„Hurra, der VfR ist wieder da!“

Spieltag für Spieltag feiern Fans – und singen, sie sind „wieder da“. Beim VfR Heilbronn hat es schlappe 15 Jahre gedauert. Eine Zwischenbilanz der ambitionierten Wiedergründung.

Wer wissen will, welchen Wert hundert Jahre Fußballtradition haben, kann VfR-Fan Michael Bucci fragen. „Das alte VfR-Feeling ist wieder da“, sagt er im neuen VfR-Podcast. Bezirksliga? Scheissegaaaal! Anderes ist wichtiger. In erster Linie Wappen, Farben und Stadion. Und vor allem die Menschen. Bucci freut sich: „Man trifft wieder Leute, die damals zu Zweitligazeiten da waren.“ Lang, lang ist’s her.

Es sind nicht mehr viele, die die große VfR-Epoche erlebt haben. Zweite Liga 1974! Danach geht’s bergab. Die Insolvenz steht 2002 fest. Eine Pleite, von der man sich niemals erholt. Der Ruf des VfR ist komplett im Eimer. Chaos. Rote Zahlen. Misslungene Steuermanöver. Im Jahr 2003 fusioniert der taumelnde VfR mit der Heilbronner Spielvereinigung 07 zum FC Heilbronn. Damit ist das Ende der VfR-Tradition besiegelt. Der württembergische Fußball verliert einen seiner klassischen Vereine. Viele Jahre und eine Insolvenz später wird nochmals fusioniert: mit Union Böckingen, dem früheren Erzfeind des schwarz-weißen VfR. Als würden die Offenbacher Kickers mit Eintracht Frankfurt gemeinsame Sache machen. Dem Fußball der Stadt nützt es nichts. Im Gegenteil. Der neue Verein FC Union Heilbronn spielt heute in der Bezirksliga Unterland auf Ligastufe 8 von 11.

So trifft man sich wieder. FC Union Heilbronn - VfR Heilbronn 1:4. Der Fusionsclub unterliegt der Wiedergründung – und zwar deutlich. Der VfR schreibt selbst: „Eine durchschnittliche Leistung reicht zum Derbysieg“. Wer die VfR-Ansprüche an der verhaltenden Bewertung ablesen mag, liegt völlig richtig. Die Neugeborenen haben Großes im Sinn: Regionalliga ist angepeilt. Vorläufig ist alles im Soll: Der VfR führt zur vorverlegten Corona-Winterpause die Bezirksliga an – mit Abstand. Der Nr. 1 der Stadt leuchtet wieder schwarz-weiß. Sollte der Aufstieg gelingen, ist es der dritte in drei Jahren nach der Wiederauferstehung.

Läuft beim VfR

Verantwortlich dafür ist Onur Celik. Alleingang wäre zu viel gesagt, aber so ähnlich. Celiks Anteil an der schwarz-weißen Wiederauferstehung beträgt zwischen 95 und 99 Prozent, je nach den, wen man fragt. Celik stammt aus der letzten erfolgreichen Mannschaft des VfR: der A-Jugend, die im DFB-Pokal-Finale 1996 Energie Cottbus mit 6:1 überfuhr. Auch Sportjournalist Robert Mucha gehört zu den DFB-Pokalsiegern von damals. Er bestätigt: „Onur und sein Telefonbuch – das zieht!“ Aber Mucha erinnert sich, wie er selbst auf eine erste Anfrage von Celik reagiert: „Gute Idee, aber ich bin nicht dabei.“ Im Grunde eine normale Reaktion, wenn man die Geschichte des VfR kennt. Wiedergründung? Och… äh… vielleicht ein andermal… ist grad viel los bei mir. Inzwischen produziert Mucha für den VfR den Podcast „Stadtclub“.

Überhaupt: die sozialen Medien. Seit Stunde eins bespielt der VfR alle Kanäle. Social Media Manager: natürlich der Präsident. Celik nimmt die Dinge in die Hand. Dass ihn viele nicht für voll nehmen, ist ihm gleich. Sie werden ihn schon noch kennen lernen. Celik wirbelt und zieht die Anderen mit. Auch die Heilbronner Stimme begleitet die Wiederauferstehung freundlich, keinesfalls selbstverständlich bei der Skandalchronik des Alt-Vereins. Hoch offiziell wird der Verein beim Italiener neben dem Frankenstadion aus der Taufe gehoben. Das erste Gründungsjahr 1896 wird gespiegelt. Der Verein nennt sich VfR Heilbronn 96/18. Vereinsfarben und Wappen wie früher. Die Rechte an Name und Wappen waren wieder frei. Erloschen auch alle Ansprüche aus offenen Alt-Rechnungen. Los geht’s, VfR!

Am Originalschauplatz

Aber wo bitte, soll dieser Verein spielen, den niemand mehr auf der Rechnung hat? Die Traditionsutopisten treffen sich zu ersten Trainingseinheiten auf einer Wiese hinter dem Frankenstadion – ähnlich zünftig, wie vermutlich die historischen VfRler 1896 begonnen hatten. Nur Onur Celik springt wieder zehn Schritte voraus. Er ahnt, dass sein Projekt nur Erfolg haben kann, wenn es an traditioneller Stätte spielt. Das Klinkenputzen in der Stadtverwaltung hat Erfolg. Die Neugründung spielt von Anfang an im Frankenstadion. Das gilt zwar nur Spiele, nicht für das Training. Aber immerhin. Die Zusage des Stadions gibt letztlich den Ausschlag schon im Sommer 2018 loszulegen. Nur wenige Wochen nach Gründung wird die erste Stufe der Rakete gezündet.

