Das gallische Dorf

Wir befinden uns im Jahr 2021 n. Chr. Die ganze Frauen-Bundesliga ist mit Großstadtklubs besetzt. Die ganze Bundesliga? Nein. Ein von Unbeugsamen besetztes gallisches Dorf wehrt sich, so gut es kann.

Der Asterix-Vergleich ist nicht weit hergeholt. Nur 10 Kilometer. So weit liegt der Dorfplatz des SC Sand von der französischen Grenze entfernt. Die kleine Teilgemeinde Sand zählt gerade mal 2.000 Einwohner. Sie gehört zu Willstätt. Doch selbst mit dem Namen Willstädt wissen nur Ortskundige etwas anzufangen. Die nächstgelegene Großstadt ist Straßburg. Irgendwo in diesem mittelbadischen Nirgendwo ist ein deutscher Bundesligaclub zu Hause. Dort neben dem Acker parken die Busse von Werder Bremen, dem VfL Wolfsburg und Bayern München. Nur den Busfahrern muss keiner erklären, wo es zum Kühnmatt-Stadion (pardon, Adams Arena) geht. Sie steuern die Destination Sand schon in der achten Saison in Folge an.

Das ungewöhnliche Bundesliga-Abenteuer beginnt im Jahr 2014. Der Dorfclub steigt auf – gemeinsam mit dem Herforder SV Borussia Friedenstal. Herford steigt mit 5 Punkten wieder ab. Sand bleibt drin. Seither hat es kein Dorfclub mehr geschafft, in die Bundesliga aufzusteigen. Ein Jahr später kommen der 1.FC Köln und Werder Bremen hoch. Sie gehen postwendend wieder runter. Sand bliebt drin. Dann steigen Mönchengladbach und Duisburg auf. Gladbach steigt wieder ab. Sand bleibt drin. Dann steigen erneut Köln und Bremen auf. Köln steigt wieder ab. Sand bleibt drin. Sand bleibt drin. Sand bleibt drin. Bis heute. An welchem Zaubertrank haben die bloß genuckelt?

„Es ist ein Wunder. Damals haben wir gedacht: Wenn wir es zwei, drei Jahre in der Bundesliga schaffen, ist es gut für’s Dorf,“ erinnert sich Aufstiegstrainer Dieter Wendling. Zum Trainerjob des SC Sand kam er wie die Jungfrau zum Kind. „Als der SC ohne Trainer da stand, hab ich halt geholfen“, sagt der langjährige Amateurtrainer mit Trainer-A-Lizenz. „Wir stammen aus Sand. Meine Frau ist Gründungsmitglied des SC. Und dann war Gerald Jungmann bei uns. Der ist nicht aus dem Haus gegangen, bevor ich nicht zugesagt habe.“ Von diesem Jungmann wird noch die Rede sein.

Sand gewinnt alles. Außer Wasserball.

Die Aufstiegssaison furios zu nennen, wäre untertrieben. In 22 Partien der Süd-Gruppe spielt der SC Sand genau einmal unentschieden. Alles andere wird vom Platz gefegt. Torverhältnis 89:12. Trainer Wendling entschuldigt sich fast für das Unentschieden. „Das war beim ETSV Würzburg. Da stand der Platz fast komplett unter Wasser. Eigentlich unbespielbar.“ Seine eigene Rolle redet Wendling so klein wie es nur geht. „Ich musste eigentlich nur aufpassen, dass ich nicht störe. Das Team hat den Aufstieg von allein gemacht.“ Damals hat alles gepasst. Runde 1.000 Zuschauer pro Partie staunen im Kühnmatt. Bei jedem Spiel. Die Überlegenheit zahlt sich vor allem in der Folgesaison aus. Sand hält die Bundesliga. Ein Kunststück, das nur wenigen gelingt. Zwischen erster und zweiter Liga klafft eine ordentliche Qualitätslücke. Bis heute.

Wenn man sich erkundigt, was Sand besser kann als andere, landet man wieder bei Gerald Jungmann. „Der SC Sand ist sein Baby“ ist die Standardantwort, die man bekommt, wenn man nach Gründen für den Erfolg sucht. Jungmann verkauft tagsüber Autos, abends den SC Sand. Die Sponsorenliste ist lang. Das gallische Dorf kommt ohne Investoren oder allmächtige Gönner aus. Der Häuptling wird’s schon richten. Ohne Jungmann läuft nichts. Nicht mal eine Antwort für den prophetischen Blog erhält man, ohne dass sie Jungmann persönlich formuliert. Aber der Häuptling hat Wichtigeres im Sinn. Vermutlich Sponsorentermine.

