Was ist eigentlich ein Traditionsverein?

In der Diskussion Traditionsvereine vs. Retortenklubs ist schon mancher pseudointelligente Beitrag geschrieben worden. Da kommt's auf einen mehr oder weniger auch nicht mehr an.

Richtig entbrannt ist die Debatte freilich erst in dieser Saison - seit Leipzig und Hoffenheim nachgewiesen haben, dass sie in der Tabelle nicht nur vorne stehen, sondern auch vorne bleiben können. Was den Anderen bleibt, ist ihre Tradition, auf die sie gerne verweisen. „Eingetragener Verein“ konnte man an diesem Wochenende auf den Zaunfahnen der Fanblocks von Schalke und Nürnberg lesen. Das ist nicht nur ein Hinweis auf ihre Organisationsform, sondern auf das, was den Fans bleibt, wenn die Ergebnisse keinen Anlass mehr liefern, stolz auf die eigenen Farben zu sein. Wie gut, dass eine Tradition da ist, für die keiner dieser Fans etwas kann.

Ein unglücklicher Zufall hat dazu beigetragen, dass ich als Bulletinschreiber in den letzten Tagen plötzlich selbst mit dieser Diskussion befaßt war. Ein befreundeter Sportwissenschaftler wollte von mir eine Skala von eins bis fünf bestätigt haben, mit der er unsere Profivereine bezüglich ihrer Tradition einordnet. Fünf für absoluter Klassikerverein. Eins für dynamischen Emporkömmling. Weil ich ahnte, dass diese Zuordnung keine Subjektivität zulässt, legte ich seine Mail erstmal entschlossen beiseite.

Alle außer Leipzig.

Aber es hilft ja alles nichts. Kein Fortschritt ohne Wissenschaft. So schwer sollte es ja auch nicht sein in diesem Fall zu assistieren, also ran an die Tradition. Zumal die Lage in der Bundesliga relativ klar erscheint. Alles Traditionsvereine außer Leipzig, dachte ich und ahnte, dass in der allgemeinen Debatte auch Hoffenheim, Ingolstadt und vielleicht noch die Werksklubs Leverkusen und Wolfsburg nicht unbedingt als Urgesteine zu klassifizieren sind. Trotzdem war ich zufrieden. Das war ein konstruktiver Anfang. Darauf kann man aufbauen. Zufrieden war ich so lange, bis meine Freunde aus dem Kraichgau sich in meinem schlechten Gewissen meldeten: „Moment mal“, protestierte ein Hoffenheim-Fan, „unsere TSG wurde 1899 gegründet, das sollten auch wissenschaftliche Hiwis wissen.“ Es bestätigte sich schnell: Man benötigt objektive Kritieren für eine wissenschaftliche Klassifizierung - und das Gründungsdatum ist das erste, das dafür definitiv ausscheidet.

Man muss ja auch andere Vereine berücksichtigen. Leverkusen, zum Beispiel, ist ja auch eine 04-Gründung. Und zwar eine echter 04-Gründung, keine falsche wie der FC Ingolstadt 04, bei dem das 04 für 2004 steht. Ich überlegte, ob ich das Thema mit der Gründung der Fußballabteilung lösen könnte. Dieser Gedanke fühlte sich gut an, zumindest für kurze Zeit. In dieser kurzen Zeit dachte ich an Bochum, die zwar 1848 im Wappen führen, aber erst viel später zum Fußball fanden. Ich erinnerte mich an Heidenheim, deren Fans die Jahreszahl 1846 auf den Bannern tragen, aber damit einen Vorvorvorvorläufer des 1.FC Heidenheim adressieren, der 1846 sicherlich noch keinen Ball traf, weil es damals noch gar keinen gab. Nicht auf der Ostalb und nirgends anders. Tradition ist viel mehr, wenn die Fußballabteilung gegründet wurde. Arbeitshypothese.

