Was übrig bleibt

Flaneursalon, Fanproteste, Corona - ein Mainstream-Bulletin zur aktuellen Lage. Gesundheit allerseits.

Welch Ehre! Am Wochenende durfte ich an einer Show teilnehmen. Ganz ohne Scheiß: Eine echte Show mit Bühne und grellen Strahlern. Ich befand mich unter richtigen Künstlern. Musiker waren dabei, denen hohe Weihen zuteil wurden und Autoren, die wirklich was zu sagen haben. Ich hatte auch meinen Part, der Provinzkicker aus Aurich. Lebende Sollbruchstelle des Programms. Flaneursalon heißt die Reihe, die der wunderbare Autor und Stadtspaziergänger Joe Bauer bereits vor vielen Jahren eröffnete. Diesmal sollte es um Fußball gehen. Aber nur ein bisschen, schließlich hat der Salon anspruchsvolles Publikum. Darum reduzierte ich gerne meine Ausführungen aufs Wesentliche am Fußball, also auf das, was im Kern an philosophisch tauglichen Gedanken bleibt, wenn man die grundlose Begeisterung weglässt und aufs kulturell Wertvolle an der Kickerei verdichtet. Ich sezierte meinen Textfundus auf die wahrhaft einleuchtenden Momente - auf der Suche nach Argumenten, die nachvollziehbar machen, dass Fußball eine tolle Sache ist.

Übrig bleibt: Nichts.

Meinen Vortrag begann ich mit der Mikrophonprobe "Eins, zwei, Hurensohn" in einer Art offensiven Korrektur des Niveaus, das zuvor auf der Bühne vorherrschte. Joe hatte mich in seiner freundlichen Ankündigung als einen "Ball-Poeten" gewürdigt, "der den Fußball von unten betrachtet". Joe ist begnadeter Formulierungskünstler. Ich konzentrierte mich vor allem auf den Aspekt "von unten". Als Stuttgarter lässt sich aus dieser tiefer gelegten Perspektive Unterhaltsames erzählen – was das Niveau betrifft und auch was Bahnhof, Spielweise und Tabellenplatz angeht. Mit einer höheren Idee, die der Fußball verfolgt, konnte ich nicht dienen. Ich musste davon ausgehen, dass jeder im Publikum in der letzten Woche besichtigt hatte, worum es wirklich geht. Die Würde des Milliardärs ist unantastbar. Und falls doch, geht die Bonzenclique aus dem Sattel. Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und das andere ekelige Zeugs wird längst routiniert weg gedenkminutet. Nach der Woche der scheinheiligen Niedertracht lag mein persönlicher Enthusiasmus in Trümmern. Schon blöd, wenn man auf Sinnfrage keine Antwort findet - auf offener Bühne.

Also sprach ich über das Verlieren, das man als Fußballfan aushalten muss. Wie man es erträgt, wenn der eigene Verein verliert. Dabei vertuschte ich geflissentlich meine ursprüngliche Absicht, nämlich den Fußballbetrieb in ein Licht zu stellen, so hell wie die Flutlichter, die mich gerade be- statt erleuchteten. Die vielleicht wichtigste Erklärung, warum wir zum Fußball gehen, hab ich mir allerdings auf der Bühne verkniffen. Sie erschien mir zu banal, nicht unterhaltsam genug. Bei weitem. Sie lautet: Wir gehen eben dahin, weil alle hingehen. Die Begeisterung für Fußball ist demnach ein großes Phänomen, das sich mit Kleinem erklären lässt. Zum Beispiel mit einem italienischen Restaurant im Urlaub. Man wählt doch nicht den Wirt, bei dem nichts los ist. Dort wo die Einheimischen sitzen, muss es gut sein. Wann gehen Sie auf die Tanzfläche? Genau: Wenn sie eh schon voll ist. Leute gehen dorthin, wo Leute sind, die dorthin gehen, wo Leute sind. Und so weiter.

Diese Gedanken schießen mir durch den Kopf am Vorabend des Tages, an dem der Betrieb fast komplett auf Geisterspiele umstellt. Muss man kein Prophet sein. Mal sehen, wie attraktiv die Liga wird, wenn auf den Rängen diejenigen fehlen, die DFB, DFL und andere internationale Verbände verachten, weil das Fernseherlebnis sowieso wichtiger ist. Die spanische Liga hat vor kurzem ihre Vereine angewiesen, bei dürftig gefüllten Stadien die wenigen Zuschauer so zu platzieren, dass sie dort sitzen, wo das Fernsehbild noch hinkommt. Die bunten Sitze in der Düsseldorfer Esprit Arena sind vom selben Gedanken inspiriert. Die Leere möge bitte leise gähnen. Ab nächstem Wochenende sehen wir auch in Deutschland, was übrig bleibt.

Hoffentlich nicht: Nichts.

Vielleicht könnte sich in diesem völlig unbedeutenden Punkt die Coronakrise als hilfreich erweisen. Sie möge allen Beteiligten vor Augen und Ohren führen, was Fußball zur beliebtesten Sportart in unseren Breitengraden macht: die Beliebtheit selbst. Als Prophet würde ich vorhersagen: Der spannendste Meisterkampf der jüngeren Moderne wird vollkommen wertlos. Leider liegt der Vorteil schon wieder auf Seiten der Bayern. Die bemühte Inszenierung einer Meisterfeier können sie sich sparen. Einem besonderen Wunsch eines einzelnen Bayernfans entsprechend will mein Bulletin auch in Corona-Zeiten positiv beenden, daher folgender Gedanke: Wie schön wird es sein, wenn aus 80 Mio. Virologen wieder 80 Mio. Bundestrainer werden. Wir freuen uns jetzt schon darauf.

 

Vielen Dank an Joe Bauer und den Fotografen Timo Kabel, der mich gemeinsam mit Joe abgelichtet hat. In gebannter Erwartung der Show.