Denk ich an Europa

Das Konzept der "Nationalmannschaft" ist am Ende. Wie gut, dass die Europameisterschaft zusehens an Bedeutung verliert.

Stell Dir vor, es ist Europameisterschaft und keiner schaut zu – und das obwohl der stolzen Nation deutschen Fußballschaffens mit Frankreich und Portugal eine attraktive Gruppe beschert wurde. Volle Absicht war das vom Rechenschieber, der diesmal die Losfee vertrat. Kein deutscher Fan wird nächstes Jahr behaupten, es läge am Gegner - an Weißrussland oder Nordirland -, dass ihn kein Spiel interessiere. Es wird dann nicht an der Print-Krise liegen, dass die Sonderhefte zur EM in .... (wo gleich nochmal?) in den Kiosken verschimmeln. Die Gründe der grassierenden EMotionslosigkeit liegen tiefer. EMpathielos haben die Verbände in den letzten Jahren zugeschaut, wie jeglicher Nationenfußball vor die Hunde geht. Als Gegengift verabreichten sie uns zwar wirre Turniere mit rätselhaften Ansetzungen, wählten jedoch die Dosis zu hoch. Das Gegenteil trat ein. Wiederbelebung wird schwieriger. Wenn wir ehrlich sind: Wochenenden mit Länderspielen sind reine Erholung. Fußballerisch gibts nichts zu verpassen. Zeit für andere Hobbys - oder guten Amateurfußball.

Die erste Europameisterschaft

Dabei wohnen in der Idee, ein Turnier über ganz Europa zu streuen, durchaus feine Gedanken, unter anderem Völkerverständigung, Miteinander, Dezentralisierung, Tiefe des Raumes, ferne Kneipen und so weiter... Blöd nur, dass dem Spiel längst jede vereinende Kraft abhanden gekommen ist. Früher war das anders, aber daran erinnert sich kaum noch jemand. Die erste Europameisterschaft wurde ins Leben gerufen worden, um die Freundschaft zwischen den Völkern zu stärken. Im Ernst! Die Sportkameraden der Arbeiterbewegung hatten in den frühen dreißiger Jahren ein europaweites Turnier für ihre Fußballgenossen organisiert. Wie heute wurde es in mehreren Ländern ausgetragen. Nationalhymnen waren verpönt. Es erkla-hang die Internationa-hale. Doch die Idee kam zu spät. Die Nazis verhinderten, dass das Turnier zu Ende gespielt wurde. Manche Historiker spekulieren heute noch, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn sich die Arbeitersportvariante des Fußballs mit ihren hohen Ansprüchen an Fairness, Anstand und Mannschaftsgeist gegenüber dem sogenannten bürgerlichen DFB-Fußball durchgesetzt hätte.

Vereinsfußball oder Nationalfußball

So lautet heute der Gegensatz. Die Fans stimmen mit den Füßen ab. Nationalmannschaft ist out - egal, ob man sie nur "Mannschaft" nennt oder nicht. Die internationalen Verbände haben es zugelassen, dass größere Dinge verhandelt werden, wenn Elf gegen Elf in Nationaltrikots spielen. Hundert Jahre nach der ersten EM hat der Nationalismus die Auswahlteams wieder im Griff. Türken salutieren. Bulgaren randalieren. Bei Russen und Ukrainern wird von vonherein verhindert, dass sie sich die Hände reichen können. Fairness und internationaler Anstand sind verpönt. Statt dessen wird Fußball zum Freiraum, in dem man ungestört national denken darf. Damit wird der ursprüngliche Gedanke pervertiert. Grenzziehungen werden wichtiger als der vereinende Gedanke, sich zu treffen, um das selbe Spiel zu spielen. Deutlich wird: Wenn es so weiter geht, erreicht das Konzept der Nationalmannschaften ein natürliches Ende. Zumindest in den Augen der Teile des Publikums, die sich auf Höhe der Zeit befinden. Dabei wird Fußball zum Opfer seiner eigenen Popularität. Wenn im Herrenhockey oder Frauenhandball eine Nation Europameister wird, geht es um Sport. Wenn im Fußball Serbien auf Albanien trifft, wird der Sieg zum Symbol einer Nation - und der gegenseitige Respekt liegt in Trümmern. Im Fußball kommt erschwerend hinzu, dass man die großen Turniere dazu mißbraucht, Unrechtsregime zu stabiliseren und ihre Herrscher in Szene zu setzen. Das strahlt aus, auch wenn das kommende Europameisterschaftsturnier nur zu einem Zwölftel in Baku ausgetragen wird.