Loslassen

Der vielleicht wichtigste Erfolgsfaktor, darin stimmen VfR-Fan Bucci und VfR-Journalist Mucha überein: „Wenig vom alten VfR auf dem Platz. Nichts vom alten VfR in der Verantwortung“. So gesehen haben 15 Jahre Pause gut getan. Natürlich stehen die Sponsoren nicht Schlange in der sechstgrößten Stadt des Bundeslandes. Aber Potential ist vorhanden. Im Moment stehen 30 kleinere bis mittlere Unternehmen auf der Sponsorenliste. Wichtigster Baustein: die Jugend. Präsi Celik ist stolz darauf, von den Bambinis bis zur A-Jugend komplett zu sein. Es besteht eine Kooperation mit dem VfB Stuttgart. Zu Jahresbeginn 2022 zählt der Verein 400 Mitglieder.

Jede und jeder ist wichtig, aber gute Trainerinnen und Trainer, betont Celik, sind vielleicht der allerwichtigste Baustein des Erfolgs. Ein Damenteam ging letzten Sommer an den Start. Schon auf den ersten Aufruf haben sich mehr Spielerinnen gemeldet als man je vermutet hätte. Tradition überzeugt. Der plakative Slogan „Der Stadtklub“ wirkt. So offen Celik vor drei Jahren ausgelacht wurde, so breit ist nun die Zustimmung. Klar, hat so ein Stadtklub gefehlt! Nur in Böckingen mag man nicht so richtig zustimmen. Historisch falsch ist es keinesfalls, wenn der FC Union Heilbronn behauptet, dass die Reste des alten VfR im FC Union drin stecken. Alles wie früher: Auf Böckinger Seite sieht man die Dinge von der anderen Seite. Der Neckar ist wieder mehr als ein Fluß, er ist eine fußballerische Grenzlinie zwischen den Revieren. Auch das hat Tradition.

Sehnsucht wie früher

Beim neuen, alten VfR schielt man längst in andere Richtungen. Im umfassenden „Plan 2031“ wird kürzlich die Regionalliga als Ziel bestätigt. Nächste Stufe: Landesliga. Aber der Verein wäre kein Senkrechtstarter, wenn er nicht schon zur Sport-Union Neckarsulm im Visier hätte, den größten Amateurklub des Heilbronner Lands. Neckarsulm spielt in der Oberliga, rund 10 Kilometer vom Frankenstadion entfernt. Weit ist es nicht, rechnen manche Schwarz-Weißen: von heute an drei Aufstiege. Visionen sind der Antrieb. Mit dem Vorwurf, eine große Klappe zu riskieren, lebt man. Wer den Fußball liebt, muss Lautstärke vertragen.

Cooler Move

Lassen wir kurz die Fußballromantik beiseite. Stellen wir uns eine Großstadt vor, in der sich ein neuer Verein gründet. Die New Kids on the Block genehmigen sich eine große Klappe. Sie fantasieren schon am ersten Tag vom Ziel Regionalliga. Was würde man in der Stadt denken, was die interessierte Fußballöffentlichkeit? Vielleicht überhaupt nichts. Vielleicht würde sich niemand dafür interessieren. Und falls doch, würde man die Neuen einen „Retortenklub“ schelten.

Lassen wir kurz den Fußball beiseite. Nur für einen Absatz. Nehmen wir ein Beispiel aus dem Zweit-Hobby der Deutschen, dem Auto. Auch dort war früher nichts besser. Überhaupt nichts. Unkomfortabel war’s, unsicher und langsam. Trotzdem hat BMW für teueres Geld den Mini ausgegraben und wieder aufgelegt. Zwanzig Jahre ist es her. Der Mini galt damals schon als retro. Die Geschichte mit dem Fiat 500 hat ähnlich funktioniert. Im Resultat ähnlich gut. Marketing-Fachkräfte schwafeln von der Kraft der Marke.

Tradition ist keine Marke. Tradition ist viel mehr. Geschichte besitzt einen Wert – und keinen geringen. Der Mini hat es zu britischen Zeiten nie zu einem ausgereiften Modell geschafft. Trotzdem ist seine Wiederbelebung eine Erfolgsgeschichte. So gesehen ist es ein cooler Move, den VfR wach zu küssen. Wie schön, dass keine kommerziellen Motive dahinter stecken. Onur Celik und seine Freunde tun es für die Region – und sie mögen die Vorstellung eines großen, bedeutenden Klubs in einer großen Stadt, die seit Jahrzehnten vom großen Fußball abgeschnitten ist.

Die VfR-Tradition ist wieder da – repräsentiert durch einen Verein, der in Namen, Wappen und Stadion identisch ist mit einem Verein, der vor fünfzehn Jahren unterging. Auch die gute, alte VfR-Sehnsucht ist wieder da. Die vergessenen Heilbronner Träume, eine bedeutende Fußball-Metropole zu sein, wachsen auf  frischen Nährboden in den Himmel. Das Heilbronner Projekt ist ein ganz besonderes. An Traditionsvereinen werden gerne verkrustete Strukturen kritisiert. Ohne Krusten und Gremien, so wird häufig gestöhnt, wäre man längst zwei Klassen höher. Beim neuen VfR sollte das nicht passieren. Bleibt spannend am Neckar.

Dieser Bericht über den VfR Heilbronn ist vor kurzem in der Ausgabe 26 des Magazins Zeitspiel erschienen. Neben weiteren Geschichten über den Amateurfußball in Zeiten des Turbokapitalismus enthält die Ausgabe einen ausführlichen Schwerpunkt zu 30 Jahren Premierleague. Untertitel: Die Erfindung des modernen Fußballs. Außerdem in der Ausgabe:
- Vergessene Helden: Lars Leese
- Zukunft des Fußballs: ein Interview mit Manni Schwabl
- Global Game: Der Afrikacup 2022
 

 

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