Wie geht's? Geht so!

Über das Gehen und den aufrechten Gang.

„Das Geheimnis des Vorwärtskommens besteht darin, den ersten Schritt zu tun,“ sagte Mark Twain angeblich einmal. Keine Ahnung, ob er über die Anatomie und Biophysik des Gehens Bescheid wusste, aber seine Feststellung dazu passt exakt. Der „erste Schritt“ leitet eine der faszinierendsten Fähigkeiten des menschlichen Körpers und eine der wichtigsten Errungenschaften der Evolution des Menschen ein: den aufrechten Gang. Folgt auf den ersten Schritt auch der zweite Schritt, kommt der Mensch vorwärts. Er geht los. Er geht voran. Er kommt in Gang. Lokomotion, nennen Mediziner das, die Bewegung von einer Stelle zur anderen.

Die deutsche Sprache kennt zahlreiche Synonyme für das Gehen: Spazieren, Schreiten, Schlendern, Tapern und Trappen oder Marschieren und Flanieren, um wenigstens einige zu nennen. Und da sich diese Definition der Bewegung, von einem Ort zum anderen, auch auf zeitliche Dimensionen anwenden lässt, gibt es für das Gehen auch noch die Bedeutung des Dauerns. Wenn einem Menschen etwas entschieden zu lang geht, oder gar schon auf die Nerven, hätte er den Gang im zeitlichen Raum, von einem Zeitpunkt zum anderen, manchmal sehr gern schon nach wenigen Schritten abgebrochen, ohne auf das womöglich auch noch bittere Ende warten zu müssen.

Das wünschen sich manche auch für den Fortgang des Lebens.  Aber das ginge zu weit, denn der Gang der Zeit ist unaufhaltsam. Auch wenn es gerade noch so schön ist. Alles schreitet immer weiter voran, bis der Zeitpunkt gekommen ist, an dem es nach unten geht, nämlich beim Abgang, dem letzten Gang, dem letzten Schritt. Steht das Herz still, dann geht nichts mehr. Stillstand. Rien ne vas plus! Wenn gar nichts mehr geht, dann ist sozusagen der Ofen aus oder der Dampf raus, in Sachen Lokomotion. Der Tender leer, die Lokomotive steht und die Lokomotorik ist am Ende. Zugausfall, sozusagen. Man kommt nicht mehr von der Stelle und von einem Ort zum anderen. Das Gehen hat so auch noch die Bedeutung des Funktionierens. Wenn etwas nicht mehr geht, dann steht es. Nur, was noch zu gehen imstande ist, das funktioniert noch und geht weiter, auch mit der Zeit.

Doch viel interessanter, als solche etymologischen Varianten, ist das Wesentliche im Sinne der gängigsten Bedeutung des Gehens – also ganz im anatomischen und biophysikalischen Sinn. Das Gehen an sich. Was so selbstverständlich, unkompliziert und federleicht aussieht, ist tatsächlich gar nicht so einfach und im Grunde genommen, harte körperliche Arbeit. Der Mensch braucht in seinem frühen postnatalen Leben, also wenn nach der Geburt der Gang des Lebens unweigerlich seinen Lauf nimmt, etwa 10 bis 15 Monate, um das Laufen, bzw. Gehen erstmals zu erlernen. Das ist sozusagen die normale Anlaufzeit, um überhaupt in die Gänge zu kommen. Bei manchen geht’s auch schneller und bei anderen auch langsamer. Je nachdem. Zuvor fehlt es dem Menschen und seiner Lokomotorik noch an ausreichend stabilisierender Muskulatur. Und auch die Hirnentwicklung braucht eine gewisse Zeit, um die neuronalen Netze für die willkürliche Nutzung der zum Gehen notwendigen Muskeln zu knüpfen und um das Ganze in Kooperation mit den Sinnesorganen sicher auf die Beine zu stellen.

Es ist das Kleinhirn, diese kleine Dutt-artige Knolle hinten am Großhirn, das hierbei eine zentrale Rolle einnimmt. Es unterstützt mit einer enormen Rechnerleistung das Großhirn bei allerlei Dingen und vor allem die Hirnareale für Motorik, den Motorcortex, der unsere willkürlichen, durch Muskeln ermöglichten, motorischen Bewegungen steuert. Das Kleinhirn übernimmt dabei das Feintuning und die Koordination aller Bewegungen in Kooperation mit dem Gleichgewichtssinn. Nachdem unsere Ur-Vorfahren vor vielen Millionen Jahren anfingen, die Bäume zu verlassen und die Welt fortan auf zwei Beinen zu erkunden, bekam das Kleinhirn einen gehörigen Wachstumsschub. Der Grund ist naheliegend. Das Gehen im aufrechten Gang ist eine sehr komplexe Angelegenheit, an der zahlreiche Muskeln beteiligt sind und bei der es so einiges zu koordinieren gilt. Das verlangte dem im Kleinhirn untergebrachten, erweiterten Arbeitsspeicher alles ab. Also musste es wachsen. Der Gleichgewichtssinn übernimmt zusammen mit den Augen das Navigieren der Bewegungsrichtung vom Start zum Ziel. Rezeptoren an den Sehnen, Muskeln und Gelenken achten darauf, dass die Winkelstellung aller Gelenke von der Hüfte bis zum Fuß den perfekten Bewegungsablauf sicherstellt. Dabei geht es vor allem um Effizienz und um möglichst wenig Energieverbrauch.

