Ich, unter Antisemitismusverdacht

Über ernste Themen soll man keine Witze machen, schlechte gleich gar nicht. Leider sind manche Ansichten der selbsterklärten Antisemituskritikerin Tina Sanders frustrierender als jede fehlende Pointe. Wie sich gut gemeintes Engagement ins Gegenteil verkehren kann.

Nichts liegt mir ferner als Antisemitismus. Es gibt überhaupt keinen Grund, Juden oder ihren Glauben zu verachten. Das gilt völlig unabhängig von der besonderen Geschichte meines Landes. Ganz im Gegenteil. Immer, wenn Minderheiten wegen Abstammung, Glaube, Überzeugung oder Äußerlichkeiten angegangen werden, reagiere ich mit einem Gegenreflex. Ich halte es für einen zutiefst menschlichen Zug Minderheiten zu verteidigen, vorausgesetzt die Minderheiten sind nicht gewaltsam oder gemeingefährlich. Darum wird auch in meinem zweiten Buch der jüdische Fußball und seine Widerstandskraft in einem eigenen Kapitel gewürdigt. Gern geschehen, es ist mir ein Anliegen.

In dieser aufgeschlossenen Gemütslage besuchte ich am Mittwochabend das Kulturzentrum komma in Esslingen. Dort sprach Tina Sanders über Antisemitismus im Fußball. Als engagierte Kämpferin fürs Gute trat die in Leipzig lebende Österreicherin mit dieser akademischen Gewissheit auf, die Menschen manchmal zueigen wird, wenn sie mit jedem Detail der Materie vertraut sind. Dreißig aufmerksame Gäste lauschten ihren Ausführungen, viele davon Fußballfans. Sanders engagierter Vortrag kam tatsächlich in Schwung. Auch wenn sie viele ihrer selbstgebastelten Schachtelsätze ablesen musste, konnte man interessante Fakten aufschnappen. Etwas unruhig im Publikum wurde es allerdings als Sanders erklärte, welch antisemitische Grundeinstellungen dem Slogan "Gegen den modernen Fußball" zugrunde liegen. Hatte ich richtig gehört? Der weit verbreiteten Forderung "Gegen den modernen Fußball" soll ein antisemitisches Schema inne wohnen? Wenn das stimmt, gibt es nur eine Konsequenz: Demnach muss es sich bei mir, der ich mich mit dem Slogan einigermaßen identifiziere, um einen Menschen handeln, der einen Beitrag dazu leistet, dass sich antisemitische Einstellungen festigen. Grob verkürzt: Seit Mittwoch gegen 20.00 Uhr stehe ich unter Antisemitismusverdacht. Ich gebe zu, das nervt mich gewaltig. Ich nehme das persönlich.

Gegen den modernen Fußball

Bisher begriff ich die Parole als Protest gegen Überkommerzialierung im Fußball. Damit stehe ich nicht allein. Es handelt sich um eine ebenso romantische wie diffuse Parole gegen manche Auswüchse unserer heutigen Fußballstrukturen. Gleichwohl enthält das Anliegen konkrete Anteile. Wer gegen den modernen Fußball ist, setzt sich für Fanbelange ein, für fanfreundliche Anstoßzeiten, für mehr Teilhabe und demokratische Strukturen in den Vereinen, für ein schönes Stadionerlebnis, für die 50+1-Regel und für andere Ziele, in denen wenig Schlechtes zu erkennen ist. Der moderne Fußball hat manches, was man nicht unbedingt schön finden muss. 99 Prozent der Menschen, die sich hinter dieser Parole versammeln, wollen mit strukturellem und teils sozialistischem Antisemitismus nichts zu tun haben. Um sie gegen Tina Sanders zu verteidigen, lege ich mich noch fünf weitere Absätze ins Zeug.

Und das soll antisemitisch sein?

Am Ende des Vortrags frage ich nach. Sanders deutet die komplexe und diffuse Forderung "Gegen den modernen Fußball" als platte, altsozialisitische Kapitalismuskritik. Respekt vor Fans und ihren ebenso aufrichtigen wie komplexen Forderungen kennt sie nicht. Sie tut so, als wären die Fangruppen in den Stadien samt und sonders Nachfahren der antikapitalistischen Linken. Schön wär's möchte man fast meinen, aber in Tat und Wahrheit kommen die Menschen in die Stadien, weil sie Fußball sehen wollen. Auf St. Pauli erscheinen ein paar Linke mehr. In Chemnitz sollen wohl Rechtsausleger auf den Tribünen zu finden sein. So ist das halt, ein Spiegelbild der Gesellschaft möchte man feststellen – auch auf die Gefahr hin, dass man fünf Euro ins Phrasenschwein wirft.

