Warum?

Warum gehen wir zum Fußball, obwohl wir wissen, wie es ausgeht? Gerade für Propheten scheint das eine extrem relevante Frage zu sein. Wie gewohnt, hat das prophetische Bulletin des 22. Spieltags Antworten auf wichtige Sinnfragen.

Die Sinnfrage. Muss auch mal sein. Gelegentlich biegt sie unvermittelt um die Ecke, einfach so. Je schlechter der eigene Verein spielt, um so öfter. Dann fällt sie mit aller hermetischen Trostlosigkeit ins Stadion und sagt: „Hallo, ich bin’s: Deine Sinnfrage.“ Das mit der Höflichkeit ist aber auch gleich wieder vorbei. Die Sinnfrage macht keine großen Umschweife. Sie kommt erbarmungslos zum Punkt. Die alte, bohrende Stimme: „Was machst Du eigentlich hier? Ist doch nur Fußball.“

Als Fan des VfB Stuttgart wird man von der Sinnfrage ständig auf dem falschen Fuß erwischt. Und das schon seit mehreren Spielzeiten. Und trotzdem erscheinen runde 60.000 zum Freitagabendspiel, um unter wenig wohltemperierten Umständen eine Niederlage mit Ankündigung zu verfolgen. Zugegeben, ungefähr 15.000 Zuschauer waren mit schwarz-gelben Farben angereist. Die muss man abziehen, wenn man der Sinnfrage auf den Grund gehen will. Aber es ist nicht so, dass die Dortmunder diese Situation nicht auch erlebt hätten, sogar mehrere Spielzeiten lang, und damals, als es dem BVB noch schlecht ging, also zweitligaschlecht, waren sie alle m Westfalenstadion erschienen. Trotzdem. Das gilt auch für alle anderen Fans. Die Bremer wissen, wovon die Rede ist. Sie gewinnen in dieser Saison erst seit sie den Dutt wieder in den Süden geschickt haben. Hamburg, Köln, Hannover, Freiburg ecetera pe pe - alle wissen, wie unvermittelt die Sinnfrage auftaucht – und zwar genau dann, wenn man volles Gewicht auf dem falschen Fuß steht. Fans aller Farben kennen das. Bayern natürlich ausgenommen. Aber ausgerechnet aus München wird mir berichtet, dass die Stimmung in der Betonschüssel gar nicht so gut sein muss.

Komisch eigentlich. Am einzigen Platz, an dem der Sinnfrage ein regelmäßiges Erfolgserlebnis entgegengeschmettert werden könnte, ausgerechnet an diesem Platz soll die Stimmung nachlassen. Sagt mein Cousin, ein Bayern-Fan, der oft vor Ort ist. Komisch. Stimmt es doch, das Hornby-Diktum, wonach die wahre Natur des Fußball-Fans das Leiden sei? Richtig: das Leiden. Nicht: die Leidenschaft.

Und wenn das also stimmt, hab ich mir gedacht, wenn das wahre Wesen des Fans das Leiden ist, dann, hab ich mir gedacht, muss ich nicht weit reisen, um der Sinnfrage auf den Grund zu gehen. Wer sollte denn bitte mehr leiden als der Tabellenletzte der Bundesliga, als die Mannschaft, die in dieser Saison mickrige vier Punkte zu Hause geholt hat. Sonst alles verloren. Alles. Und trotzdem erscheinen 45.000 VfB-Anhänger an einem eisigen Freitagabend im Stadion. Warum kommen die alle?

Sepp Herberger wird das Zitat zugeschrieben, dass die Leute ins Stadion kommen würden, weil sie nicht wissen, wie es ausgeht. Mal abgesehen davon, dass nicht alle Zitate, die Herberger zugeschrieben werden, auch von Herberger sind, halte ich die Erklärung im Falle des VfB für unzureichend. „Sie wüßten nicht, wie es ausgeht?!“ Das ist doch gelacht. Natürlich haben alle gewusst, wie es ausgeht. Die Buchmacher zahlten bereits Quote 5 für einen Heimsieg. Aber man musste kein Buchmacher sein, um zu wissen, wie es ausgeht. Eine Dauerkarte hätte ebenfalls zur Erkenntnis verholfen. Sogar ein einmaliger Besuch eines VfB-Spiels in den letzten drei Jahren hätte gereicht, um zu ermessen, dass der VfB null Chancen besaß gegen eine wiedererstarkte Borussia. Und trotzdem waren runde 45.000 in weiß-roten Farben erschienen. Um den eigenen Verein verlieren zu sehen?? Das ist nicht rational zu erklären, oder?

Nun, ich will die Sinnfrage gerne auflösen. An dieser Stelle. Und zwar mit empirischem Beweismaterial.