Das Optimum liegt in etwa bei einer Gehgeschwindigkeit von 4-5 km/h. Je schneller wir gehen, desto mehr Energie verbrauchen wir und umso schneller ermüden unsere Muskeln. Bei der Schrittgeschwindigkeit von 4-5 km/h kommen wir mit minimaler Muskeltätigkeit möglichst kalorienschonend vorwärts. In der Ebene versteht sich. Geht es bergauf oder auch bergab, müssen ein paar Körner nachgelegt werden. Auch manche persönliche Besonderheit beim Gehen kann den Wirkungsgrad des Bewegungsapparates vermindern. Das Schlurfen etwa, häufige Änderungen der Schrittlängen und unmotivierte Richtungswechsel auch. Die meisten der bei Monty Python vom „Ministry of Silly Walks“ empfohlenen und von John Cleese präsentierten Schrittfolgen sind in Sachen Kaloriennachhaltigkeit eher nicht zu empfehlen. Es sei denn, man möchte dringend auch beim Flanieren etwas für das Idealgewicht tun.

Das Gehen ist per definitionem eine Bewegung im aufrechten Gang, bei der immer einer der beiden Füße den Bodenkontakt hält. Berühren beide Füße gleichzeitig den Boden, nennt man das, ist ja logisch, Stehen. Es gibt aber Ausnahmen. Denn es gibt da noch diese Jugendlichen, die sich aus Solidarität mit den in den USA inhaftierten “Gangstas“ weigern, ihre Hosen mit Gürteln in Hüfthöhe zu fixieren. Im Gefängnis sind Gürtel aus Sicherheitsgründen nicht erlaubt. Dabei hängt der Hosenbund stets etwa auf Höhe der Kniekehle und sie können sich deshalb nur noch auf diese typische, beidseitig schlurfende Art fortbewegen. Dieses Schuhsohlen strapazierende, beidfüßige Schlurfen wird dazu auch noch „Senior shuffle“ genannt. Dafür ist mir leider kein deutsches Wort bekannt. Gemeint ist die häufig bei betagten Menschen zu beobachtende, und an die Tanzschritte beim „Shuffle“ erinnernde, schlurfende Gangart in Minischritten mit hoher Frequenz. Der Begriff wurde von amerikanischen Gerontologen geprägt, die behaupteten, an diesem „Senior shuffle“ ließe sich sehr früh eine beginnende Alzheimererkrankung erkennen. Wie dem auch sei. Also Obacht!

Das beim Gehen einer der Füße immer in Bodenkontakt bleiben muss, ist bekanntermaßen auch das wichtigste Merkmal der olympischen Leichtathletik-Disziplin des Gehens und welches diese von der Disziplin des Laufens unterscheidet. Weltklassegeher erreichen mit ihrem charakteristischen, entenähnlich watschelnden Gang Höchstgeschwindigkeiten von bis zu 14 km/h. Auf der 50-Kilometerstrecke wurden früher zahlreiche Schiedsrichter aufgestellt, die peinlich genau kontrollierten, ob auch wirklich bei allen Gehern immer ein Fuß den Bodenkontakt hält. Mogelnde Geher verschaffen sich bei Missachtung einen nicht zu unterschätzenden Wettbewerbsvorteil. Heute sind die Athleten auf der ganzen Strecke kameraüberwacht und trotzdem werden bei Geher-Wettbewerben immer wieder Geher beim verbotenen Laufen erwischt und disqualifiziert. Die Hochleistungssportart des Gehens hat, rein biomechanisch, nur noch wenig mit dem normalen Gehen zu tun.

