Tur Tur, der Scheinriese.

Wer kennt noch Tur Tur, den Scheinriesen? Im prophetischen Bulletin des 20. Spieltages erinnere ich an die legendäre Figur.

Ziemlich genau sechs Jahre ist es her, als ich mit der Prophetin Nina Graß einen größeren Freitagsabendsausflug unternahm. Mein Augsburger Freund lud uns ins Rosenau ein, auf dem Plan stand die Begegnung FCA gegen Nürnberg. Also Nürnberch. Das alte Rosenau war gewiß kein Ort, der hohen Fußballkomfort versprach. Trotzdem oder gerade drum erinnere ich mich gerne an den Ausflug. Im alten Oval mit der hohen Gegengerade, die vollständig aus Stehplätzen bestand, herrschte blendende Stimmung. Wir mitten unter Augsburger Fans. Viele waren es nicht, die Fans. Viele Zuschauer, das schon. Aber die, die sich per Kleidung oder Geschrei outeten, waren nicht besonders zahlreich. Die Handvoll Ultras hatten ein kleines Podest aufgebaut. Der Ansäger schrie. Wenige antworteten. Immer dann, wenn die versammelten Nürnbercher einen Sprechchor vorlegten, hatten die Augschburger nichts mehr zu melden. Augsburg war ein Zweitligastandort im Entstehen. Über 40 Jahre war die Stadt ohne erkennbaren Spitzenfußball ausgekommen.

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Ein Augschburger, der kicken konnte, verließ die Stadt. Haller spielte noch verhältnismäßig lange für den FCA. Bernd Schuster, Roland Grahammer, Christian Hochstätter, Raimond Aumann oder Armin Veh – alle bringt man als Spieler mit dem heimischen Verein nicht unbedingt in Verbindung. Augschburg war der ewige Scheinriese. Das ist die Figur, die ich in der Augsburger Puppenkiste am liebsten habe: Tur Tur, der Scheinriese. Wenn er näher kam, wurde er immer kleiner. Weit weg dagegen, in irgendeiner Wüste ganz am Horizont erschien er groß und größer. Augschburg selbst war ein Scheinriese. Eine große Stadt, ein ordentliches Hinterland, früher mal eine Fußballtradition, aber seit 40 Jahren war nichts mehr gelaufen. Hätte groß werden können, der Fußball in Augsburg, aber der Zeitpunkt, an dem das passierte, wollte einfach nicht näher kommen.

So standen wir also im Block im Rosenau. Irgendwie war das lustig. Fußball wie früher. Altes Stadion, und irgendwie ein legendärer FCA. Das ganze Stadion war stolz darauf, wieder in der zweiten Liga zu sein. Zu Gast war immerhin der Bundesligaabsteiger aus Nürnberch. Als Stuttgarter fühlte sich das besonders locker an. Ich schrie für Augsburg aus ganzem Herzen. Meine Stuttgarter waren schließlich vor kurzem Meister geworden. Damals als man noch nicht in Erklärungsnöte kam, wenn man nach den eigenen Farben gefragt wurde. Ich stand unter lauter Augsburger und fühlte mich wohl. Prophetin Nina Graß war ob des großen Gedränges im Block oben geblieben. Sie beobachtete, wie plötzlich die Polizei in Kampfmontur erschien. „Doa is an Nürnbercher im Blogg“, war die Sorge der Eingreiftruppe. Offenbar hatte sich ein Clubberer zur Mutprobe entschlossen, war inkognito in den Augsburger Block eingedrungen, vermutlich wollte er ein Banner hissen oder eine Fahne schwenken. Aber der Ultra-Kindergeburtstag wurde verhindert. Bald war wieder Ruhe. Das Geschehen auf den Rängen war durchaus spannender als das auf dem Feld. Wir sahen ein Null zu Null und lobten die Stadionwurst in der Rosenau. Mußte man lange warten dafür, aber die Wurst war überaus korrekt. Später besuchten wir mehrmals die Augsburger. War immer lustig dort, auch als Stuttgarter. So ein Zweitverein in der zweiten Liga. Ist doch was ganz Nettes, oder?

Schuld am Augsburger Aufstieg ist übrigens Walter Seinsch. So richtig politisch korrekt ist der Aufstieg daher nicht. Seinsch ist Macher von kik, diesem Textildiscouter, dessen Preise eigentlich gar nicht ohne Ausbeutung von hilflosen Arbeitskräften zu Stande kommen können. Aber ich will nicht abdrivten. Seinsch durfte in Reutlingen kein großes Stadion bauen. Ursprünglich wollte am Fuße der Alb Großes bewegen. Den Reutlingern war das unheimlich. Seinsch zog mit seinem Geld nach Augsburg weiter. Aber das Geld ist nur das eine.

