Dem Christian Streich sein Stadion

Das Dreisam-Stadion in Freiburg zählt ab sofort zu den „Lost Grounds“. Erinnerungen an eines der unbestritten schönsten Stadien Deutschlands.

Da konnte sich Christian Streich die eine oder andere Träne nicht verdrücken, als er letzte Woche sehr emotionale Abschiedsworte zum letzten Spiel des SC Freiburg im Dreisam-Stadion per Megafon an die Fans adressierte. Nach 67 Jahren und 350 Bundesligapartien hat das direkt an der Dreisam in Freiburg gelegene Stadion nun ausgedient. Nicht ganz, wie Christian Streich in der anschließenden Pressekonferenz extra betonte, denn es werde ja nicht abgerissen und es werde dort weiterhin Fußball gespielt, nur eben keine Bundesliga und nicht mehr unter seiner Leitung. Die Emotionalität, mit der Streich nach 25-jähriger Dienstzeit in diesem Stadion Abschied nimmt, ist für nahezu ebenso dienstalte SC-Fans gut nachzuvollziehen. Denn ein Stadion ist für Fußballfans stets ein magischer Ort, mit dem sie viele Emotionen und Erinnerungen verknüpfen, ein Ort, der nicht beliebig austauschbar ist.  Dem einen oder der anderen wird der Umzug in das neue SC-Stadion am anderen Ende der Stadt deshalb sicherlich schwerfallen.

Anderen wird der Abschied vom Bundesliga-Spielbetrieb an der Dreisam eher leichtfallen. Für die Stadionnachbarn der im Süden jenseits der Schwarzwaldstraße gelegenen, gutbürgerlichen Wohngebiete endet damit ein jahrzehntelanger, während der Saison zweiwöchentlich stattfindender Wochenend-Alptraum. Anders als die meisten in der Stadt ansässigen SC-Fans, kamen die aus dem Umland und vor allem die Auswärtsfans nicht mit dem Fahrrad zum Dreisam-Stadion, sondern vom Bahnhof aus mit der Straßenbahn, der Linie 1. Die hält auf ihrem Weg zur Endhaltestelle nach Littenweiler an der Haltestelle Römerhof, von wo aus sich die Fans durch die Querstraßen des angrenzenden Wohngebietes oft lautstark skandierend in Richtung Stadion aufmachten. Wenn sich die Anwohner nicht schon zuvor entschieden hatten, den Spieltag lieber andernorts und in Ruhe zu verbringen, brauchten sie starke Nerven. Und die ihre Grundstücke eingrenzenden Hecken auf jeden Fall starke Wurzeln. Die notdürftige Wildpinkelei war in den Vorgärten der Häuser zwischen der Dischlerstraße und der August-Ganther-Straße Anfang der Neunzigerjahre zu einem allfälligen Problem geworden, als der immer erfolgreicher aufspielende SC folglich immer mehr Zuschauer anzog. Das sind Erinnerungen, die ich aus meiner Freiburger Zeit in den Jahren 1987 bis 1993 noch präsent habe.

Es war ja nun stets so. Überall dort, wo ich mich fern meiner Schalker Fußballheimat längere Zeit aufgehalten habe, besuchte ich auch die lokalen Fußballstadien. Wo es ging und bei Sympathie, auch gern mit einer Dauerkarte versehen. Meine ersten Freiburger Stadionbesuche absolvierte ich im Sommer 1987 sowohl beim FC, dem Verein der Hochwohlgeborenen, im Mösle-Stadion, als auch beim SC, dem Verein der weniger Betuchten, im Dreisam-Stadion. Der SC hatte damals bereits dem zuvor lange Zeit viel erfolgreicheren FC den Rang abgelaufen und war eine feste Größe in der zweiten Liga geworden. Der Freiburger FC mühte sich hingegen mehr schlecht als recht in der Amateuroberliga ab. Bei meinem ersten Besuch im Dreisam-Stadion, im September 1987, habe ich mich in diesen Kickplatz sofort schockverliebt. Der SC spielte vor etwa 3000 Zuschauern gegen die Spielvereinigung Bayreuth. Es gab eine, an meinen Ruhrgebietserfahrungen gemessene, winzige Haupttribüne, daran anschließend eine noch winzigere Hintertortribüne, jeweils für das Sitzpublikum. Dazwischen eingeklemmt gab es so etwas wie eine Stadiongaststätte mit Terrasse, in deren Erdgeschoss am Eingang in einem kleinen Schalter auch die Eintrittskarten und Fanartikel verkauft wurden. 

Mein Billet war für die etwa 20-30 Stufen aufragende, nicht überdachte Gegengerade vorgesehen, wo das stehende Fußvolk sich in Höhe der Mittellinie ballte. Freie Platzwahl! Die hinter dem Tor an der Dreisam gelegene, ebenso dürftig ausgestattete Stehtribüne, war den Kutten und Fahnen tragenden SC-Fans vorbehalten, den echten Freiburger „Bobbeles“. Direkt hinter der sanft vor sich hinplätschernden Dreisam ragten die, für einen Flachlandgeborenen wie mich, mächtig erscheinenden Schwarzwaldhügel auf, mit riesigen Nadelbäumen bewachsen, mutmaßlich Tannen. Wie in einem Prospekt für Schwarzwaldurlauber. Hinter der Gegengerade war ein kleiner Schuppen, in dem man Bier, Wein und Bratwurst erwerben konnte. Alles in bester Qualität. Das Spiel war sehr kurzweilig, denn der der SC gewann souverän mit 5-1, wobei der heutige SC-Trainer Christian Streich den Führungstreffer beisteuerte. Zum Kader der von Jörg Berger trainierten Freiburger gehörten damals übrigens auch der Ex-Nationaltrainer Joachim Löw und Leroy Sanés Vater, Souleyman Sané. Ersatztorhüter war der heutige SC-Manager Klemens Hartenbach. Charly Schulz, den meiner Meinung nach besten SC-Spieler dieser Zeit, kennen dagegen nicht mehr sehr viele.