Beim entspannten Spazierengehen macht sich niemand eine Vorstellung davon, aber rein biomechanisch betrachtet, ist das Gehen im Grunde genommen eine ziemliche Stolperei. Schuld daran ist der Körperbau. Der Körperschwerpunkt liegt etwas oberhalb der Hüften und des Beckens und in vertikaler Linie gelotet, zwischen den Füßen, knapp vor den Fußknöcheln. Im Becken liegen wie in einer Schüssel die schweren Eingeweide und türmen sich bis zum wesentlich leichteren Brustkorb mit den Lungen hoch auf. Darüber thront noch der schwere Kopf, der beweglich gelagert ist und zum Unwucht erzeugenden Wackeln neigt. Strukturiert und gestützt wird das Ganze von einem knöchernen Skelett, in dem die Wirbelsäule, also das Rückgrat, es ermöglicht, oben herum die aufrechte Haltung zu bewahren. Untenrum sind dafür die unteren Extremitäten, also die Beine zuständig, die ganz unten mit einer gerade mal doppeltfußgroßen Basis enden, auf der das Ganze aufrecht zu stehen hat.  Man kann sich das wie einen Kegel vorstellen. In der Mitte umfangreicher und schwerer und unten sowie oben leichter, gekrönt vom schweren Kopf. Eine ziemlich wacklige Angelegenheit, die sich zum einen mit unseren Armen ausbalancieren lässt und zum anderen mit einem raffinierten Zusammenspiel der Rückenmuskulatur mit der Beinmuskulatur, vom Arsch bis runter zum dicken Zeh.

Größere Fettpolster rund um den Schwerpunkt erschweren das Balancieren dieses Körperkegels ebenso wie eine muskuläre Schwäche, eine Störung der muskulären Nervenbahnen oder eine Fehlfunktion des Gleichgewichtsapparates hinter dem Ohr. Sei es krankheits- oder auch alkoholrauschbedingt. Dann wird selbst das auf der Stelle stehen zur Herausforderung und beim Gehen wird es noch komplizierter. Bewegt sich der gesunde Mensch beim Gehen in horizontaler Bewegung fort, schwingt das fortschreitende Bein, also das ohne Bodenkontakt, muskelbetrieben wie ein Pendel nach vorn. Landet danach der Fuß, mit der Ferse zuerst, wieder auf dem Boden und rollt mit der Sohle langsam nach vorn ab, setzt sich für den nächsten Schritt das andere Bein in Bewegung, hebt den Fuß ab und schwingt analog zum vorherigen Schritt ebenfalls pendelartig nach vorn. Beim Gehen haben nur in einer kurzen Zwischenphase beide Füße gleichzeitig Bodenkontakt. In Zeitlupe beobachtet wird dabei deutlich, dass der Körper sowohl seitlich als auch in der Bewegungsrichtung durch die Schwerpunktverlagerung beim Gehen unweigerlich ins Torkeln kommt und nur der Muskelapparat und die ausbalancierenden Armbewegungen uns darin hindern, wie ein nasser Sack umzufallen. Ein Fuß als Basis reicht in der Vorwärtsbewegung nicht aus. Beim Vorwärtsgehen fallen wir im Prinzip permanent nach vorn um und nur die im Wechsel nach vorn schwingenden, rechtzeitig dort abgesetzten Füße retten den Menschen davor, plump auf die Nase zu fallen. Beim Rückwärtsgehen gilt das ähnlich, nur dass das ungleich schwieriger ist.

Der aufrechte Gang ist trotz dieser im Grunde genommen grotesk anmutenden Bewegungsabläufe ein Wunderding der Natur. Dieses feinabgestimmte System von zusammenspielenden Muskelkontraktionen, das den Menschen zum Zweibeiner machte, verschaffte ihm einen entscheidenden Vorteil gegenüber anderen Säugetieren, die auf vier Beinen unterwegs waren. Sowohl bei der Jagd als auch auf der Flucht. Zweibeiner sind ausdauernder und energieeffizienter unterwegs als Vierbeiner. Nicht nur beim Gehen, sondern auch bei der schnelleren Version, beim Laufen oder Rennen. Dieses folgt grundsätzlich den gleichen biomechanischen Mechanismen wie beim Gehen, nur, dass die Schrittfrequenz dabei höher ist und zwischen den Schritten eine kleine Flugphase eingelegt wird, in der keiner der beiden Füße den Boden berührt. Das Laufen und Rennen birgt jedoch ein wesentlich höheres Verletzungsrisiko, weshalb unsere Urahnen den Dauerlauf und den Sprint mutmaßlich auf den Einsatz bei der finalen Jagdphase sowie der überstürzten Flucht beschränkt haben dürften. Die meiste Zeit werden sie eher spazierend unterwegs gewesen sein.  Ganz entspannt und etwa so, wie es die modernen Wandersleut ihnen heute noch nachtun. In Bewegung zu bleiben, war für die umherziehenden Sammler und Jäger der menschlichen Frühzeit überlebenswichtig. Und das liegt uns auch heute noch im Blut. Gehen hält uns gesund. Und wer noch geht, dem geht’s gut. Auf geht’s!