Die ärmste Sau auf dem Platz

Von Trainern ignoriert, vom Publikum verspottet. Klassische Mittelstürmer sind nahezu ausgestorben. Eine Ehrenrettung.

Aufgewacht bin ich überwiegend ungern. Schließlich war ich in der Nacht ein hoffnungsvolles Talent gewesen, auf dem Weg zum Stammplatz beim aufstrebenden Bundesligsten VfB Stuttgart. Nach dem Aufwachen war ich plötzlich nur noch TSV Aurich, E-Jugend. Aber hey, immerhin Mittelstürmer! Ich nahm das als fettes Indiz einer bevorstehenden großen Karriere. Mittelstürmer wollten sie alle sein. Und meistens, wenn wir am Schaukasten die Aufstellung für den Samstag checkten, stand mein Name auf der Linie mit der Nummer 9. Ich war zwar immer der Kleinste des Jahrgangs, als Juni-Geborener auch der Jüngste, aber trotzdem: Mittelstürmer. Der Wandspieler war noch nicht erfunden. Bei uns ging's nicht ums Festmachen des Balles, sondern ums Reinmachen. Alle wollten damals Mittelstürmer sein. Schließlich war dort die Wahrscheinlichkeit am höchsten, dass ein Tor rausspringt bei all dem Gewetze und Gestolpere. Deshalb warst du nie alleine, da vorne drin. Irgendwie standen sie dir alle auf den Zehen. Die Gegner sowieso, mindestens Vorstopper und Libero und die eigenen Mitspieler auch, selbstredend jeder ein Mittelstürmer.

Der trifft doch nichts.

Früher war nicht alles besser, gleich gar nicht für hochwohlgeborene Mittelstürmer. Schlechter als heute kanns kaum werden. Heute ist der klassische Mittelstürmer die ärmste Sau auf dem Platz - ausgenommen die paar Spiele, in denen selbst die größten Bruddler sagen, der hätte grad einen Lauf. Aber Lauf wird immer seltener, ganz egal, ob man in einer Ballbesitz- oder einer Kontermannschaft steht.

In der Kontermannschaft braucht man die klassischen Mittelstürmer kaum noch. Da flitzen die Werners, Embolos oder Reus von der Seite. Nur falls diese Flitzer nicht treffen, ausnahmsweise, stellt man einen Neuner vorne rein. Der angestammte Platz für den klassischen Mittelstürmer findet sich auf der Ersatzbank. In der Ballbesitzmannschaft ist es noch fataler. Da wetzt sich der Neuner zwar wie ein Kreisläufer die Hacken wund, aber Bälle sieht er kaum. Schließlich heißt Ballbesitz vor allem Passsicherheit. Da spielt doch keiner den Mittelstürmer an, denn der gehört dorthin, wo der Gegner die Mitte dicht macht. Also wird munter ringsrum gekickt. Dem Mittelstürmer wird schwindelig. Bälle sieht er keine. Flanken auch nicht. Guardiolamannschaften spielen sogar die Ecken kurz.

Der kann doch nichts.

Das Beste: Als Mittelstürmer bist du auch noch schuld, wenn's schief geht. Gabriel Jesus bei ManCity zum Beispiel. Der taugt nichts, sagen die Fans. Aber wie soll er auch? Freilaufen kann er sich nicht. Es sei denn der Gegner hat Trinkpause. Die Ballbesitzteams erdrücken den Platz ums Tor dermaßen, dass der Mittelstürmer im Getümmel praktisch unsichtbar bleibt, egal wohin er läuft. Kommt er trotzdem an den Ball, aus Versehen, fliegt umgehend eine Grätsche an. Einzige Alternative: Hängende 9. Aber bitteschön: Es ist der Unterschied zwischen hängend oder in der Luft hängend. ManCity hat am Wochenende eine überraschende Niederlage gegen United eingefahren. 1:2. Erdrückender Ballbesitz. Jesus!

