Die VARheit

Die unendliche Geschichte des VAR und was man entdeckt, wenn man genau hinschaut auf Fußball und Rugby.

Seit Freitag läuft das drittgrößte Sportevent der Welt. Alle gucken hin, der ganze Globus. Nur ein germanisches Dorf ignoriert den schönen Sport, den man bei der Rugby-WM bewundern darf. Dabei könnte Fußballdeutschland so viel lernen. Auf wundersame Weise ist das, was die Engländer Sportsmanship nennen, was hierzulande mit dem Begriff Fairness nur unzureichend zu übersetzen ist, im Fußball etwas verkommen. Nur ein Beispiel: Im Fußball versuchen die Spieler 90 Minuten lang so zu tun, als hätten sie Schmerzen. Im Rugby versuchen die Spieler 80 Minuten lang so zu tun, als hätten sie keine Schmerzen. Dass der sportliche Anstand im Rugby erhalten blieb, hat mit Ehrenkodex, einer speziellen Kultur der Sportart, aber auch mit den Regeln zu tun. Die Unparteiischen haben ein empfindliches Strafenregister in der Tasche - und keiner zögert, es konsequent einzusetzen. Ergebnis: Sogar der 150-Kilo-Bulle aus Tonga bleibt brav wie ein zartes Lämmchen, wenn ihm etwas nicht passt.

Ton an!

Auch im Rugby gibt es einen VAR. Der Schiri fällt eine Entscheidung. In wichtigen Situationen wird sie überprüft. Wenn auf dem Bildschirm keiner den Beweis des Gegenteils erkennt, bleibt es bei der Entscheidung auf dem Platz. Der Unterscheid zum Fußball: Beim Rugby ist alles transparent. Jedes Wort des Schiedsrichters, jeder Pups aus der Videokabine wird über die Stadionlautsprecher in die Welt posaunt. Ausnahme: Deutschland. Dort hört niemand zu. Hierzulande sind wir damit beschäftigt, uns über den VAR aufzuregen. Die überflüssige Diskussion geht von einigen unsäglichen Talkformaten aus. Auch den Journalisten fehlt es an Disziplin. Wann wird doch noch darüber reden dürfen, gewiss. Aber warum denn dauernd? Im Doppelpass und bei sky90 müssen Stunden mit Quatsch gefüllt werden. Das Videomaterial garantiert Aufreger und füllt die Sendungen, auch wenn es sonst nichts zu quasseln gibt. Im Print, in Blogs und auf Twitter werden diese Analyse mit sich selbst multipliziert. Sachlicher wird es selten, außer bei Collinas Erben. Medienexperten nennen diesen Mechanismus Agenda Setting. Im Fußball klappt das prima. Bemerkenswert dabei: Die Rugby-Berichterstattung analysiert die Entscheidungsfindung weniger aufgeregt. Journalisten loben die Schiedsrichter häufiger, als sie sie kritisieren. Aus einem einfachen Ground: Übers Mikro bekommen sie mit, wie der Schiedsrichter das Spiel moderiert. Bei Rugby kann man an der Pfeife zum Star werden. Beim Fußball bleiben die Männer in schwarz ein notwendiges Übel. Niemand versteht sie.Beim Videobeweis ist es nicht anders.

Besserwisser

Laut einer aktuellen Umfrage des FC PlayFair! (bei dem ich selbst Mitglied bin), lehnen 40 Prozent der Fußballfans den Videobeweis ab. Runde 150.000 dieser Spezies wurden via Kicker befragt. 62 Prozent beklagen, dass das Instrument dem Fußball die Emotionen nimmt. Oha, die Emotionen! Wenn es an die Lieblingsfloksel jedes Fußballreporters geht, wird es ernst. Dabei ist auch die Diskussion um den VAR mehr emotional als sachlich geführt. Daran lässt sich ablesen, dass die Emotionen durch den VAR eher zu- statt abgenommen haben. Vermutlich hatte man in der Umfrage tatsächlich nach Emotionen gefragt, und darum eine emotionale statt sachliche Antwort erhalten.

