Denken in winzigen Dosen

Der Krieg überfordert uns alle. Obwohl die meisten einen (vorerst) sicheren Abstand halten können. Der Krieg stellt alles in Frage. Sogar das Fußballspielen. Sogar das Schreiben über das Fußballspielen. Darum sollten wir nachsichtig sein mit denen, die öffentlich in freier Rede etwas darüber sagen mussten, obwohl sie nicht fertig waren mit ihrem Nachdenken über diese bisher kaum denkbare Kriegssituation. Das gilt auch bei jenen, auf die wir Fußballfans normalerweise keine Rücksicht nehmen, also bei Rasenballsport Leipzig.

Wir wunderten uns sehr. Dosenklub-Trainer Domenico Tedesco hatte in seiner ersten Äußerung gehofft, dass das Europacupspiel gegen Spartak Moskaus tatsächlich stattfinden würde. Tedesco wörtlich: „Wenn die Frage nach einem Boykott kommt: Dabei trifft es meiner Meinung nach immer die Falschen. Es trifft in erster Linie die Sportler und die Fans.“ Dem Sportlehrer ist anzurechnen, dass er bis vor kurzem bei Spartak gearbeitet hatte. Daher sein Blick auf Spieler und Fans. Trotzdem bleibt die Überlegung unvollständig, wenn nicht grundfalsch. Tedesco übersieht, dass es die Richtigen trifft – und zwar in erster Linie. 

In den Fünfziger Jahren wurde aus Spartak ein Parteiverein. Offiziell war er der Stadtregierung unterstellt. Als es mit dem Kommunismus vorbei war, hatte der „Verein“ längst Reichtümer angehäuft, darunter unerhört viele Immobilien. Der Verein des Volkes war steinreich. Er gewann bis zum Jahr 2003 neun von zehn Meisterschaften. Der russische Fußball wird von Oligarchen oder großen Unternehmen finanziert. Spartak von Leonid Fedun. Sponsor ist der russische Gigant Lukoil. Bei fast jedem russischen Klub lassen sich solche Verbindungen finden. Zenit St. Petersburg ist eine Filiale von Gazprom, mit direkter Verbindung zu Putin. Der organisierte Sport wird in Russland seit jeher als Mittel zum Machterhalt eingesetzt. Putin füttert mit den Erfolgen seine politische Propaganda. Er demonstriert Selbstbewusstsein und Nationalstolz. Die Freundschaften, die Putin im Sport knüpfte, nutzte er stets zur Ausweitung seiner persönlichen Macht.

Man kann nur vermuten, dass Leipzig diese Zusammenhänge inzwischen erkannt hat. Dort hielt man es für angebracht, eine UEFA-Entscheidung über das Europacupspiel abzuwarten. Laut RB-Chef Mintzlaff die richtige Reihenfolge. Erst die UEFA, dann der Verein. Nebenbei sparte man sich eine eigene Haltung. Mintzlaff bestand jedoch auf den Fakt, bei der UEFA persönlich Druck gemacht zu haben. Fußballverbände aus Polen, Schweden und Tschechien hatten sich in der selben Situation entschlossener verhalten. Sie hätten ihre WM-Chancen geopfert, um nicht gegen Russland antreten zu müssen. Anders in Leipzig. Russland ist ein relevanter Markt für Red Bull. Gewesen. Stattdessen holte Mintzlaff zum Gegenschlag gegen „die Medien“ aus. Wörtlich: „Und dann ist für mich die Frage: Was will ich denn damit bezwecken?“. Dieses Argumentationsschema ist von anderen, bodenlosen Weltverschwörerinnen und -verschwörer bestens bekannt. Leider.

Tedesco hält sich inzwischen zurück. Mintzlaff nicht. Weil RB für das Erreichen des Viertelfinals einen niedrigen einstelligen Millionenbetrag bekommt, wurde Mintzlaff kürzlich mit der Forderung konfrontiert, das eingenommene Geld in die Ukrainehilfe umzuleiten. „Diese Diskussion kotzt mich total an. Jeder soll erst einmal bei sich selber anfangen“, entgegnete der RB-Chef. „Das ist mir zu viel Symbolpolitik. Dass wir eine gesellschaftliche Verantwortung haben und diese auch wahrnehmen, daran besteht gar kein Zweifel. Die, die jetzt fordern, die sollen das und das spenden, die sollen erst einmal selber spenden.“

Angesichts dieser Statements ist meine persönliche Nachsicht auf eine harte Probe gestellt. Ich würde gerne ergänzen, dass ein Millionenbetrag auf keinen Fall Symbolpolitik sein kann. Darüber hinaus betone ich: Es bestehen Zweifel an der Menschlichkeit von Rasenballsport Leipzig, sogar erhebliche. Und übrigens, Herr Mintzlaff, um mich auf ihre Reihenfolge einzulassen, möchte ich Ihnen mitteilen: Ich habe gespendet, und jetzt Sie, bitteschön.

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