Das neue Normal

Die Tribünen bleiben leer. Die Profis spielen trotzdem. Die Show muss weiter gehen. Selbst wenn wir uns an TV-Spiele gewöhnen sollten, führt der deutsche Weg ins Aus.

Keiner der bekannten Geister war je zum Spielen aufgelegt. Darum hat Bibiana Steinhaus eine ebenso simple wie korrekte Bezeichnung angeregt. Sie spricht von TV-Spielen und trifft präzise dorthin, wo die Kassen klingeln. Es steht zu befürchten, dass wir uns an TV-Spiele gewöhnen müssen. Sie sind das neue Normal. An manchen Standorten, zum Beispiel in Stuttgart oder Schalke, hat man sich besonders schnell damit abgefunden. Es gab Schlimmeres zu besprechen. Mario Gomez wäre vor keinem Publikum der Welt an einen Ball gekommen.

Die Einen arrangieren sich damit wie mit dem lästigen Mundschutz. Die Anderen haben samstags 15.30 Uhr neuerdings Besseres zu tun. Beides scheint aller Ehren wert. Unter aller Sau sind diejenigen Zwischenrufe, die engagierten Fans vorwerfen, sie würden sich in ihrer Ablehnung der TV-Spiele zu wichtig nehmen. Deutschlands minderwertigster Senfproduzent Micky Beisenherz ist mit dieser Fanverachtung kürzlich aufgefallen. Der professionelle Wichtigtuer liegt damit aus mehreren Gründen weit daneben. Vermutlich hat er kein Wort der erhellenden Erklärungen aus Deutschlands Kurven gelesen. Aber Senf hat nichts mit Tiefe zu tun. Auf die Wirkung kommt es an. Natürlich ist der Einwand korrekt, dass weit mehr Fans das Bezahlfernsehen nutzen als in Stadien passen. Doch der Ursprung des Massenphänomens Fußballs hat sich keinesfalls hinter Beisenherzens Mattscheibe versteckt.

Selbst diejenigen, die Fußball als Kommerz betrachten, werden konstatieren, dass ein Unternehmen gut daran tut, seine Stammkunden ernst zu nehmen. Es darf bezweifelt werden, ob sich die DFL mit den TV-Spielen langfristig einen Gefallen tut. Jetzt bröckelt der Mythos. Die Fassade fällt ab. Der prophetische Professor André Bühler vom Deutschen Institut für Sportmarketing vergleicht den Profibetrieb mit einem Rattenrennen und spricht von systematischen Marktversagen. Er legt den Finger in die Wunde. Schauspieler Matthias Brandt hat kürzlich darauf hingewiesen, dass sich der Fernsehzuschauer gewöhnlich nicht mit den Spieler identifiziert, sondern mit Zuschauern im Stadion. Eine einleuchtende Diagnose. Werder-Fan Brandt gehört zur Fraktion, die den Samstagnachmittag ab sofort zu anderen Dingen nutzt. Diese Fans wird die Liga nur schwerlich zurückgewinnen. Gut so.

Der Profifußball ist ein Wirtschaftsbetrieb. Wenn es sogar Philipp Lahm als solchen bezeichnet, muss es wohl wahr sein. Lahm ist zu keinem Zeitpunkt seiner Karriere mit einem überraschenden Gedanken aufgefallen. Bei Jessy Wellmer in der ARD purzelte er sogar vom Sofa, weil er sich stundenlang weigerte auch nur eine winzige eigene Meinung von sich zu geben. Lahm verteidigte diese Woche die neuerlichen Millionen für den Bayern-Torhüter wie folgt: Fußball sei nun mal ein Teil der Unterhaltungsindustrie, in der Spitzenkräfte entsprechend bezahlt würden, so Lahm. "Manuel spielt 'nur' Fußball, aber Robbie Williams ist auch 'nur' Sänger. Hier greifen die Regeln des Unterhaltungs-Business, und der Fußball gehört absolut dazu."

Fußball ein Showbizz? Nur fast. Tatsächlich offenbart der Vergleich die tieferen Gründe, die hinter der allgemeinen Missbilligung der TV-Spiele stecken. Es hat mit dem Vereinswesen und dem Fußball als öffentlichem Kulturgut zu tun. Vereine gelten als wichtige Schulen der Demokratie. Der Vereinsmeier wird zum Staatsbürger. Die Rolle der Vereine kann vor diesem Hintergrund nicht überschätzt werden. Der DFB bezieht daraus seine Legitimation, die DFL als kommerzieller Ableger hat dort ihre Basis. Das Showbizz braucht diesen Unterbau nicht. The Voice of Germany braucht keinen deutschen Gesangsverein als Legitimation. Die Systeme sind getrennt. Beim Fußball greift alles ineinander. Ohne Kreisklasse kein Nachwuchs. Ohne Amateurfundament hängen die Profis in der Luft. Das Geschäftsmodell würde implodieren.

Tatsächlich ist der Profifußball auch in diesem Sinne abgehoben. Der Verweis auf die paar Arbeitsplätze, die mit TV-Spielen gerettet werden, erscheint billig. Es geht um mehr: um Solidarität und Glaubwürdigkeit. Mit dem unvermeidlichen Eingeständnis ein Kommerzbetrieb zu sein, hat der Fußball mehr preis gegeben, als ihm lieb sein kann. In spätestens fünf Jahren wird man feststellen, dass die Luft aus der Fußballblase verschwunden ist. In den Geschichtsbüchern kann man dann nachlesen, wie das Virus mit seinen ganz normalen TV-Spielen den Fußballboom ins Gegenteil verkehrt hat.

Verwandte Artikel