Bei Fußballfans ist die Tendenz verbreitet, dass samstagsnachmittags bitteschön alles zu bleiben habe, wie es in den Siebzigern war. Soll eigentlich die Digitalisierung zurückgedreht werden, nur weil sie uns das Problem des Datenschutzes eingebrockt hat? Werden Autos in Frage gestellt, weil sie uns das Thema Verkehrssicherheit beschert haben? Sowas gibt's nur im Fußball. Weil die neue VARologie logischerweise Kinderkrankheiten hat, wird sie in Bausch und Bogen verdammt. Rundweg. So ein Mist. Weg damit. Früherwarallesbesser. Wie gut, dass sich der FC PlayFair! erkundigt hat: Allem Lamento zum Trotz, sind rund die Hälfte der Fans grundsätzlich mit dem neuen Instrument einverstanden.

Hand!

Als leuchtendes Beispiel fürs scheinbare VARsagen wird die Auslegung des Handspieles angeführt. Es greift eine bestechende Logik: Weil wir angeblich erst über die Hand diskutieren, seit es den VAR gibt, muss der VAR dran schuld sein. So funktioniert Fußball. Ein einfaches Spiel mit einfachen logischen Verknüpfungen. Man sollte sich für folgenden Gedanken öffnen: Erst durch das genaue Hinschauen, welches der VAR ermöglicht, wird es notwendig, eine Regel zu präzisieren, die seit hundert Jahren schwammig geblieben war - und nur dadurch schwammig überlebte, weil man sich auf die Auslegung durch den Schiedsrichter berufen konnte. Man möchte den DFB und das Board of Rules loben. Endlich versucht man die Hand-Regel genauer zu definieren. Ein Unterfangen, das seit einem halben Jahrhundert überfällig ist. Laut der Umfrage des FC PlayFair haben 90 Prozent der Aussage widersprochen, die Auslegung des Handspiels sei durch den VAR verständlicher und klarer geworden. Da der VAR nicht erfunden wurde, um unpräzise Regeln gerade zu ziehen, sagt dieses Umfrageergebnis nichts über den VAR aus. Gleichwohl vieles über die veraltete Handspielregel.

Entscheidung auf Verlangen

Weil sich der Verein für Fan-Belange einsetzt, formuliert er am Ende seiner Ausführungen eine scheinbar konsensfähige Lösung. Angeregt wird eine Video-Überprüfung von Entscheidungen auf Verlangen der beteiligten Teams. Diese Forderung ist endgültig fragwürdig. Was würde passieren, wenn die Trainerbank einmal pro Halbzeit eine Entscheidung fordern könnte? Ganz einfach: Die Vereine würden sich spezielle Just-in-time-Video-Eingreiftruppe zulegen. Man darf erwarten, dass Leipzig und München schneller und besser wären als Freiburg und Augsburg. Die populistische Forderung, die Video-Überprüfungen auf Verlangen durchzuführen, würde in einen unsäglichen Technologiewettlauf münden. Es trifft die Kleinen der Liga. Die Schere würde noch weiter aufgehen.

Reformen am VAR sind gewiss notwendig. Einfache Lösungen sind den komplizierten vorzuziehen. Wie wär's mit Rugby schauen? Das geht fast allmorgentlich auf höchstem Niveau. Die WM findet in Japan statt. Jeden Morgen kann man bestaunen wie einfach man den VAR verbessern kann und dabei die Akzeptanz erhöht. Einfach das Schiri-Mikro über den Stadionlautsprecher laufen lassen. Effektiver kann man Schiedsrichter nicht vor Beleidigungen schützen. Die Zuschauer könnten alle Entscheidungen nachvollziehen und sogar die meckerfreudigen Bundesligaprofis würden sich in Windeseile Manieren aneignen. Sie wären bald so faire Sportsmänner wie der 150-Kilo-Schrank aus Tonga.

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