Aber bevor ich meine Idee zu Ende formulieren konnte, meldet sich erneut eine Stimme aus dem Kraichgau „Bei uns haben sie schon in den Zwanzigern auf dem Dorfacker gekickt.“ Mir war schnell klar, dass ich die Freunde aus Hoffenheim unmöglich den Traditionsklubs zuschlagen konnte. Die alte Geschichte mit dem Dorfacker war von der TSG-Marketingabteilung nur ausgegraben worden, um die öffentliche Diskussion zu überlisten. Dieser Finte konnte ich im Namen der Wissenschaft unmöglich auf den Leim gehen. Und tatsächlich: Würde man die gefühlten Traditionsvereine nach Gründungsdaten ihrer Fußballabteilungen einordnen, ergäbe sich ein schiefes Bild. Man müsste Phönix Karlsruhe und den Karlsruher FV nennen, den 1.FC Pforzheim, den VfB Leipzig, Holstein Kiel, den BFC Germania 1888 Berlin und andere, die heute schon nicht mehr existieren. Zur aktuellen Diskussion wäre das ein absolut unbrauchbarer Beitrag. Nein, den Ansatz mit den Gründungsdaten verwarf ich, bevor ich ihn zu Ende dachte.

Die Grundsatzfrage

Sie lautet: Kann es sein, dass die Definition eines Traditionsvereins überhaupt nichts mit seiner Tradition zu tun hat? Die Indizien häufen sich. Gehen wir die gefühlten Traditionsvereine in der ersten Bundesliga durch. Werder und der HSV aus dem Norden, Hertha natürlich, Dortmund, Köln, Schalke, Mönchengladbach vielleicht, Frankfurt, Stutt… (error, erste Bundesliga!), Bayern aus dem Süden. Warum bleiben eigentlich Mainz, Augsburg und Freiburg auf der Strecke? Das lässt sich tatsächlich erklären, wie ich meine. Und zwar wie folgt: Viele von uns, Propheten sowieso, sind zwischen den 60ern, 70ern und 80er mit dem Fußball sozialisiert worden. Wenn wir die politische Besonderheit der DDR einmal kurz außer Acht lassen, richtet sich das allgemeine Empfinden weitgehend sportlichen Erfolgen - und zwar nach den Erfolgen in den Zeiten, die wir als Jugendliche erlebt haben. Als mit der Bundesliga der Boom in Deutschland einsetze, entstand der kleine Kanon an Namen, die wir heute als Traditionsvereine betrachten. Mönchengladbach und Bayern stiegen 1965 gerade noch rechtzeitig auf. RW Essen, Offenbacher Kickers und der 1. FC Saarbrücken schieden im Laufe der Jahre aufgrund anhaltender Erfolglosigkeit aus diesem traditionellen Kanon aus.

Beseelt von diesen Gedanken murmelte ich ein leises „Heureka“. Ich ahnte, dass man meine gedankliche Leistung an dieser Stelle nicht klein reden konnte. Mir war nichts weniger gelungen als das erste vernünftige Traditionsvereinstheorem. Ich sah mein Konterfei bereits mit Einstein-Frisur auf T-Shirts. Einer steilen wissenschaftlichen Karriere sollte eigentlich nichts mehr im Wege stehen.

Was ist jetzt mit Bochum?

Mit Duisburg und Düsseldorf? Mit Bielefeld und Aachen? Mit Hannover und Braunschweig? Mit Karlsruhe und Fürth? Wie viel oder wie wenig Tradition haben diese Vereine auf einer Skala von 1 bis 5? Ich blätterte in meinem ungeschriebenen Traditionsvereinstheorem. Aber eine verbindliche Antwort war nicht zu finden, kein valides Kriterium, keine halbwegs wissenschaftliche Regel - und ehrlich gesagt, je länger ich mich damit beschäftigte, desto weniger hatte ich eine konstruktive Idee dazu.

Darum kündige ich hiermit meine freiwillig gewählte Stelle als wissenschaftlicher Hilfswissenschaftler. Auf dem langen Weg Richtung Einstein versage ich schon vor dem ersten Schritt. Völlig ohne wissenschaftlichen Anspruch stelle ich kraft eigenem Gefühl fest:

1.) Im Zweifel ist der gefühlte Traditionsverein immer der Eigene.
2.) Retorte, Kunstprodukte und Emporkömmlinge sind immer die Anderen.
3.) Tradition als argumentative Größe war noch selten hilfreich.
4.) Die Diskussion über Traditionsvereine vs. Retortenklub ist irgendwie doof.

Meine letzte Hoffnung besteht nun im prophetischen Expertenkreis. Wenn mir jemand weiterhelfen kann, vielleicht mit einem ungeheuerlich konstruktiven Widerspruch, dann vielleicht ein Prophet aus unserem erlauchten Gremium. Ich verspreche Ruhm, Ehre und T-Shirts mit Einstein-Aufdruck, mindestens. Und freue mich im Namen der Fußballwissenschaft auf sachdienliche Hinweise.