Im Platzsturm der Gefühle

Der Cannstatter Platzsturm nach erfolgreichem Erreichen des sicheren Klassenerhalts steht sinnbildlich für die Misere vieler Fans des VfB Stuttgart…

Der Platzsturm gilt seit ewigen Bundesligazeiten als der ultimative Beweis der Fanzuneigung. Dazu gehört die organisierte, bandenmäßige Plünderung des devotionalienreichen Stadioninnenbereiches, das innige Herzen und Knuddeln der Helden, bis denen die Tränen in den Augen stehen, ob vor Freude oder vor Angst, ist oft nicht gleich auszumachen. Der Tabubruch in Form des Platzsturm öffnet alle Ventile aufgestauter Freude über das heldenhaft Erreichte, sei es eine Meisterschaft, ein Aufstieg oder der Gewinn eines Pokals. Ein Platzsturm ist ein Liebesbeweis der Fans für außergewöhnliche Leistungen, die nicht zu erwarten waren. Wie etwa die Meisterschaft des VfB 1992, vor 30 Jahren, als man in Leverkusen vollkommen überraschend Deutscher Meister wurde. Guido Buchwald hatte mit einem Kopfball das entscheidende 2-1 erzielt. War leider auswärts, und die etwa 13000 mitgereisten Stuttgarter Fans waren vermutlich nicht richtig darauf vorbereitet, das fremde Geläuf organisiert zu erobern, so wie es sich gehört. 2007 wurde das dann im Neckarstadion nachgeholt, doch selbst bei der Meisterschaft zuhause lief das alles sehr gesittet ab. Schwäbisch halt. 

Diese Zeiten muten angesichts des Platzsturms vom letzten Samstag etwas merkwürdig an. Der VfB hat in der sprichwörtlichen, allerletzten Minute durch Endos Kopfballtor den Effzeh Köln besiegt, während die Hertha in Dortmund mit 2-1 den Kürzeren zog. Das war schon spektakulär, da nicht unbedingt so erwartet. Bei aller berechtigten Freude über den direkten Klassenerhalt, der nachfolgende Platzsturm und die daraus resultierenden Bilder der Euphorie und Ekstase hinterlassen zwei Tage später, ganz nüchtern betrachtet, jedoch einen etwas faden Beigeschmack. Nicht ganz in dem Sinne, wie Uli Hoeneß sich überflüssigerweise kritisch dazu geäußert hatte: Der VfB feiere als wäre er Weltmeister geworden, dabei sei er nur nicht abgestiegen. Was der medienerprobte VfB-Boss Alex Wehrle klug mit dem Hinweis konterte, dass die Bayern eigentlich jede Meisterschaft so feierten, als wären sie gerade zehnter geworden. Doch die etwas fragwürdige Relation der Fan-Reaktion zu dem Erreichten gibt selbst eingefleischten VfB-Fans in meinem Freundeskreis etwas zu denken. So viel Liebe für fast nichts? 

Nicht, dass der Klassenerhalt nichts wäre, doch ist das dermaßen glückliche Erreichen des minimalen Saisonziels diesen Jubel darüber samt Platzsturm wirklich wert? Wie niedrig setzen VfB-Fans ihre Erwartungen an das Team an, um beim Erreichen des Klassenerhaltes gleich aus allen emotionalen Rohren zu schießen? Wäre das Erreichen des Relegationsplatzes dagegen nichts gewesen? War die Angst vor dem erneuten Abstieg so groß, dass sie diese Inflation der Ekstase rechtfertigt? All diese Fragen lassen sich nur schlüssig beantworten, wenn man die äußerst fragilen Machstrukturen und die mit vielen Unsicherheiten behafteten Zukunftsaussichten des Vereins in Betracht zieht. In der überschäumenden Fan-Freude mischt nämlich auch jede Menge Erleichterung darüber mit, dass das bei der Mehrzahl der Kurvenfans offensichtlich sehr geliebte Projekt Mislintat/Matarazzo nicht, wie von vielen prophezeit, krachend gleich im zweiten Bundesliga-Jahr mit einem Abstieg gescheitert ist. Das impliziert in der Folge auch, dass das Scheitern des sogenannten „Fan-Präsidenten“ Claus Vogt ausgeblieben ist. Es ist auch die Freude über die Sicherung einer gewissen Kontinuität in personellen Fragen, die angesichts der turbulenten Vergangenheit des Vereins wohltuend und beruhigend wirkt.

