Unter Drecksäcken

Mitgliederversammlungen in Vereinen sind nicht besonders sexy. Sie finden in den muffigen Hinterzimmern von Vereinslokalen statt oder, wie jüngst beim VfB, in der Schleyerhalle in Stuttgart. Wer hingeht, der muss starke Nerven haben. Ein Protokoll, das jedem VfB-Fan weh tun muss.

 

Keine Ahnung, wie das genau damals vonstatten ging, als ich vor über 12 Jahren Mitglied beim VfB Stuttgart wurde. Und das als Schalke-Fan, von Kindesbeinen an. Vermutlich war Alkohol im Spiel. Noch länger besitze ich meine Stehplatz-Dauerkarte für den A-Block. Man möchte ja auch im Exil nicht auf den regelmäßigen Stadionbesuch verzichten. Die Mitgliedschaft beim VfB beinhaltet viele Rechte, und auch Pflichten. Das Pflichtenheft beinhaltet auch, sich aktiv am Vereinsgeschehen zu beteiligen und dem Verein nie gar jemals zu schaden. Was dem Verein schadet, ist eine diffizile Auslegungssache und vermutlich irgendwo im Gestrüpp der Vereinssatzung genauer definiert. Da diese aber gefühlt komplizierter gestrickt ist als eine Abhandlung über die Relativitätstheorie, habe ich auf ein genaueres Studium verzichtet. Stattdessen ging ich am letzten Wochenende zur Mitgliederversammlung, um mir selbst ein Bild von der im Vorfeld hitzig geführten Debatte zu machen, über das, was dem Verein gut tut und was ihm schadet. Die einen wollen einen revolutionären Neuanfang und vor allem einen umstrittenen Präsidentschaftskandidaten verhindern, die anderen sehen darin den Untergang des Vereins.

Einlass ab 10 Uhr, so stand es auf der Einladung. Der frühe Vogel fängt den Wurm... Nicht, dass es am Ende noch an Plätzen mangelt oder an den traditionell beim VfB dazu gereichten, kostenlosen Saiten für ein zweites Frühstück. Der frühe Vogel ist ein großer Depp, dachte ich mir dann, als ich so um 10.45h fast allein im großen Rund der Schleyerhalle stand und mir auf Nachfrage mitgeteilt wurde, dass es hier gar nichts umsonst gebe, nicht mal ein Pärle Saiten. An des Ständen klebten Plakate mit dem Hinweis auf eine alkoholfreie Zone. Na prima! Auch das noch. Im Hinblick auf die heftige vereinsinterne Streiterei um den Weg der Zukunft, kann ich das ja verstehen. Auch wenn für eine kleine Flasche Cola 4 Euro verlangt wird. Der VfB ist ja nun ein Zweitligaverein und braucht jeden Cent. So hatte ich Zeit genug, mir bis zum Anpfiff um 12 Uhr ein gutes Plätzchen zu suchen. Ganz vorn, an den fast leeren, ersten Reihen vor dem Podium, wurde ich von einem jüngeren Herrn im VfB-T-Shirt freundlich darauf hingewiesen, dass dort schon alles reserviert sei. Komische Sache. Bei einem Karnickelzüchterverein balgt man sich bei der Jahresversammlung um die Plätze in der letzten Reihe, um bei der Wahl des neuen Kassierers ja nicht im Blickfeld des Präsidenten zu sitzen. Beim VfB scheint das egal zu sein, obwohl da auch keine Tätigkeit "vergnügungssteuerpflichtig" sei, wie mehrfach betont wurde.

Womit wir schon beim Thema Vergnügen wären und dem, was danach alle Stilelemente enthielt, die es für eine exzellente Komödie braucht. Obwohl doch eigentlich ein Drama auf dem Programm stand, das sich um den Untergang des Vereins dreht, den böse Kräfte angeblich in Schutt und Asche legen möchten. Um kurz nach 12 Uhr wurden dann endlich im Circus Maximus des VfB die Spiele eröffnet. Die dreiköpfige Senatorenschaft des Aufsichtsrats mitsamt ihrem Vorsitzenden Martin Schäfer ganz oben auf der Tribüne, darunter ihre Beamtenschaft, der Vorstand, mitsamt dem Versammlungsleiter Stefan Heim. Ihnen zu Füßen und auf den besten Plätzen die betuchtere Vereinsbürgerschaft und die Herren Gladiatoren mitsamt ihren Lanistas und deren Chef Hannes Wolf. Drumherum etwa 100 Mitglieder, die mit Losglück einen Platz in Tuchfühlungsnähe zu ihren Helden ergattert haben. Drumherum, ein Spiegel der Stadion-Gesellschaft, mit dem Plebs als Publikum auf den billigen Plätzen im großen Rund.

