Im Herbst der Liga

Der Herbst der Liga verläuft spannender denn je. Die Tabellenspitze ist eng zusammen. Den Klub, der zur Jahreszeit passt, findet man jedoch tiefer im Tableau.

Die grau melierte Trübsal des Novembers bricht immer dann über einen herein, wenn man sie am wenigsten gebrauchen kann. Volkstrauertag und Totensonntag sind erst der Anfang der nasskalten Trostlosigkeit. Aller Erfahrung nach kommt es noch schlimmer. Nur die Gegner der Sommerzeit grinsen hämisch. Der große Rest tastet sich um vier Uhr nachmittags durch konturlose Dunkelheit. Besser man geht gar nicht erst vor die Tür. Gedankenverloren schaue ich direkt in meine frisch montierten Tageslichtbirnen. Sollen Depressionen vorbeugen, sagt man. Ich starre. Dieser Totenmonat will einfach nicht vorüber gehen. Und falls doch: Dahinter lauert die nächste Katastrophe, November II – also nochmal dasselbe, nur mit Weihnachten drin.

In dieser verzweifelten Situation erscheint am Ende des Grauschleiers eine Bundesliga-Verheißung wie sie leuchtender nicht sein könnte. Ein Fußballfeuer in Erwartung. Mit Strahlkraft von Lissabon bis Novosibirsk. Seit der Europacup erfunden wurde, hat es nichts Größeres, Besseres, Spektakulärererereres gegeben. City, Real und PSG können einpacken, denn wörtlich ist vom "spannendsten Fußballprojekt in Europa" die Rede. Und das bei uns, in unserer kleinen Bundesliga! Man glaubt es kaum. Da gerät selbst der Novemberschleier ins Knistern. Was könnte das wohl sein? Na, wer löst das Rätsel?

Meine Damen und Herren, bitte begrüßen sie mit mir das "spannendste Projekt der Bundesliga": HERTHA BSC!

Respekt, lieber Jürgen Klinsmann. Die zwanzig Jahre California Dreaming waren nicht umsonst. Von dem Zeugs, was Klinsi geraucht hat, möchte man gerne etwas abhaben. Was selbst Hertha spannend macht, bläst jede Novemberdepression weg. Todsicher. Motivationsmagier Klinsmann legt vor. Das Olympiastadion rastet kollektiv aus. Erstmals seit 1933 außerhalb eines DFB-Pokalendspiels.

Dass Klinsmann einen Monat zuvor mit dem VfB Stuttgart geflirtet hatte, wird als business as usual abgebucht. War ja dort nicht halb so spannend wie jetzt in Berlin. Die Erkenntnis dürfte in Ludwigsburg zur Welt gekommen sein. Dort wo "Medienberater" Roland Eitel souffliert und mit seiner findigen Fußballrute die Quelle ortet, wo es am wärmsten raussprudelt für seine Kunden, allesamt Ex-Profis, Ex-Bundestrainer oder Ex-Wichtigtuer. Tatsächlich dürfte auch Eitels Wanderzirkus verantwortlich sein für den Wortlaut "spannendstes Fußball-Projekt in Europa". Muss schon ein echter Medienprofi sein, der auf sowas kommt. Klinsmann hatte es rausgerockt, das Märchen vom "spannendsten Fußball-Projekt in Europa."

Eitel und Klinsmann lassen sich nicht im geringsten stören von den vielen Herthafans, die einen Absturz prophezeien. Rasch die Quelle anzapfen, bevor sie versiegt - so die Strategie. Eventuell war der Einstieg von Investor Tennor sogar unvermeidbar. Manche unkten von einer bevorstehenden Insolvenz. Da kommt einer gerade recht, der vom "spannendsten Fußball-Projekt in Europa" fantasiert und danach in der Umkleidekabine Xavier Naidoo auflegt. Dieser Weg wird kein leichter sein, möchte man meinen. Man muss den Wahrheitsbegriff eines Reichsbürgers haben, um im öden, novemberkalten Olympiastadion einen Funken Spannung zu entdecken.

Big City Klub

Zum Beweis taugt ein aktueller Blick auf die letzten Ergebnisse des neuen "Big City Klubs" (Investor Lars Windhorst im Juni über die Hertha): 0:1 bei Union, 2:4 gegen die Dosen, 0:4 in Augsburg. Ist der Trainer schon entlassen? ... Nun, Klinsmann spricht gerade mit seiner Frau, ob sie California Dreaming mit Berllin Blues eintauschen möchte. Wo die Liebe ist, ist auch ein Weg.

Man sollte Fans nicht für dumm verkaufen. In Hamburg und Stuttgart lässt sich öffentlich besichtigen, wo derart großkotziges Auftreten hinführt. Und überhaupt: Lars Windhorst. Der laut Stadtmagazin TIP "windige Handlanger des Kapitals" passt wunderbar in die Rolle des dubiosen Mafioso. Ende Mai 2003 legte Windhorst einenOffenbarungseid ab. Im August 2004 meldete Windhorst für die drei UnternehmenWindhorst AG,Windhorst Electronics GmbHundWindhorst Capital Holding GmbHInsolvenz an.Die Eröffnung des Verfahrens derWindhorst Capital Holding GmbHwurde vom Amtsgericht Berlin-Charlottenburg mangels Masse abgelehnt.Die PrivatinsolvenzWindhorst ist seit Sommer 2007 abgeschlossen.49,95 Prozent der GmbH [&] Co. KGaA gehört dem Geldanlageprofi bereits. Sein Co-Mafioso Strahleklinsmann soll bitteschön überwachen, dass es diesmal nicht schief geht mit dem grundsoliden Bundesligaengagement. Spannende Aufgabe, nicht wahr?

Himmel und Hölle

Massiver Ärger und gravierende Ergebniskrisen sind vorprogrammiert. Wer zu weit in den Himmel schaut, tut sich schwer auf dem Boden der Tatsachen einen Ball zu stoppen. Taktik-Experte Christoph Biermann sah die Höllenfahrt der Hertha schon im August voraus. Er prophezeite den Abstieg. Ach... ist der Trainer des spannendsten Chaos-Klubs in Europa schon entlassen. Nein?... nun, dann sollte ich mich vielleicht beeilen mit meinem letzten Absatz.

In diesen letzten Herbstzeilen erwähne ich gerne, dass ich bereits das Vergnügen hatte, einem Hertha-Heimspiel beizuwohnen. Vielleicht fünf Jahre her. An einem Samstagnachmittag nahm ich auf dem ansonsten ausgestorbenen Oberrang des zugigen Olympiastadions Platz. Bereits um halb vier wurde es dunkel. Frankfurt war die bessere Mannschaft. Hertha gewann mit einem traurigen Eins zu Null aus einer einzigen Chance. Die grenzenlose Spannung, die über meiner Sitzschale hing, ergab sich aus der bangen Frage, ob mein Hintern nach 90 Minuten bereits festgefroren war. Es war ein trauriger Bundesligasamstag eines späten Novemberwochenendes. Nach dem Herthaspiel kauerte ich mich gedankenversunken an die bollernde Heizung und starrte stundenlang in eine Tageslichtlampe.

 

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