Warum gehen diese Menschen ins Stadion?
Antwort: „Weil sie die Realität verdrängen“

Der ungarische Philosoph Peter Esterházy hat es in zeitloser Schönheit zusammengefasst als er feststellte: »Fußballfan sein bedeutet um die realistischen Möglichkeiten seines Vereins zu wissen, aber davon abzusehen.« Im Grunde ist dem nichts hinzufügen. Nichts – mit einer Ausnahme: der Beweisführung. Und wo könnte ich sie besser abgelesen haben, als am Freitagabend im Neckarstadion? Da ich wußte, wie es ausgehen würde, habe ich mich auf den Freund konzentriert, der hinter mir sass - ein VfB-Fan durch und durch. Ein freundlicher, mindestens. Mitglied des Fanklubs Courage. So genannt nach einer Gerlinger Kneipe. Ich bin auch Mitglied. Nennen wir den Freund der Einfachkeit halber Kurti, er heißt anders, aber ich wahre die Persönlichkeitsrechte. Unser lieber Kurti ist ein Fan wie jeder andere auch. Oft ist er still. Niemals ausfallend. Aber eben engagiert. Und hoffnungsfroh, bevor es los geht. Wie viele der 45.000 Zuschauer hatte auch er die Realität komplett verdrängt. Wie aus dem Protokoll hervorgeht, nahm auch er in der Hoffnung Platz, der VfB könnte ausnahmsweise gewinnen, entgegen allen Erwartungen, in Missachtung von Spielweise und Buchmacherquote. Darum nutze ich die Gelegenheit, seine Kommentare zu notieren. Um die Lösung der Sinnfrage empirisch zu belegen

(Vorletzte Bemerkung: Kurti ist Schwabe. Für den Schreiber wird es an dieser Stelle schwierig. In Schwäbisch schreiben ist eigentlich verpönt und wird gerne unlustig, weil die 26 Buchstaben, die zur Verfügung stehen, den Sing-Sang der Schwaben nur unzureichend wiedergeben. Das Ganze in Hochdeutsch zu übersetzen, funktioniert leider auch nicht. Alle Zwischentöne gehen verloren. Daher notierte ich Kurti's Kommentare auf Schwäbisch – auch wenns irgendwie doof ist. Das kleinere Übel.)

(Übrigens: Kurti hat die Angewohnheit, seine Spielanalysen hintereinander zu wiederholen, meist mehrmals, mehrmal, mehrmals, das gebe ich nur ungefähr wieder. Ich schrieb also alles auf - nur die fanklubinternen Dinge, und die Tatsache, dass sein Sitznachbar auf seine Hose geascht hatte, das habe ich weggelassen)

Protokoll, Kommentare Kurti, VfB Stuttgart gegen Borussia Dortmund, 20.2.2015

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Schiedsrichter Aytekin pfeift die Begegnung an.

Im Mittelfeld glei onder Druck setza. Glei Druck macha. So isch recht.

Der kann nix. (zum Dortmunder Spielzug)

Glei a Gelbe zeiga. Glei al Gelbe, damit des mol klar isch.

(Singt den Chor der Ultras mit:) So lange ich hier im Stadion bin, wird auch meine Fahne weiter wehn (dann hört Kurti wieder auf zu singen)

(Schon wieder stimmt Kurti ein:) Auf geht’s ,Jungs aus Cannstatt. Hey, Jungs aus Cannstatt. Auf geht’s Jung’s aus Cannstatt (Kurti lässt den Stuttgarter Chor alleine weiter singen)

Hey, jajajajaja, genau so ischs (Kurti lobt eine gelungene Stuttgarter Aktion)

Mir spielat offensiver, i merk des.

Hey, drei Meter abseits!

Mensch, wie falsch steht denn der? Und trotzdem tuder wenka. (zum Linienrichter)

Sehr gut. Ja ja ja. .... Aus.

Mensch, der Harnik, der geht ja überhaupt net.

Heeeeeee. Das isch a Foul. Der Aytekin. Des isch Gelb. Jaaaaaa. Gelb. So isch es.

Abber mir spielat heut offensiver, ich habs em Gefühl.

Mensch, der Aytekin, der pfeift grundsätzlich gega ons. Grundsätzlich. Grundsätzlich.

Abseits. Abseits. Abseits.

Au Mann, bei ons brennts emmer glei, wenn do a Flanke kommt.

(Zu Ulreich beim Abwurf) Mensch, des dauert emmer so lang.

Abseits, Abseits, Abseits. I habs genau geseha. Deshalb brauchte mir jetzt a Tor.

Au, des gfällt mer jetzt scho widder gar nemme.

Jawoll, Niedermayer, Klasse. Mensch, der Niedermayer, des isch halt oiner.

