Deutschland klebt an der Seitenlinie

Nach den alten und jungen Männern sind nun auch die Frauen als letzte Hoffnung des deutschen Fußballs in einem großen Turnier frühzeitig abgeledert worden. Das habe selbst ich mitgekriegt, der sich in den vergangenen Jahren zunächst als Aktiver, dann als Passiver immer mehr vom Fußball entfernt hat. Mein stark nachgelassenes Interesse an dem populärsten Ballsport der Welt hat mannigfache Ursachen. Eine davon wird sein, dass ich mich noch nie als Fußballtheoretiker gesehen habe, schon immer konnten andere Spielgeschehen von außen viel besser lesen als ich. Solange ich noch selbst auf dem Platz stand, konnte ich im Fernseher oder im Stadion besser nachvollziehen, was die Spieler bewegen könnte, so zu handeln, wie sie es tun. Heute nicht mehr. Weil Fußball ein Risikosport ist und ich finde, dass er meinem fortgeschrittenen Alter nicht mehr angemessen ist, wollte ich nicht doch noch Sport- und damit möglicherweise Alltagsinvalide werden, trete ich ihn seit Jahren nicht mehr. Nun ist Fußball zu schauen für mich so spannend wie zwei Schachgroßmeister während einer Partie zu beobachten und darauf zu warten, dass einer von ihnen mal aufsteht oder gar einen Joghurt löffelt.

Noch länger, nämlich gut 50 Jahre, ist es her, dass ich zum ersten Mal ein Punktspiel bestritten habe. Da es damals noch keine F-Jugend gab, mit der 2. D des SV Werder. Wir verloren 0:6 auf dem Schlackeplatz des Polizei SV, unser Torwart weinte bitterlich. Was hat das mit dem ozeanischen Aus der deutschen Frauen und überhaupt mit dem Untergang des deutschen Fußballs zu tun? Damals begann eine Entwicklung, die sich grob als  Entindividualisierung und gleichzeitig Entkollektivierung des Fußballs beschreiben lässt. Diese Entwicklung wird ein globales Phänomen sein, anscheinend aber hat sie in Deutschland eine besondere Note. Die klang in dem an, was Stefan Kuntz anlässlich des Ausscheidens der Männer-U21 aus der jüngsten Europameisterschaft beizusteuern hatte. "Da wird insgesamt viel zu wenig auf Eigenverantwortung gesetzt. Das ist nicht nur ein Fußball-Problem, sondern ein gesellschaftliches", sagte Kuntz im Juni, und zur Ausbildung des Fußballnachwuchses: "Den Jungs wird alles abgenommen, sie müssen selbst gar keine Konflikte mehr lösen. Wenn sie nicht spielen, reden die Eltern mit dem Trainer. Wenn es Probleme in der Schule gibt, gehen die Eltern zum Lehrer."

Mir fällt dazu ein Bild ein aus den Tagen meiner Fußballanfänge. Damals war während eines Spiels der Kleinsten der Ball oft nicht zu sehen, weil ihm bis auf die beiden Torhüter alle Spieler hinterliefen und eine blickdichte Traube bildeten – nur ich nicht. Mein Trainer hatte mich als rechten Außenstürmer aufgestellt und gesagt, ich solle mich immer an der Außenlinie aufhalten, schließlich sei ich Rechtsaußen, erkennbar an der Rückennummer 7. Er könne das kontrollieren, indem er nach dem Spiel nachschaut, ob ich Kreide an den schwarzen Fußballschuhen habe, drum folgte ich strikt seinen Anweisungen. Bis zum Ende der C-Jugend-Zeit lief ich die Außenlinien ab und servierte à la Libudia oder Abramczik den Mittelstürmern Flanken von der Grundlinie. Bis dahin hatte ich einige Mitspieler insbesondere im Mittelfeld erlebt, deren Spielwitz ich sehr bewundert habe. Sie konnten den Ball fordern, halten und gewieft weiterspielen. Oder in einer Blitzintuition diverse Gegenspieler austricksten und das Tor machen. Oft ein wichtiges, das uns auf die Siegesstraße brachte. Als ich in die 1. B des SV Werder kam, waren sie alle verschwunden. Ihr größter Nachteil gegenüber den anderen war wohl, dass sie als schmächtige Bürschchen dem psychischen und vor allem körperlichen Druck nicht gewachsen waren, der während der Pubertät auf uns Spieler ausgeübt wurde. Schließlich waren wir potenzieller Bundesliganachwuchs und das wurde uns unmissverständlich verdeutlicht.

