Ein Bier auf Heidenheim

Um den Aufstieg des Heidenheimer Fußball zu begreifen, sollte man vorne anfangen. An einem Kiosk, der noch so erhalten ist wie er in der Verbandsliga ausgesehen hat. Ein Bier, bitte.

Hätte man Anfang der Neunziger den Heidenheimern erzählt, sie würden eines Tages in der Bundesliga auflaufen, hätten sie sich mit dem Zeigefinger an die Stirn gefasst. Bundesliga? 2:2 in Dortmund?? Welcher schräge Vogel kommt denn auf die abgefahrende Idee??? Damals waren die Fußballer noch unter dem Dach des Gesamtvereins Heidenheimer Sportbund. Die Abteilung Fußball war zwar mächtig, weit weg von jeder Profiambition. Heidenheim spielte Landesliga. Ein Klub wie viele andere. Gekickt wurde im kleinen Albstadion auf dem Schlossberg. Zwischen Platz und Waldrand stand eine kleine Tribüne für gerade 600 Zuschauer. Mehr nicht. SSV Ulm, VfR Aalen – weit weg und sportlich in einer anderen Liga. Nicht einmal ein Vereinsheim war vorhanden. Das lag keineswegs an der fehlenden Geselligkeit. Auch nicht am fehlenden Durst. Nein, die Stadt hatte es kategorisch verboten, am Stadion eine Gaststätte zu eröffnen. Dahinter steckte vermutlich Gastronom Paul Henne. Henne war ein extrem schwäbischer Wirt. Sein Hennennest sollte bitteschön der einzige Gastbetrieb auf dem Heidenheimer Schlossberg bleiben. Und Henne hatte Einfluss in der Stadt, vor allem im Stadtrat. Dort plusterte sich der Wirt so auf, dass sogar der größte Verein nicht dagegen ankam. Das Geschäft mit den Kickern konnte er natürlich fortan vergessen. Das Hennennest: eine No-Go-Area für Fußballer. Ein paar Bier am Sportplatz gehen ja auch. Unter Fußballern manchmal ein paar mehr. Dort hatte man mehr notdürftig als endgültig eine kleine Bretterbude aufgestellt, ein paar Stufen oberhalb des Spielfeldrandes. Die Bude war kein Schankbetrieb. Da konnte auch die Stadt nichts dagegen sagen. Liko, der unten im Tal die Gaststätte Mohren betrieb, kümmerte sich um den sogenannten Kiosk, füllte die Getränkevorräte auf und sorgte mit Würsten und Grillfleisch für einen kleinen Zuschuss in die Vereinskasse. Seinen richtigen Namen Ligor Senlikoglu kannte fast niemand. Aber Liko kannten alle. Er war die Seele des Vereins, einer für alles, ein Heidenheimer Charly Neumann. An seinem Kiosk trafen sich die Spieler nach dem Training auf ein Bier – oder auch zwei. Nach den Heimspielen feierte man bei Liko die Siege – oder spülte die Niederlagen hinunter. Und meistens ging es in die Verlängerung. In jedem Fall brannte das Licht des Kiosks bis tief in die Nacht.