(Früh gestoppter Angriff des VfB) Au, schad, des isch scho widder so wia letscht Woch en Hoffaheim, oifach zwenig oifach zwenig.

Menschenskinder, Niedermayer, jetzt spielt der scho widder zom Torwart zrück.

So ein Penner, der Hlousek, emmer henda dran, emmer henda dran.

Aber der Ivorer isch klasse. Der Ivorer, woisch.

Da. Der Ivorer kann was. Der gibt Gas. Der gfällt mir.

Wia hoißt der eigentlich der Ivorer? Dei? Die? Di? Wie hoißt der? Was?

Dié? Aha.

Egal, der kann was, der Ivorer.

Spiel vor! Spiel vor! Auf da Harnik. Der mach se nei.

(Im Gegenzug erzielt Dortmund das 1:0. Kurti bleibt ruhig.)

Doa sieht der abber schlecht aus, der Gruezo. Do sieht der schlecht aus, der Gruezo. I geh jetzt soiacha. (Nun, hier wurde die etwas derbe Variante gewählt, für den Sachverhalt, dass Kurti mitteilte, er würde die kleine Notdurft verrichten. Da er sich gleich noch eine Bratwurst holte, kam er erst wieder nach dem überraschenden VfB-Ausgleich wieder zurück an den Platz)

Doch, I han’s geseha. I ben oba stand blieba.

Hau doch den Ball einfach vor, Sakai

Der Sakaiiiii. Der Sakaiiiii. Der Sakaiiiii.

Der gfällt mir, der Ivorer, der isch drbei.

(Als Klein einen Ball verdaddelte) Auf geht’s. Mitmacha, wenn mer net absteiga wellat.

Scheiß Aytekin, der isch doch scho lang glega, bevor was war.

(Dortmund erzielt das 2:1)

Des isch z’oifach. So derfat mir koi Tor kriega. Des isch z’oifach. Des isch z’oifach. On do hat der Ivorer jetzt abber au schlecht ausgeseha.

Mensch, ond jetzt grad, wo mer dran warat. War des der Gündogan?

Oooo. Der Harnik lauft so gut wie gar net.

On der Hlousek, der muss doch do no geha.

Bo, dann gewennat mr halt drei zwoi.

(Zwanzig Sekunden bevor Aytekin zur Halbzeit pfeift)
Dann gehmer halt mit am Rückstand end Pause.

(Mit dem Halbzeitpfiff:)
Muss mer met hinta liega. Muss mer met hinta liega. Muss mer met hinta liega. Muss mer met hinta liega.

(Aytekin pfeift die zweite Halbzeit an)

Ah, was isch en des schon widder? Des isch doch koi abseits!

Au, Mensch, des isch doch au scho widder grenzwertig.

Der Ivorer, der gfällt mer scho. Abber beim Gegator hatter net so guat ausgeseha.

Mensch, des gibt’s doch net, des isch doch net so a schwerer Ball gwä.

Ah, en oifacha Bauratrick ond scho semmer ausgschbielt.

(Stevens wechselt Leitner für Gruezo) Der Leitner, des kann i net nachvollzieha, den Wechsel. Gut, der isch a bißle offensiver. Abber der kann doch net kicka.

Was war denn des? Des isch doch koi Freistoß!

Bo. So granataschlecht wia mir sen.

Des isch doch oifach dilletantisch wie mir da verlierat

Der Harnik steht doch total falsch. Total.

Ohne Not, wia mir dia Bäll verlierat.

Ohne Not. Ohne Not. Ohne Not. Ohne Not.

Beim Leitner muasch bloß dr Körper nei stella, no macht der gar nix.

On der Hlousek macht scho widder den Ball kabutt. Emmer wenn der nach vorna schpila will, isch der Ball kabutt.

Jeden Ball en der Vorwärtsbewegung. Jeden Ball.

Jeden Ball.

Doa kommt oifach zwenig. Oifach zwenig.

Alles auf Zufall. Doa isch koi System erkennbar.

Alles auf Zufall. Alles, was mir macht. Alles auf Zufall.

Ond mir laufat oifach hinterher.

Guck, bei denne lauft dr Ball. Ond bei ons net.

Alles auf Zufall. Des isch so schlimm. Alles auf Zufall.

Die erste fünf Minuta warat okee.

Ojeojeojeoje.

Mir laufat bloß hinterher. Bloß hinterher.

Blind nach vorna. Blind nach vorna.

I glaub der Harnik muss jetzt raus, do geht gar nix me.

Do geht absolut nix me. Absolut nix.

Brotlose Kunst.

Sem mir eigentlich scho mal vor am Tor gwä en der zweita Halbzeit?

Kämpfa dean se ja, aber sia kennat oifach net me.