Ebenso die Bayern. Lewandowskis Lauf ist vorüber. Die Bayern verzeichnen beste Ballbesitzwerte. Aber vorne drin ist niemand, der es verwandelt. Taktikexperten verzweifeln, so schlecht spielen die Bayern nicht. Aber wenn der Pole nicht knipst, knipst niemand.1:2 aus Bayern-Sicht. Erdrückender Ballbesitz. Auch Dortmund ist nicht besser dran. Mit Alcacer hat sich die einzige Brechstange im Kader verletzt. Der nicht vorhandene, zweite Mittelstürmer wird inzwischen als Fehler der Kaderplanung zugegeben.

Spielt der überhaupt mit?

Das geht schon zwanzig Jahre so. Erst wurde der Neuner nicht mehr gebraucht, dann nicht mehr geschätzt, dann nicht mehr ausgebildet. Anders ist nicht zu erklären, dass ein Hendrik Weydandt erst mit 25 Jahren zur zweiten Mannschaft von Hannover stösst. Hätte man den früher hochklassig eingesetzt, diese rohe grobe Kante, er wäre ein echter Hrubesch geworden. Apropos zweite Liga: In Stuttgart wird bekanntlich gerade der Ballbesitzfußball eingeführt, runde zehn Jahre nachdem Guardiola mit dieser Strategie alles in Grund und Boden spielen ließ. Aber Walter gibt nur ein jämmerliches Zweitliga-Pepele ab. Mit Raten von mehr als 70 Prozent lässt er den Platz so einschnüren, dass dem Mittelstürmer kaum noch Luft zum Atmen bleibt. Bei Guardiola war Messi als entscheidender Spieler gesetzt. Ihm war gegeben, aus schnödem Ballbesitz plötzlich ein Tor zu zaubern. Wie Ballbesitzfußball aussieht, wenn Gonzales oder Castro an Messis Stelle spielen, kann man im Neckarstadion besichtigen. Zeitweise stehen sich Gomez und Al Ghaddioui doppelt und dreifach auf den Zehen – in dem Raum, in den der VfB sowieso nur selten spielt. Immerhin hat sich der alte Fahrkartenknipser Gomez kürzlich mit einem Trick aus der misslichen Lage befreit. Er stand im einzig freien Raum. So erzielte er stolze drei Abseitstore in einem Spiel. 0:2 gegen Sandhausen. Erdrückender Ballbesitz. Vor dem Heimspiel gegen Nürnberg hat er sich wohl die Nase operieren lassen. Kaum war sie etwas kürzer, traf er regulär.

Den brauchen wir nicht.

Gute Mittelstürmer haben sich rar gemacht. Deutsche Fußballschulen haben seit zwei Jahrzehnten keinen ausgebildet. Als Sinnbild der Stürmerflaute darf Claudio Pizarro gelten. 41 Jahre hat er auf dem Buckel - und wird ständig eingewechselt, übrigens nicht als Maskottchen. Pizarro kann das, was aktuell hoch im Kurs steht: Nicht nur festmachen, sondern gleich reinmachen. "Du brauchst nicht über Taktik zu philosophieren, wenn du vorne keinen drin hast, der die Dinger rein macht," analysierte gestern Marc Janko nach dem Wiener Derby, bei dem Rapid in der zweiten Halbzeit die Dinger beharrlich nicht rein gemacht hatte.

In ganz Europa gibt es aktuell nur einen jungen Mittelstürmer, der die Dinger wirklich reinmacht: Erling Braut Haaland von Red Bull Salzburg. Der hat gerade einen Lauf. Transfermarkt.de taxiert den 19-jährigen Norweger bei 30 Mio. Als Prophet und kommender Mittelstürmer des VfB Stuttgart sage ich voraus: Wenn Haaland zu einem großen Klub wechseln sollte (also nicht nach Leipzig), dann wird ein dreistelliger Millionenbetrag fällig. Mindestens. Kein Wunder, Haaland ist seit jeher der Größte seines Jahrgangs – und ein Juli-Geborener.

 

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Danke für das ferkelige Beitragsbild an Christopher Gibson (via unsplash.com)

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