Der Fluch der Popularität

Natürlich kommt es auch im Klubfußball zu falschem Pathos und Szenen grotesker Überbewertung. Aber der Spieler, der nach dem Tor das Red-Bull-Wappen küsst, macht sich lediglich lächerlich. Fängt er im Nationaldress das Wappenknutschen an (oder er weigert sich – andersrum gedacht - die Hymne mitzusingen), beginnt eine weltanschauliche Identitätsdebatte. Der Unterschied ist nicht nur symbolisch. Einem Verein kann jeder beitreten (wenn er nicht RB Leipzig heißt), einer Nation nicht. Ein Verein ist von Natur aus ein tolerantes Konstrukt. Das kann man nicht von jeder Nation behaupten. Kürzlich schrieb DFB-Präsident Keller in der ZEIT, dass der Fußball damit überfordert sei, gesellschaftliche Probleme stellvertretend zu lösen. Er sprach über die Integration. Aber seine Erkenntis passt auch auf anderen Feldern. Ein weiser Mann, der Fritz Keller. Allerdings darf hinzugefügt werden, dass der Fußball sich auf europäischer Ebene, vertreten durch UEFA und andere Verbände, auch extradoof angestellt hat. Korruption und anderes Geschacher um Geld und Posten sind leider wichtiger als Toleranz und Fairness.

Ein unbeschwerter Sommer

So gesehen erscheint es tröstlich, dass die kommende Europameisterschaft an Bedeutung verliert. Dafür dürfen Finnen mitspielen und andere Exoten. Das ist gerecht. Den mittleren und kleinen Ländern hat die Kommerzialisierung längst ihre nationale Liga kaputt geschossen. Sie dürfen jetzt im großen Nationenkonzert spielen. Darüber hinaus darf man sich freuen, dass in den großen Ländern die Begeisterung nachlässt. Das reisst Löcher in die Säckel der amtierenden Fußballmafia. Ebenfalls vorteilhaft: Andere Sportarten bekommen mehr Aufmerksamkeit - unter Umständen sogar der Amateurfußball. Und einen letzten, sehr persönlichen Aspekt will ich nicht vergessen: Super, dass ich im nächsten Juni meine Radtouren planen kann - ohne jede Gefahr, einen fußballhistorischen Moment zu verpassen.

Abschließend noch ein passender Werbeblock, apropos Europa...

tl_files/propheten_dark/stories/19_11_Blog im November/Zeitspiel 16.jpgWer sich wirklich für den europäischen Gedanken interessiert, also rein fußballerisch, dem sei das Zeitspiel Magazin mit Schwerpunkt Unterbau in Europa ans Herz gelegt. Es handelt sich um die #16te Ausgabe des Magazins für Fußball-Zeitgeschichten, in dem auch die Autoren dieses subversiven Blogs mitmischen. Wer einen Fußballfan mit einem einfühlsamen Weihnachtsgeschenk überraschen will. Zum Abo des Magazins kann man sich ab hier durchklicken.

 

 

PS. Das Beitragsbild habe ich mir von der empfehlenswerten Seite arbeiterfußball.de ausgeliehen. Es handelt sich um eineReklame der "Freien Sport-Woche" für das EM-Spiel gegen Österreich am 25. September 1932 in Dresden (Zeichnung: Georg Kretzschmar)

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