Finanzvorstand Stefan Heim hielt die Begrüßungsrede und wurde dabei nicht müde zu betonen, was dem Verein alles Schlimmes widerfahre, wenn ein Antrag, den Aufsichtsrat abzuwählen, Erfolg habe. Der Sponsor sei ein sehr scheues Reh. Aber zunächst ging es ja darum, ob dieser Abwahl-Antrag überhaupt auf die Tagesordnung kommt. Elektronisches Abstimmungsgerät scharf gemacht, abgestimmt und ... Antrag mit fast 61 Prozent Gegenstimmen abgeschmettert. Die Aufsichtsräte schwitzten dabei kein bisschen. War ja eh klar. Und auf den billigen Plätzen ließ sich erstmals anhand der lautstarken positiven und negativen Bekundungen ausmachen, wie die Lager verteilt sind. Die Ultras und Stehplatzfans konzentrierten sich den lauten Pfiffen nach auch in der Halle in der nach Cannstatt ausgerichteten Kurve, das Haupttribünen-Logen-Volk im Innenraum vorn und das Gegengeraden-Kaschmirschal-Publikum jeweils seitlich. Letzteres fiel mir vor allem dadurch unangenehm auf, dass jede Lobrede auf den Aufsichtsrat, den Vorstand und den Kandidaten Dietrich sehr stupide im Stakkato mit ausdauerndem Applaus quittiert wurde, auch wenn die Rede noch so inhaltslos, anbiedernd und armselig daherkam. Ein hinter mir sitzender Herr mittleren Alters kommentierte es dann jedes Mal mit dem Satz: "Des sänd de Jubel-Perser vom Aufsichtsrat!". Aha!

Beim Bericht des Vorstandes und des Aufsichtsratsvorsitzenden habe ich dann häufig erstaunt lachen müssen, da wortreich und mit unzähligen, nichtssagenden Floskeln die heutige Vereinssituation schöngeredet wurde, an der es bei Licht betrachtet doch beim besten Willen nichts schönzureden gibt. Man solle tunlichst doch die Fehler der Vergangenheit verzeihen und vergessen und "gemeinsam", ein arg überstrapaziertes Wort an dem Tag, "die Herausforderungen der Zukunft" meistern. Man sei doch schließlich jetzt mit neuem Trainer und Sportvorstand auf einem guten Weg. So quasi schon mit einem Bein aufgestiegen. Und man solle diesen "Weg des Erfolgs" oder "das zarte Pflänzchen" gefälligst nicht durch allzu kritisches Hinterfragen der Vereinsführung gleich wieder gefährden. Ich musste mich dabei in den Arm kneifen, um mich zu vergewissern, dass ich all das nicht träume.

"Der Weg des Erfolgs" mit Jan Schindelmeiser und Hannes Wolf ist doch exakt nur so lang, wie der, den die beiden nach dem souveränen 4-0-Sieg gegen völlig überforderte Fürther bis in die Kabine zurückgelegt haben. Als der sehr eloquente Jan Schindelmeiser das mit einer Hand in der Hosentasche elegant umherstolzierend der Versammlung als erstes Ergebnis seines Konzeptes verkaufte, bekam er tosenden Applaus. Das "Konzept" hörte sich jedoch sehr vage und viel zu sehr nach dem an, was vor einiger Zeit auch der Sportvorstand Robin Dutt oft sogar ungefragt zum Besten gab. Was ein neuer Sportvorstand und Trainer und dessen allererster Sieg bewirken können... wer hätte das gedacht. Es reichte jedenfalls dazu, den meisten Mitgliedern die Augen für das zu verschließen, was diesem Verein in den letzten Jahren einen beispiellosen Niedergang beschert hat und für das offensichtlich niemand in der Vereinsführung bereit ist, die Konsequenzen zu ziehen. Der großspurig angekündigte Neuanfang, stellt sich so ganz unverblümt als Luftnummer dar. Reines Blendwerk zum Machterhalt.