Eines geht noch

Dort zischte auch Mittelstürmer Holger Sanwald seine Bierchen. Seit der C-Jugend spielte er im Verein. Sanwald war nicht unbedingt der begnadete Kicker, aber einer, der die anderen mitreißen konnte und sich nicht scheute, Verantwortung zu übernehmen. So einen wählen die Menschen gerne. 1994 wurde er Abteilungsleiter Fußball – und später wurde Sportskamerad Liko sein Stellvertreter. Die Beiden sind ursächlich verantwortlich für das größte Fußballwunder das Deutschalnd aktuell zu bieten hat. Damals, in den Niederungen der Landesliga, betrug der Etat gerade mal 80 000 DM. Drei Monate nach ihrem Amtsantritt traf eine Nachforderung des Finanzamtes ein - über 120 000 DM. Für den neuen Abteilungsleiter Sanwald war es fast das Aus. Der Hauptverein sprang ein. Sanwalds Argument stach: Fortan sollte solider gewirtschaftet werden im Fußball. Tatsächlich: Seit er die Verantwortung übernahm, ging es nur noch aufwärts. Übrigens bis heute: Kein Abstieg. Nur Aufstieg. Ein Wirtschaftsbeirat wurde gegründet. Erste sportliche Erfolge stellten sich ein. 1998 stieg der Heidenheimer SB in die Verbandsliga auf. Die mittelständischen Unternehmen im Beirat unterstützten den Verein , auch die großen Unternehmen und die Politik machten mit. Vieles passte zusammen, die Aufstiege kamen dazu: zum Beispiel 2004 in die Oberliga Baden-Württemberg. Schon damals war klar: Wenn es weiter aufwärts gehen sollte, musste sich einiges verändern. Im Heidenheimer SB war der Etat der Fußballer bereits größer als der aller anderen Abteilungen zusammen – und zwar um mehr als eine halbe Million Euro. Der Mehrspartenverein stieß an seine Grenzen. Das Risiko war zwar überschaubar, gleichwohl den anderen Abteilungen nicht zuzumuten. Die Ausgliederung eröffnete neue Perspektiven. Der 1. FC Heidenheim 1846 in seiner heutigen Form wurde gegründet.

Mal nüchtern betrachtet

Maßgeblich angetrieben wurde alles von Holger Sanwald. Schon als Abteilungsleiter Fußball hatte er für seinen Brot- und Butter-Beruf nur noch einen halben Tag übrig. Ans permanente Schlafdefizit hatte er sich schon gewöhnt. Aber gesund war das auch nicht. Darum opferte er den sicheren Job bei einem mittelständischen Unternehmen für die Ungewissheit eines mittelklassigen Provinzklubs. Und zwar als hauptberuflicher Geschäftsführer der Kicker-Bande. War das jetzt visionär, auf sein Fußballherz zu hören – oder einfach nur Harakiri? Andererseits: Wenn er an die Zukunft des FCH glaubte, musste er mit gutem Beispiel vorangehen. Und zwar all-in. Seine vielleicht größte Aufgabe: das Stadion. Schon für die Teilnahme an der Regionalliga wäre es zu klein gewesen. Ohne die neue Arena hätte er seinen Job gleich wieder an den Nagel hängen können. Also wieder Klinken putzen bei der lokalen Wirtschaft. Auch die Stadt Heidenheim in Person des Oberbürgermeisters Bernhard Ilg leistete einen stattlichen Beitrag. Viele spielten mit, nur der Mannschaft ging plötzlich die Luft aus. Der sportliche Einbruch drohte. Gerade in der wichtigen Saison 07/08, als die ersten vier Vereine in die neue Regionalliga Süd aufstiegen konnten, drohte der Favorit abzustürzen. In den vergangenen Spielzeiten war Heidenheim immer vorne dabei gewesen. Nur jetzt, als es zählte, ging plötzlich nichts mehr. Vielleicht lag es auch daran, dass Trainer Dieter Märkle unter der Woche unterwegs war. Er absolvierte den Fußballtrainerlehrgang in Köln. Alles abgesprochen, alle einverstanden. Aber an den Ergebnissen konnte man ablesen, dass nichts funktionierte. Nach einem 1:4, daheim gegen den SSV Ulm, war klar, dass schleunigst etwas passieren musste, wenn Heidenheim nach oben wollte. Aber man konnte schließlich vom Trainer nicht verlangen, dass er seine Ausbildung abbrach. Also einigte man sich mit Märkle – und suchte einen Neuen. Bis der jedoch gefunden war, übernahm Frank Schmidt. Als Übergangstrainer. Der Ex-Profi war schon vor Jahren in die Heimat zurückgekehrt. Der Co-Trainer von Merkle sollte fürs Erste aushelfen, nur ein paar Spieltage – um Zeit zu gewinnen, die notwendig war, um in der Trainerfrage eine wirklich fundierte Entscheidung zu treffen. Schmidt begann mit einem Auswärtsspiel bei Normannia Gmünd, dem alten Angstgegner. Der 2:1-Sieg kam überraschend. Dann war Kirchheim unter Teck zu Gast, auch kein leichter Gegner. Diesmal war es ein 9:1 für Heidenheim. »Weißt Du was, mach's bis Weihnachten«, sagte Sanwald zu seinem Übergangscoach. Aber schon Wochen vor der Winterpause war klar, die Bestbesetzung des Trainerstuhls stammte aus Heidenheim. Geburtsort: Etwa 500 Meter von Stadion entfernt. Die letzten Skeptiker wurden an den drei Spieltagen vor Saisonende überzeugt. Frank Schmidt schaffte mit einem Endspurt von drei Siegen in Folge die Qualifikation für die neue Regionalliga.