Manche sehen das in Stuttgart vollkommen anders. In den letzten Monaten wurden in Stuttgart die Stimmen der Revisionisten wieder lauter, die in der Stuttgarter Transferpolitik und vor allem in der Person Mislintat den programmierten Vereinstod des einst so stolzen Traditionsvereins sehen. Die Provinzialisierung der Ansprüche eingeschlossen, wenn gar der SC Freiburg als Vorbild für die zukünftige Vereinsentwicklung herhalten muss. Sie sehen nun im neuen VfB-Boss Alexander Wehrle den Heilsbringer, der das in ihren Augen vollkommen aus dem Ruder gelaufene Kontinuitätsprojekt der Herren Mislintat, Matarazzo und Vogt hoffentlich sehr bald wieder auf Null stellt und den Verein dahin zurückführt, wo er ihrer Ansicht nach hingehört, in die Elite der Bundesliga, wo geklotzt und keinesfalls gekleckert wird. Es gibt jedoch bisher keinerlei Anzeichen dafür, dass Wehrle auch nur ansatzweise darüber nachdenkt, die bestehenden Strukturen der Kontinuität vollkommen über den Haufen zu werfen. Das hängt unter anderem auch damit zusammen, dass Wehrle sehr gut rechnen kann, auch eins und eins zusammenzählen. Er weiß genau wo der Verein herkommt und warum er sich heute in der Situation befindet, in der er ist. Da wird trotz alledem, etwa nach einer Pressekonferenz, in der Wehrle zu der Zukunft von Mislintat und Materazzo befragt wurde und nichts in der intendierten Richtung Verwertbares von sich gab, in den Stuttgarter Hofgazetten das Nichtgesagte als die Vermeidung eines Bekenntnisses zu den besagten Personen umgedeutet. Sind praktisch schon so gut wie gefeuert! Aha, klarer Fall? Es wurde ein Dissens herbeigeschrieben, der durch rein gar nichts in Wehrles Aussagen zu belegen ist. 

Trotzdem wird in einschlägigen Fan-Foren und in den Bubbles der sozialen Medien die Zukunft der handelnden Personen bereits wieder heftig diskutiert. Die einst befriedeten Lager spalten sich wieder. Da ist von bösen Mächten die Rede, die eigene Ziele zur Bereicherung ihrer selbst und ihrer Getreuen und alles andere als das Wohl des VfB im Sinne haben, gern im Präsidium oder im Vereinsbeirat verortet, von einflussreichen Bloggern, die angeblich eine Agenda in deren Sinne verfolgen und auch rufmörderische Kampagnen auf Bild-Niveau werden gern kolportiert, die vor allem Sven Mislintat, seinem Gehalt und seinem Einfluss im Verein gelten, sowie dem Präsidenten der zu schwach sei, sich dagegen zu wehren, wie der den Verein zugrunde richte. Und wenn mal wieder Guido Buchwald in der Presse als Kronzeuge für die angeblich vollkommen verfehlte Vereinspolitik herhalten muss, sollte wirklich jedem klar sein, wohin die Reise beim VfB mal wieder gehen soll. Die emotionale Befindlichkeit vieler Fans ist deshalb mutmaßlich vor allem auch ein Ausdruck der Sorge um ihren Verein. Das hat mit der Angst vor einem Verlust zu tun. Das wieder zu verlieren, was sie gefühlt erstmals mit dem Ende der Dietrich-Ära als ihr Eigenes betrachten durften, den Verein. Jedes Scheitern und der daraus resultierende Rückfall in keinesfalls immer erfolgreichere, alte Zeiten werden als Bedrohung wahrgenommen. In dieser Situation an seinem Verein zu zweifeln, hieße ja auch, an sich selbst zu zweifeln. 

Und deshalb … ja! Auch deswegen war die Angst vor einem Abstieg so groß, dass diese Inflation der Ekstase in Form eines Platzsturms absolut gerechtfertigt ist. Alles musste raus! Der emotionale Platzsturm dient der Beseitigung aller Selbstzweifel und der Selbstversicherung der Fans, dass sie, so der Fußballgott will, auch in der nächsten Saison eine geile Zeit mit ihrem Verein haben werden. Mit Platzsturm inklusive.