Wie jeder andere Verein auch, hatte Augsburg in den letzten Jahren damit zu kämpfen, dass alle Guten gingen, egal ob Spieler oder Trainer. Merkwürdig nur: Augsburg verwandelte den Verlust immer wieder zum eigenen Vorteil. Jos Luhukay weg? Weinzierl macht das. Ein Trainer, der zuvor mit Regensburg in die zweite Liga aufgestiegen war. Kannte fast keiner. Bis er nach Augburg kam. Traore weg? Hahn weg? Alles egal, es geht auch ohne. Sogar ohne eigenen Nachwuchs. Das Erstaunliche an Augsburg ist für meine Begriffe das Loch in der zweiten Reihe. Die Nachwuchsarbeit wuchs in Zeitlupe. Alle, fast alle Spieler, die in den letzten Spielzeiten Stammspieler waren, kommen von irgendwo her, aber nicht aus der Augsburger Jugend. Man verdient das Geld im Einkauf, sagt man bei Unternehmen. Für den Bundesligaverein FCA gilt selbes.

Heute spielt das Phänomen Augsburg schon zum zweiten Mal in Folge um die europäischen Plätze. Das Publikum ist schon lange euphorischer als das in Stuttgart. Als Stuttgarter geht man nicht mehr nach Augsburg, weil einem sonst die Tränen kommen. Augsburg zeigte, wie man aus einem durchschnittlichen Zweitligaetat Überdurchschnittliches herausholen kann. Spätestens seit dem 1:0 bei Dortmund muss man Augsburg als Bundesligaspitzenteam bezeichnen. “Gegen Augsburg kann mal man verlier’n“, singen die NullSiebener und sie haben Recht. Aus Stuttgarter Entfernung muss ich sagen: Sympathisch, dieser Augschburger Aufstieg. Allerdings sind die Zeiten vorbei, in denen man den FCA mit einem Scheinriesen vergleichen kann. Es ist eher ein Scheinzwerg. Je näher das Spiel gegen Augsburg rückt, um so größer die Furcht. Immerhin: Die Tormelodie ist aus der Augsburger Puppenkiste. Allez, allez, allez, allez, O, FCA, Null-Siiiiiiiieben!

Wie klingt eigentlich die Tormelodie von Borussia Mönchengladbach? Ich bin mir nicht sicher, aber ich habe den Torschrei von Herbert Zimmermann bei seiner Radio-Reportage des Berner Endspiels in den Ohren. Eine Vermutung. Gewiß weiß es Timo Vetter besser, für den ich diese Einspielung eigentlich vorgesehen hatte. Der Gladbach-Fan traut sich langsam aus der Deckung, er erklimmt mit 110 Punkten die Tabellenführung und gibt damit sogar Marvin Burmester das Nachsehen, der mit 2 Punkten Rückstand auf Platz 2 rangiert. Prophet Vetter hat nur einen Volltreffer. Das gibt der Konkurrenz zu denken. Ein Volltreffer, das bedeutet, er ist auch gegenüber kleinen Platzierungsverschiebungen immun. Wenig Volltreffer - und trotzdem oben. Wir werden uns vermutlich darauf einrichten können, den Propheten Vetter noch einige Spieltage in den oberen Tabellenregionen zu bewundern. Ganz anders der formidable Albert Wilkens, er hat stolze 8 Volltreffer. Ich habe noch Albert Wilkens Portrait mit Meisterschale noch in Erinnerung. Andreas Wilkens hatte es einst auf seiner Plattform gepostet. Da sah man den stolzen Albert Wilkens auf dem Rasen des Weserstadions mit der Salatschüssel in der Hand. Eine Abbildung, die durchaus aktuell ist. Andreas hat auf facebook bereits fest gestellt: "Europa, wir sind fast schon da". Ich finde, er sollte schon mal nach dem Saltschüsselportrait fahnden, von Europa bis zur Schale sollte es unter Viktory Skripnik nicht mehr weit sein.

Trainer Robin Dutt, der in Bremen diese Tabellenpostion nie erreicht hatte, ist inzwischen in Stuttgart als Sportdirektor untergekommen. Ich stelle das nur fest. So neutral wie ich es nur hinbekomme. Mit meinem Leonberger Schreibtisch muss ich sowieso ruhig sein, Dutts Frau betreibt hier einen Friseursalon. Ich stelle weiterhin fest: Einen Zweitverein in der zweiten Liga muss ich mir nicht mehr suchen. Die Bundesliga ist ja auch ohne einen persönlichen Erstverein spannend. Augsburg jedenfalls ist meinen Lampen-Kickern inzwischen um Lichtjahre voraus. Es braucht großes Geschick, um sich als Underdog in der höchsten Spielklasse zu etablieren. Eine etablierte Position zu vergeigen, das geht allerdings ganz einfach.

Aber man soll ja den Humor nicht verlieren, drum noch einige Kurznachrichten:

- Auch Dortmunder Fans haben den Humor nicht verloren.

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- Fußballspieler sind halt tolle Burschen. Besonders inBenningen

- Eine besonders feine Einstimmung auf dem Spieltag war mal wieder Zeiglers Wunderbare Welt. Bock drauf?

- Und hier noch eine Meldung für chilenische Fußballhistoriker, weniger lustig.