Der Architekt, der die Welt nicht versteht.

Unterdessen trieb Holger Sanwald den Ausbau zur neuen Arena voran. Tribüne für Tribüne. Kurve für Kurve. Architekt Dietbert Trägner entwarf eine hübsche Gegentribüne. Geradlinig und konsequent. Aber schon nach der ersten Besprechung zog er wieder ab, mit hängenden Schultern. Er verstand die Welt nicht mehr – und seinen Kunden noch weniger. Wollte dieser Verein doch seinen heruntergekommenen Kiosk unverändert stehen lassen! »Die doofe Bretterbude? Die ist doch 40 Jahre alt, das Teil!« Mit Architektur konnte man bei diesen Kunden nicht argumentieren. Also versuchte er es mit dem Preis: »Da fehlen doch Plätze, das fehlt Euch nachher in der Kasse. Und die Konstruktion, die wird doch viel aufwändiger! Nee, das machen wir anders. Da bauen wir einen Neuen, den integrieren wir sauber, dann habt ihr es leichter mit dem WKD und allem.« Aber er konnte so viel argumentieren wie er wollte. Hätte er noch länger gemeckert, wäre er mit Rot vom Schlossberg verwiesen worden. Heidenheimer Tatsachenentscheidung: Der Kiosk bleibt stehen. Die Bude ist heilig wie eine Kapelle. »Darüber mussten wir eigentlich gar nicht diskutieren«, erinnert sich Holger Sanwald, »auch wenns noch so ungeschickt gewesen wäre, wir konnten doch nicht den Kiosk abreißen. Das war doch die Seele unseres Vereins. Das hätte niemand verstanden.« Später, nachdem der Architekt einen langen Abend am Kiosk verbracht hatte, soll er es eingesehen haben.

Eine Seele von Kiosk

Heute überbrücken die Betonstufen der neuen Voith-Arena den heiligen Ort. In keinem deutschen Stadion findet man einen solchen Wurststand. Baulich Landesliga, aber mit direktem Blick aufs Spielfeld. Wer nach dem Spiel in Dortmund wissen will, wo Heidenheim herkommt. sollte an die Bretterbude denken. Noch heute, in Bundesligazeiten muss man aufpassen, dass der Ball nicht auf dem Grill landet. Manager Holger Sanwald empfiehlt die Feuerwurst – vom Metzger Illenberger aus dem nahegelegenen Bolheim. Seit einigen Jahren steht zwar – endlich – eine eigene Stadiongaststätte. Allerdings ändert auch diese Wirtschaft wenig daran: Heidenheimer Ur-Fans treffen sich am Kiosk. Wo auch sonst? Und wenn drüben im VIP-Trakt bereits der Boden gewischt wird, zieht es nicht Wenige auf eine kurze Stippvisite an den Kiosk, dem einzigen amtlichen Treffpunkt – dorthin, wo man alle trifft, bis auf einen: Liko. Die gute Seele des Vereines starb am Tag bevor die Saison 13/14 begann. Die Spielzeit sollte mit dem Aufstieg in die zweite Liga enden. Auf dem Schlossberg geht man davon aus, dass er immer noch jedes Spiel der Rot-Blau-Weißen verfolgt. Von oben. Liko ist der beste Bundesligaschutzengel, den man haben kann. Darum ergibt es auch immer einen Sinn, nochmal ein Bier zu bestellen. Man sollte schließlich nie vergessen, nochmal auf Liko anzustoßen, so wie es gute Sitte ist, an Likos Kiosk.

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