Alles easy, bis dahin und zu der mit Spannung erwarteten Aussprache. 25 Wortmeldungen wurden vorgemerkt. Uiuiui... das kann dauern. Der erste Redner, ein netter Herr von der Alb, schüttete sein VfB-Herz vor den Mitgliedern aus. Rhetorisch etwas limitiert, war dennoch sein zarter, kritischer Unterton nicht zu überhören. Die Vereinsführung quittierte die Zurückhaltung mit Wohlwollen und Applaus. Keine Gefahr. Denn sie wussten ja, dass kurz danach ein ganz anderes Kaliber in die Bütt steigen würde: Christian Prechtl, der mit Abstand profilierteste Kritiker der Vereinsoberen in schlechten Zeiten. Also schon seit vielen Jahren. Und der enttäuschte das Publikum nicht. Während seines etwa 20-minütigen Vortrags (nachzulesen hier: http://cpkomm.de/by-the-way.html) analysierte er messerscharf, woran es beim VfB krankt und formulierte dazu einen Fragenkatalog, der auch den Präsidentschaftskandidaten Wolfgang Dietrich ins Schwitzen gebracht haben dürfte. Darauf ließ jedenfalls der Applaus danach schließen, der an Lautstärke nur von dem zur Begrüßung der Mannschaft zu Beginn übertroffen wurde. Womit wir schließlich auch zeitlich schon beim Hauptakt der Komödie angelangt sind, der Wahl des neuen Präsidenten. Aber dazu komme ich gleich. Die Aussprache mit den restlichen 19 Wortmeldungen wurde nämlich auf Antrag einer anwesenden Dame, durch die Mehrheit der Versammlung abrupt beendet.

Das war in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Oder eher bedauernswert? Der Antrag auf Beendigung der Debatte erfolgte nämlich nach einem bizarren Auftritt des Porsche-Betriebsratsvorsitzenden Uwe Hück. Bekannt aus Funk und Fernsehen und in Stuttgart sowieso. Er schaffte es mit einem äußerst wirren Vortrag, der mich zwischenzeitlich an seiner Gesundheit zweifeln ließ, den gesamten Saal gegen sich aufzubringen, was er mit lautstarken, noch verwirrter daherkommenden Worten konterte. Einige packte das Fremdschämen, andere hielten sich die Ohren zu oder verließen, so wie ich, panikartig vorübergehend den Saal. Aua, was war das denn? Doch es verfehlte seine Wirkung nicht. Dem Antrag der von "den Selbstdarstellern genervten" Dame wurde mit fast 61 Prozent stattgegeben. Aus die Maus, genug geredet. Oder zu viele kritische Fragen, die nun ja auch nicht mehr beantwortet werden mussten?

Bis auf die Stelle hinter dem Komma glich das Ergebnis der ersten Abstimmung vom Mittag, nur andersherum. "Copy-und-Paste-Fehler", diagnostizierte ein Nebensitzer gleich vorlaut. Kommt schon mal vor. Die Wahrscheinlichkeit, dass bei zwei Abstimmungen über völlig unterschiedliche Inhalte und bei unterschiedlicher Gesamtstimmenzahl zweimal exakt die gleichen Prozentzahlen herauskommen, die ist in der Tat bestimmt sehr gering. Dem hinter mir sitzenden Bruddler reichte es nun. "Zwoimal des Gleiche, Ihr willet uns verarsche. Des is ja schlimmer als in Nordkorea!" Das allgemein aufkommende Raunen ob dieses Zahlenzufalls wurde jedenfalls durch andauernden Applaus nicht nur der "Jubelperser vom Aufsichtsrat" schnell im Keim erstickt. Vielen Leuten hat's nach dem Hück einfach gereicht mit der Diskussion. Schade. Bestimmt habe nicht nur ich mich in diesem Moment gefragt, inwieweit man der Technik und diesen elektronischen Abstimmungsergebnissen überhaupt trauen kann. Egal. Jetzt noch die Pause und dann sollte es schließlich ans Ausgemachte gehen: Den einzigen Präsidentschaftskandidaten wählen oder auch nicht.

Der Kandidat, Wolfgang Dietrich, das sollten Auswärtige zuvor wissen, hat in Stuttgart bei vielen nicht den besten Ruf. Das hängt vor allem mit seiner langjährigen Funktion als Projektsprecher für das Bahnprojekt Stuttgart 21 zusammen, in der er die Kritiker nicht gerade mit Samthandschuhen anfasste. Er habe vollkommen unnötig und übertrieben polarisiert sagen die einen und viele nennen ihn deswegen "Spalter". Dass die Stuttgarter Bürgerschaft ob dieser Thematik immer noch tief gespalten ist, darf getrost als Tatsache angenommen werden. Aber jetzt Herrn Dietrich allein dafür verantwortlich zu machen, das scheint mir etwas übertrieben. Ich kenne ihn nicht und man muss ja nicht immer gleich das Schlechteste von jemand denken. Und ein spekulatives Immobilienprojekt mit U-Bahnhof ist ja auch nicht mit einem Fußballverein zu vergleichen. Auf den ersten Blick jedenfalls.