Damals schon und auch noch später wurde oft kolportiert, dass die faulen Freiburger Studenten sich zum Zuschauen auf der Gegengerade eigene Klappliegestühle mitbrächten. Platz dazu wäre genug gewesen, gesehen habe ich dort so etwas jedoch niemals. So idyllisch blieb es dann noch weitere drei Jahre bis Volker Finke das Traineramt übernahm und sich im Dreisamstadion plötzlich und in kürzester Zeit alles änderte. Bis Volker Finke kam, saßen in diesen drei Jahren davor, also nach Jörg Berger, noch rekordverdächtige sechs weitere Trainer. Das war keine so gute Zeit für den SC und die Erfolge mäßig. Volker Finke wurde zum „Gamechanger“ für den Verein und auch für das Dreisam-Stadion. In der Saison 91/92 verpasste der SC Freiburg den Aufstieg noch um Haaresbreite, doch der attraktive Fußball den die Freiburger plötzlich spielten, und vor allem der Aufstieg in die Bundesliga 1993 zog immer mehr Zuschauer an, sodass das Stadion durch den Neubau einer Tribüne auf der Gegengerade seinen Charakter vollständig veränderte. Bereits zu Ende der Saison 91/92 nach dem Beinnaheaufstieg war die systematische Vergrößerung des Dreisam-Stadions bereits eine beschlossene Sache. Als Wette auf die Zukunft und den Aufstieg in die erste Liga. 

An eines der letzten Spiele, dass ich mit freiem Blick auf den Schwarzwald und die Dreisam in dem „alten“ Stadion verfolgen durfte, erinnere ich mich besonders gut. Es war im Mai 1992 und der SC spielte gegen den Chemnitzer FC. Die Spielzeit 1991/92 war die erste Saison in einer zweigleisigen 2. Liga, in der die Vereine der Ostbundesländer in den Spielbetrieb der Bundesligen integriert wurden. Das Wetter war schön, doch der für 15 Uhr vorgesehene Anstoß ließ merkwürdig lang auf sich warten. Es gab ein Sicherheitsproblem, dass die im Stadion anwesenden etwa 30 Polizeibeamten auf der Gegengerade noch beschäftigte. Hinter dem sehr provisorischen Zaun, der den sich zur Südtribüne erstreckenden kleinen Gästefanbereich von der Gegengerade abgrenzte, kochte die Chemnitzer Fanseele. Auf die Nachfrage eines Freundes bei den anwesenden Polizisten kam heraus, dass die Chemnitzer Fans mit einem Platzsturm drohten, wenn nicht umgehend ein Transparent vom Zaun der SC-Fan-Stehplätze entfernt würde. Das „Transparent“ war ein weißes Tuch, etwa in Kopfkissengröße, auf dem geschrieben stand: „Der Schachclub Schwarze Pumpe grüßt Karl-Marx-Stadt“. Alles klar. Die schachspielenden Fans hängten die kompromittierende Botschaft vom Zaun und das Spiel konnte beginnen. Einige wenige hundert Chemnitz-Fans waren zufrieden und einige wenige tausend Freiburger Zuschauer auch, denn der SC gewann das Spiel deutlich mit 3-1. 

Christian Streich war nicht mehr dabei. Er hatte zu dem Zeitpunkt gerade mit dem FC 08 Homburg eine Saison als Spieler in der ersten Bundesliga absolviert und nach dessen Abstieg wieder beim Freiburger FC angeheuert, bei dem er in jungen Jahren bereits einmal gespielt hatte. Dort traf er wieder auf seine alten SC-Mitspieler Klemens Hartenbach, Martin Krieg und auch meinen Freiburger Lieblingsspieler, den unvergleichlichen Charly Schulz. Beim FC war er in der Oberliga-Saison 1991/92 mit 13 Toren bester Torschütze während – Funfact für die Stuggi-Propheten – Fredi Bobic mit 19 Toren Rekordtorschütze der Liga wurde, beim TSF Ditzingen. 1995 kehrte Streich als U19-Trainer zum SC Freiburg und ins Dreisamstadion zurück. Das hatte sich in der Zwischenzeit bereits mächtig vergrößert. Die Gegentribüne war bereits überdacht und der SC Freiburg war unter Volker Finke bereits im oberen Tabellenregal angekommen. Weitere Ausbaustufen folgten, die auch durch diverse Abstiegsstufen während der Ära Finke nicht beeinträchtigt wurden. 2008 wurden die letzten Umbaumaßnahmen beendet. Mehr ging baulich einfach nicht.

Obwohl das Spielfeld zu klein und mit einem gehörigen Gefälle von einem ganzen Meter in Richtung Fluss ausgestattet war, zählte das Dreisamstadion während der letzten 25 Jahre immer zu den attraktivsten Stadien der Liga. In 19 dieser 25 Jahre wurde darin Erste Liga gespielt und Christian Streich hatte über die gesamte Zeit, zunächst als Leiter der Nachwuchsakademie und seit nunmehr zehn Jahren als Cheftrainer, einen maßgeblichen Anteil an dieser Erfolgsgeschichte. Da ist es nur allzu verständlich, dass ihm der Abschied vom Dreisamstadion, seinem Stadion, mit dem er viele Emotionen und Erinnerungen verknüpft, nicht sehr leichtfällt.

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