Damals, Anfang der 1980er Jahre, hatte Werder bereits eine kleine Heimstatt für Spieler eingerichtet, das "Werder-Internat", in das Jungs gesteckt wurden, die der Verein aus dem weiteren Umland geholt hatte. Dort wohnten sie, machten ihre Schulaufgaben und wurden rundherum versorgt. Gunnar Sauer war einer davon. Auffälligste Merkmale der Neuzugänge: Sie waren alle größer und kräftiger als ich, sie konnten deshalb das harte Training besser wegstecken und auch deshalb, weil sie Kniffe entwickelten und sich anzuwenden trauten, mit denen sie manche Konditionsübungen umgehen konnten. Schon durch ihre reine Präsenz konnten diese neuen Mitspieler die vergleichsweise mickrigen Gegner beeindrucken. Ich wurde zum Verteidiger auf der Ersatzbank umfunktioniert und konnte dem Treiben zusehen – und auch dem, dass der SV Werder in der B-Jugend nicht mehr wie in früheren Jahrgangsstufen die Gegner nach Belieben vorführen konnte. Nur mit viel Not und Mühe und nach einigen Straftrainingseinheiten wurden wir 1980 Bremer Landesmeister. Es zeigte sich, dass meine großen Mitspieler zwar viel trickreiches Testosteron verströmen, aber nicht in schwierigen Situationen den Arsch zusammenkneifen konnten. Das genaue Gegenteil erlebte ich in der Folgesaison nach meinem Wechsel zum TSV Osterholz-Tenever, dem damals größten Konkurrenten des SV Werder im Bremer Jugendfußball. Ob Zufall oder nicht, weiß ich heute nicht mehr, aber zu der Saison hatten sich bei OT die Spitzenfußballer aus anderen Bremer Vereinen versammelt wie dem FC Huchting, Eintracht Findorff und TSV Grolland. Der SV Werder hatte sich im Umland bis hin nach Cuxhaven bedient, bei OT tummelte sich die fußballjugendliche Lokalprominenz rund um das Eigengewächs Ralph Brockmann. Er war der unumstrittene Kapitän, der allein ein Spiel herum- und uns alle mitreißen konnte. Fiel er aus, übernahmen andere seinen Part, wenn es nötig wurde, das hatten wir bei ihm abgeschaut. Wir ließen den SV Werder in der Abschlusstabelle fünf Punkte (nach dem damaligen Zählsystem, nach heutigem acht) hinter uns und stellten damit die Bremer Fußballwelt auf den Kopf.

Das war der Höhepunkt meiner Fußballerkarriere. Als ich sah, dass der TSV Osterholz-Tenever in der A-Jugend die gleichen Tendenzen aufzeigte und Methoden verfolgte wie der SV Werder in der B-Jugend, nämlich mit harter Autorität vor allem Kondition und Disziplin bimsen, und sei es mangels Sprintmöglichkeiten den Deich hinauf mit Bleiwesten in der Sandkiste, reihte ich mich freiwillig in die 2. A ein und verabschiedete mich damit für immer vom Leistungssport. Gnadenbälle trat ich noch eine Zeitlang für den Post SV.

Mens sana in corpore sano?

Das begab sich zu einer Zeit, in der die deutsche Fußballnationalmannschaft  Rumpelfußball praktizierte, wie es damals hieß. Körperliche Präsenz spielte eine viel stärkere Rolle als in den 1970er Jahren, als die brasilianischen, niederländischen und auch die deutschen Fußballer vor allem mit Spielwitz glänzten, trotz Entengangs und Klappmesser. Die sind von der modernen Sportmedizin heute als kontraproduktiv, sogar eher als schädlich erkannt, körperliche Fitness wird heute viel raffinierter erzielt. Die medizinischen Abteilungen der Profi-Vereine sind stark gewachsen, die Rekonvaleszenzen der Verletzten ebenso stark geschrumpft. Hier kommen neueste Erkenntnisse der Wissenschaft zum Zug wie auch modernste Technik in der Spielanalyse mit Heat Maps aus Video-Computerauswertungen bis hin zu Sensoren, die SAP den Hoffenheimer Jugendfußballern anpappt. Schon den Jüngsten wird angetragen, dass wir heute nicht mehr in eine Gasse spielen, sondern in eine Schnittstelle. Mit ihrer Hilfe werden ihnen ausdifferenzierte taktische Systeme gelehrt, von denen ich auch noch in der A-Jugend keine Ahnung hatte – bis auf 4-3-3 oder 4-4-2, inklusive Libero. Der ist längst abgeschafft, heute werden eher "ganzheitliche" Spieler angestrebt, die jede Position besetzen können.