Sanders sieht die Gemengelage anders und auf dieses Missverständnis setzt sie ihre Argumente. Vom Fanblock zieht sie eine direkte Linie zur antikapitalistischen Linken und dem Antisemitismus, der unter Frühsozialisten, der europäischen Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts und der marxistischen Klassiker propagiert wird. Natürlich darf man Sanders in manchen Punkten zustimmen, unter anderem in dem, dass Sport politisch ist. Doch die Hälfte ihrer Zuhörer auf diese Weise zu Trägern antisemitischen Klischees zu degradieren, ist schon eine abenteuerliche Publikumsbeleidigung. Zur Beweisführung wirft die Expertin ein Transparent einer rechten Gruppe aus Halle an die Wand, die ein Banner "gegen den modernen Fußball" zeigt. Sie kritisiert Meinungsäußerungen aus dem rechten Spektrum mit linken Antisemitismusklischees. In aller Unsachlichkeit eine gefährliche Mixtur.

Sanders gegen die Schickeria

Auch bei der Münchner Schickeria diagnostiziert die furiose Akademikerin antisemitische Muster. Dieses Kunststück muss man erstmal schaffen. Zur Erinnerung: Die Münchner Gruppe Schickeria ist bundesweit bekannt geworden mit eindrucksvollen Choreos, die an Kurt Landauer erinnern, den legendären jüdischen Bayern-Präsidenten. Die Gruppe erhielt Beifall aus ganz Deutschland und den Julius-Hirsch-Preis des DFB. Eigentlich gibt es keinen Zweifel: Die Schickeria engagiert sich vorbildlich im Kampf gegen den Antisemitimus. Nicht nur in Choreos, sondern auch in anderen Aktionen wie zum Beispiel Fußballturnieren.

Doch auch bei der Schickeria seziert Sanders das Haar in der Suppe und verdreht die Dinge in ihr Gegenteil. Sie moniert das Fußballturnier. Es firmiert offiziell als "Antirassistisches Einladungsturnier um den Kurt-Landauer-Pokal". Man möchte annehmen, dass die Schickeria viel Mühe und Verve in ein solches Turnier steckt. An Sanders schöngeistigem Elfenbeinturm kommen sie damit nicht vorbei. Sanders bekrittelt, dass man Antirassismus und Antisemitismus auf keinen Fall in einen Topf werfen könne. Die Verkürzung nimmt sie ernsthaft zum Anlass, die aufrichtige Haltung der Schickeria grundsätzlich in Frage zu stellen. Laut Sanders hätte die Schickeria zum "Antirassistisches und anti-antisemitischen Einladungsturnier um den Kurt-Landauer-Pokal" einladen müssen. Der Einladungsflyer hätte eine zusätzliche Klappseite benötigt. Im Anschluss an den Vortrag erkundige ich mich bei Sanders, ob sie mit Vertretern der Schickeria gesprochen hatte, so wie es für akademische Gründlichkeit selbstverständlich sein sollte. Sanders schaut mit wahrnehmbarem Unverständnis auf mich herab: "Natürlich nicht!"

Ihre letzten wohlgesonnenen Zuhörer verprellt die neunmalkluge Referentin schließlich, in dem sie der Kritik an Rasenballsport Leipzig ebenfalls eine pauschale antisemitische Kompontente andichtet. Man gewinnt den Eindruck, dass bereit wäre jeden angeblichen Kapitalneid in die unsägliche Schublade zu stecken. Langsam begreifen manche Zuhörer den Ansatz. Um Antisemitismus scheint es nicht zu gehen. Es geht um die intellektuelle Gefallsucht einer Referentin, die verzweifelt darum kämpft, ihrem Thema Aktualität zu verleihen. Damit wenden sich ihre Vorwürfe gegen sie selbst. Sie benimmt sich wie ein katholischer Priester, der mit homophoben Verunglimpfungen von seiner eigenen Männerliebe ablenken will. Für das ehrliche Anliegen ist diese Haltung kontraproduktiv. Wer sich wirklich über Antisemitismus informieren will, dem sei der ArtikelJudenhass im Fußballvon Ronny Blaschke empfohlen, von 2015 und immer noch aktuell. Übrigens auch mit einer differenzieren Klarstellung, was die Anfeindungen gegenüber RB Leipzig betrifft.

Leider war dem Abend keine Wendung zum Guten vergönnt. Gegen neun Uhr verließ ich den Ort der Veranstaltung, gemeinsam mit einigen Freunden, für die ich mich an dieser Stelle ebenfalls gegen jeden Anfangsverdacht des strukturellen Antisemitismus verwehre. Mein Lernerfolg: Übereifer kann sogar grundgute Anliegen ins Gegenteil verkehren. Insofern war der Abend lehrreich. Den Minderheiten dieser Welt wünsche ich von Herzen, dass keine Dogmatikerin für sie Partei ergreift.

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