Des isch so schlecht, Leut, des isch so schlecht.

Jonger, isch des schlecht.

Isch des a Gegurge.

Ham mir eigentlich en dr zweita Halbzeit scho a Torchance ghabt?

Harnik! Muasch uf dei Haarbendele gucka.

Nur auf Zufall. Nur auf Zufall. Nur auf Zufall.

Woisch, bei de Dortmunder geht grad au net me. Aber dia send halt zwei eins vorna, des ischs Problem.

Ich glaub mir missat ons mit Montags abfinda. Do geht koi Weg dran vorbei.

Kann mer eigentlich glei in die dritte Liga absteiga?

Jungs, mir steigat ab. Do führt koi Weg dran vorbei.

Also wenn mehr ehrlich isch. En dr Bundesliga hen mir doch nix verlora. Doa missa mer gar net lang rommacha.

(Aytekin pfeift ab)Mensch, isch des troschtlos.

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Propheten aus außerschwäbischen Gefilden mögen aufatmen. Nach so viel profunder Erkenntnis aus der Kurve des Neckarstadions geht es weiter in der gewohnten Diktion, mit der Würdigung des neuen Tabellenführes.

Und schon geht es wieder ins Herz des Schwäbischen, in die schöne Gegend, die direkt unter der Burg Hohenzollern liegt. Dort kümmert sich Christoph Michaelidis um sein Unternehmen CM Security, wie ich vermute, vor allem damit es Gewinn abwerfe, den er in den ambitionierten Landesligisten TSG Balingen stecken kann. Wie durch Zufall sah ich am Saisonbeginn den 3:0 Auswärtssieg der TSG in Reutlingen. Ich recherchierte eine Geschichte von Ultras in der Landesliga. Allerdings waren es die Reutlinger Ultras, die nicht sonderlich erbaut waren, ob der routinieren Spielweise der Balinger Mannschaft. Unser neuer Tabellenführer Michaelidis hat im Moment einen Lauf. Die TSG Balingen hat sich auf den zweiten Platz der fünftklassigen Oberliga Baden-Württemberg vorgespielt - und er selbst hat an diesem Wochenende die Tabellenführung in unserer Liga übernommen. Ich verneige mich tief und verlinke gerne die Meldung der TSG-Homepage, die anlässlich der Verlängerung des Sponsorings das Unternehmen und den Propheten Michaelidis vorstellt.

Alle anderen Propheten schöpfen trotz überragenden 114 Punkten unseres führenden Propheten Hoffnung. Hinter dem Tabellenzweiten Marvin Burmester führt Peter Brenner ein dichtes Verfolger an. Der Tabellenelfte Andreas Wilkens befindet sich nur 2 Punkte hinter dem Tabellendritten Peter Brenner. Es bleibt spannend.

Das Bulletin schließen möchte ich mit der Erkenntnis, dass man auch abseits der großen Fußballtempel prächtig leiden kann. Mit der Abordnung des fischlabors war ich am Samstag beim Drittligaschlager Stuttgarter Kickers - Arminia Bielefeld zu Gast. Die Kickers haben eine neue Hauptribüne eingeweiht. Die Fans spannten ein Banner über die gesamte Gegengerade: "In die Heimat kehr'nwir wieder, dieselbe Luft, dieselben Lieder“ stand darauf. Direkt darunter stand die Abordnung des fischlabors. Selbe Stadt, ähnliches Ergebnis. Wir sahen ein 0:2. Nach der Hornby-Doktrin sind wir selten näher am wahren Wesen eines Fans gewesen, als an diesem Wochenende in Stuttgart.

Hier drunter waren zu finden... (danke fürs Bild an www.turus.net)

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... nicht wenige Propheten (Danke für die freundliche Überlassung des fischlabor-Selfies):

tl_files/propheten_dark/stories/Blogpics/15 Blog im Februar/Fischlabor Selfie.jpg

Bildunterschrift: Links der Tabellenzwanzigste Kickers-Fan Ralf Ambrosius. Rechts unten, unter der Mütze der prophetische Tabellenfünfundzwanzigste Markus Herrmann. Über ihm, fast versteckt der tabellenvierundneuzigste Prophet Frank Eppler. In der Mitte meine Wenigkeit, Rang Achtundsiebzig. Rechts neben mir Michael Hammelehle, der Einundsechzigste in unserer Tabelle, darunter der Tabelleneinundvierzigste Hannes Krauß-Caesar. Herzlichen Dank Euch allen, ein feiner Nachmittag.

Und ganz zum Schluß noch ein Schmankerl, welches beweist, das südamerikanische Spieler am Freistoßspray einen klaren Vorteil haben. David Luiz zeigt uns, dass die Realität der Linie nicht unverrückbar ist.