Neben smarter Technik für Spielanalyse, Ernährungsfachmenschen und einer bestens ausgerüsteten Medizinabteilung gehören auch psychologische Berater zum Standardrepertoire von Profi-Fußballmannschaften, um noch weitere Eventualitäten des Geschehens auf und neben dem Platz wägbar zu machen. Wenn es nach dem Potenzial ginge, das in Deutschland technologisch, wissenschaftlich und pekuniär aufzubieten wäre, würden die DFB-Elfen über Jahrzehnte hinaus nicht vom Fußballthron gestürzt werden, ganz so, wie es Franz Beckenbauer vor 33 Jahren prophezeite. Wir wissen, daraus wurde nichts. Schon vier Jahre nach Beckenbauers Bonmot scheiterte die deutsche Elf in den USA in der Vorrunde, 1998 in Frankreich sah es nicht besser aus. So wie jetzt auch für die Frauen-Nationalelf und vorher die jungen und die alten DFB-Männer. In den 1980ern konnten sich die deutschen Fußballmänner trotz arg begrenzten spielerischen Vermögens zweimal bis ins WM-Finale durchrumpeln. Heute können sie wohl ganz gut mit dem Ball umgehen, aber scheitern frühzeitig an Südkorea.

Der Kölner Stadtanzeiger meinte nach dem Frauen-Aus einen Mangel an Widerstandskraft entdecken zu können, der erneut Zweifel an der fußballerischen Ausbildung in Deutschland wecke. Gleichzeitig dürfte er "eine gesellschaftliche Debatte über Verantwortung und Resilienz befeuern, die in Deutschland auch abseits des Fußballs längst geführt wird". So weit könnten wir gehen, wenn wir den Fußball als Reallabor, als einen Mikrokosmos des wirklichen Lebens betrachteten. Dann würde der selige Roman Herzog gefragt sein und für einen Ruck sorgen müssen, der durch Deutschland ginge. Jener Ruck, den ich seinerzeit auf dem Rasen, oft genug auch auf der Schlacke verspürt hatte, wenn Ralph oder ein anderer, manchmal auch ich selbst, deutlich zeigte, dass er sich nicht zufrieden geben wollte mit einem Rückstand oder gar einem Unentschieden. Die Resilienz, die der Stadtanzeiger vielleicht meinte, besteht im Fußball darin, dass ein Team in der Krise nicht in seine Einzelteile zerfällt und jeder einzelne plötzlich mit seinen eigenen Unzulänglichkeiten konfrontiert wird, die niemand ausbügeln kann, weil alle nur mit sich selbst beschäftigt sind.

Anscheinend zeigt sich nun, dass sich Resilienz weder körperlich antrainieren, herbeianalysieren oder kaufen lässt. Sie lässt sich nicht mit einer Urkunde bescheinigen und auch nicht in ein Spielsystem packen. Resilienz im Mannschaftssport ist die Summe der einzelnen Spieler und gleichzeitig ihre Differenz, die darin besteht, dass jemand sich traut, in einer schwierigen Situation Verantwortung zu übernehmen; für sich selbst und für andere, die er damit ansteckt. Damit bin ich womöglich dem auf der Spur, was in dem – ansonsten durchaus kritikwürdigen – Lied "Fußball ist unser Leben" aus dem Jahr 1973 gemeint sein könnte mit "einer für alle, alle für einen". Resilienz ist, wenn es zwischen dem Sinngehalt der beiden Satzteile eine beidseitige Rückkopplung gibt. Zudem besteht Resilienz auch darin, selbst unter Stress flexibel handeln zu können und nicht nur einem starren Muster zu folgen.

Wenn ich an dieser Stelle den Ball annähme, den der Stadtanzeiger mir zugespielt hat, würde ich fragen: Gibt es einen Zusammenhang zwischen den vollen Fußballstadien und dem daraus resultierenden Milliardenumsätzen des Sportbetriebs und der immer geringer werdenden Wahlbeteiligung in Deutschland? Mit dieser Frage bepackt könnte ich ihn durch die Gasse weiterspielen. Wer will ihn haben?

Foto von Sandro Schuh auf Unsplash