Sprungbrett Sand

Die Spielerinnen kommen aus der ganzen Welt nach Sand. Kanada, Österreich, Jamaica, Serbien, Irland, Nigeria und immer wieder Österreich. Nach dem Aufstieg holt man einen neuen Trainer. Aufstiegstrainer Wendling wird sportlicher Leiter. „Wie wurde gescoutet, Herr Wendling?“ Wieder so eine Antwort von edelster Zurückhaltung: „Ach wissen Sie, an jedem Saisonende werden Ihnen geschätzt dreihundert Spielerinnen angeboten. Jede, die irgendwo einen Kickschuh schnüren kann. Aber wir hatten unsere Spielerberater, auf die wir uns verlassen konnten. Da waren so viele Volltreffer dabei, so viele tolle Spielerinnen“. Trotzdem ist die Kader-Fluktuation enorm. Es ist ein Kommen und Gehen. Die Guten werden weggekauft. Bei den weniger Guten erledigt sich die Sache von selbst. Die zweite Mannschaft steigt in die zweite Bundesliga auf. Wenig später muss sie abgemeldet werden. Leider. Sogar ein gallisches Dorf kann keine zwei Mannschaften in den ersten beiden Ligen stemmen. Auch bei den TrainerInnen erreicht man wenig Konstanz. Dauernd muss irgendwo nachgebessert werden. Notfalls trennt man sich. Jungmann hält den Laden zusammen und kümmert sich um die Sponsoren, die ihn bezahlen.

Die Belohnung: Beste Bundesligastimmung auf dem Dorfplatz. Trotzdem fällt es schwer, eigene Talente zu entwickeln. Das liegt auch am SC Freiburg und der TSG Hoffenheim. In Baden konkurriert der SC Sand mit zwei weiteren Bundesligisten. Die jungen Talente wechseln mit 15, spätestens 16 Jahren zu den Klubs, bei denen sie die besten Chancen sehen. Der SC Sand ist es nur selten. Irgendwie erinnert die Methode Sand an die Methode Sandhausen. Nur eine Klasse höher. Das Sander Bundesligawunder hält sich oben. Sand gegen den Wind.

Hurra, das ganze Dorf ist da

Als Höhepunkte gehen die beiden DFB-Pokalfinals in die Vereinsgeschichte ein. Sie werden 2016 und 2017 gegen den VfL Wolfsburg erreicht. 2016 nach einem Halbfinalsieg gegen die Bayern. Zweimal gehen sie „nur“ mit 1:2 verloren. Zweimal fällt das Siegtor in der letzten Viertelstunde. Zweimal feiert das ganze gallische Dorf. Die Finalteilnahmen wirken kurz- und langfristig. Kurzfristig hilft das Fernsehgeld. Langfristig profitiert das Renommee. Die Finals tragen ihren Teil dazu bei, dass das gallische Dorf unter den Großen mithalten kann. Bis heute.

Die Saison 20/21 wird mit einem Kraftakt gerettet. Sand übersteht das verflixte siebte Jahr dank 10 Punkten aus den letzten vier Spielen. Am vorletzten Spieltag gewinnen die aufrechten Gallerinnen beim direkten Konkurrenten SV Meppen mit 2:0. Danach reicht ein 1:0 gegen Bayer Leverkusen. Die Sektkorken knallen. Woher die Superkräfte in dieser Spielzeit kommen, ist noch offen. Die Unbeugsamen haben gerade zwei mickrige Punkte auf dem Konto. Der Klassenerhalt liegt schon neun Zähler entfernt. Wenn man ehrlich ist, sieht vieles danach aus, dass es die vorerst letzte Bundesligasaison des Nischenklubs ist. Doch egal, was passiert: An der Widerstandsfähigkeit des gallischen Dorfes kann es keine Zweifel geben. Wenn einer Zaubertrank auftreibt, dann Gerald Jungmann, Häuptling der unbeugsamen Gallerinnen.

Verwandte Artikel