Und das hat mit Dietrichs unternehmerischer Tätigkeit in der Vergangenheit zu tun, der zweite Grund, warum ihn viele Vereinsmitglieder im Vorfeld kritisch beäugten. Dieses nach Dietrichs Ausscheiden im Sommer nun von seinem Sohn und anderen geführte Unternehmen mit dem Namen "Quattrex" ist mit verschiedenen Gesellschaften unter anderem auf die Kredit-Finanzierung von klammen Fußballvereinen spezialisiert, die, wenn man den in der Presse kolportierten Zahlen glauben darf, eine ganz anständige Rendite abwirft. Unter anderem spielen dabei Vereine eine Rolle, mit denen der VfB direkt konkurriert. Die DFL sieht deswegen keinerlei Interessenskonflikt. Einige Kritiker jedoch sehr wohl.

Vor der Wahl hatte dann schließlich der Kandidat noch das Wort und die Gelegenheit das eine oder andere in dieser Hinsicht auch im eigenen Interesse klarzustellen. Nach anfänglichen Pfiffen und Spalter-Rufen beruhigte sich die Szene und er hielt eine lange Rede ... und er sagte leider: Nichts. So etwas mit auf die Jugend setzen, Kontinuität, klare Kante. Finanzierung nachhaltig sichern usw. Alles klar! Was solche Kandidaten wie auch Politiker eben so sagen, wenn sie nicht allzu konkret werden wollen oder können. Ich war maßlos enttäuscht. Ich hatte mir vorher erhofft, dass er irgendetwas sagt, was nach Neuanfang klingt und ihn mir sympathisch machen könnte. So nach dem Motto: "den Saustall erst mal ordentlich ausmisten, die Vergangenheit schonungslos analysieren und keinen Stein auf dem anderen lassen, rollende Köpfe usw." Neuanfang eben. Oder wenigstens irgendein schlüssiges Konzept, das über die Standards mit der Floskel "Junge Wilde" hinausgeht. Niente! Er sagte leider auch nichts zu den im Vorfeld unterstellten Interessenskonflikten wegen seiner Quattrex-Vergangenheit.

Obwohl ich mir vorher noch ganz sicher war, dass er ohnehin gewählt wird, bekam ich dann doch Zweifel. Warum sollte jemand einen Präsidenten wählen, der genauso konzeptlos dasteht, wie seine zwei Vorgänger, die bekanntermaßen grandios scheiterten. Ganz zum Schluss seiner Rede machte er dann dazu noch einen großen Fehler. Er thematisierte zum Ende völlig unnötigerweise die für die Zukunft angeblich alternativlose Ausgliederung der Profifußballabteilung - ein Reizthema, bei dem die Ultras und konservative Vereinsmitglieder gleichermaßen empfindlich reagieren. Gewählt wurde er dann doch, mit einem äußerst mäßigen Ergebnis von 57,2 Prozent. Keine gute Basis für einen, der in der Rede angekündigt hatte, dass er wie Christian Gentner als Kapitän „eine Mannschaft zusammenhält, sie eint, wenn es Streit gibt, Interessen Einzelner ausbalanciert, sie motiviert, sie tröstet, Gräben zuschüttet und Brücken baut.“ Da hätte selbst Super-Gente keine Chance, wenn fast die Hälfte der Mannschaft ihm die Gefolgschaft versagt.

Dass Dietrich dem zuvor bereits genannten Kritiker Christian Prechtl nach der Wahl die Gratulation per Handschlag verweigert haben soll, wie dieser es beschreibt und ihn dazu mit dem Titel "Drecksack" beleidigt habe - das war dann sein zweiter großer Fehler an diesem Tag - das trug auch nicht zur Stärkung seiner Position bei. Genauso wie der Umstand, dass die in der Folge mit großer Mehrheit abgelehnten Satzungsänderungen eine zukünftige Ausgliederung in weite Ferne rücken lassen.

Die Spaltung des Vereins macht sich angesichts dieses Umstands nicht allein an der Person des Präsidenten fest, sondern an dem Kalkül, das der Aufsichtsrat mit Dietrichs Wahl sowie mit den Satzungsänderungen verknüpfte. Es gibt auf der einen Seite den VfB der Mitglieder und Fans, die den roten Brustring tatsächlich "im Herzen tragen" und auf der anderen Seite den VfB der Konzerne und Sponsoren mit knallharten, wirtschaftlichen Interessen, die den Verein nur als Geschäftsvehikel zur Markenkommunikation betrachten und die Fans nur als zahlende Kunden oder Umsatzfaktor. Das sollte nach dieser Mitgliederversammlung jetzt eigentlich jeder begriffen haben. Auch, dass es einfach nicht reicht, wenn sich nur etwa 6 Prozent aller Mitglieder dorthin bemühen. Es gibt viel zu wenige "Drecksäcke" in diesem Verein, die das Maul aufmachen, wenn es die richtige Zeit dafür ist: Und zwar auf der Mitgliederversammlung! Die nächste wird nicht lange auf sich warten lassen. Also ihr "Drecksäcke", kriegt beim nächsten Mal gefälligst den Arsch hoch!