Journalisten inhaltlich gerecht wurde.

Die Diskussionsrunde passt ins Bild. Überall wundern sich die Ligaoberen über die eigenen Fans. In Mainz und Stuttgart wegen Shitstorm. In Hannover geht es gegen den Präsidenten Martin Kind und seine feindliche Übernahme. In Wolfsburg erscheint der Fanblock erst nach 19 Minuten und 45 Sekunden. In Köln schreiben sich Ultras und Verein seitenlange Briefe. In München solidarisieren sich Fans mit dem nächsten Gegner Besiktas. Proteste überall. Natürlich liegt jeder Fall sehr speziell. Aber eines fällt auf im Vergleich zu früher: Während man damals meistens über die Leistung der eigenen Mannschaft diskutierte, geht es neuerdings um Grundsätzliches: um Teilhabe, um 50+1 und um Fairness gegenüber denen, die die Faszination des Spieles ausmachen, also den Fans.

Wer trotz der unterschiedlichen Gemengelage an den einzelnen Schauplätzen das Große und Ganze im Blick behält, dem bieten sich zwei Erklärungen für die wachsende Unzufriedenheit. Erstens die sozialen Medien. Thomas Hitzlsperger wies richtigerweise auf die neuen, sozialen Resonanzräume hin. Vieles hat sich verändert im modernen Fußball: Anstosszeiten, Kommerzialisierung, Kapitalinteressen, TV-Ausrichtung und so weiter. Das passt nicht allen. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Altes Sprichwort, neue Bedeutung. facebook, Twitter [&] Co. haben diesen Dschungel dramatisch vergrößert. Übrigens sind auch wir als Propheten ein winziges Pflänzchen dieser Echokammer. Ja, und zwar mit größtem Vergnügen.

Doch es gibt noch einen zweiten Faktor, der sich verändert hat: die gähnende Langeweile der Liga. Fans aus Hamburg, Stuttgart, Berlin, Bremen und all den anderen Standorten wissen seit langem, dass sie in den nächsten zehn Jahren keine Meisterschaft feiern werden. In der Bundesliga geht es längst nicht mehr um den Sieg, sondern nur noch darum, die Niederlage des Abstiegs zu verhindern. Für die grundsätzliche Langeweile sind jedoch nicht die Bayern verantwortlich, sondern ein Fußball-System, dem die internationale Wettbewerbsfähigkeit mehr wert ist als die Chancengleichheit in der Bundesliga. Egal wie Draxler, Helmer und die anderen Fußballbesprecher die Spannung herbeireden: der Bundesliga ist ihre Grundfaszination abhanden gekommen: der Kampf um die Meisterschaft.

All das haben die Fans längst verinnerlicht - die Ultras vielleicht sogar als Erste. So erscheint es nur logisch, dass sich Ultras nicht zuerst ums Sportliche kümmern. Ihre Themen sind andere, nämlich Zusammenhalt, Solidarität, Teilhabe und Traditionen. Es handelt sich dabei exakt um die Themen, die in früheren Zeiten den Kern eines Fußballvereins ausgemacht hatten. Aber Vereine sind im modernen Fußball längst zweitrangig. Sie wurde degradiert zu Eigentümern und Abnickern von Spielbetriebs-GmbHs oder -AGs. Siebzehn dieser Unternehmen sind inzwischen brave Erfüllungsgehilfen eines Systems, das dem FC Bayern auf Sicht sichere Meisterschaften beschert. Wer das langweilig findet, wird eben beschimpft – und wenn er Pech hat sogar von Alfred Draxler.