Bilbao im Schnee

Manchester United versinkt an einem ungewöhnlichen Januarabend in Bilbao. Ein legendäres Match. Nicht nur, weil es im Baskenland so selten schneit.

Den Kopf leicht eingezogen, mit dem Hauch eines verschmitzten Lächelns auf den Lippen, so betritt der deutsche Schiedsrichter Albert Dusch am 16. Januar 1957 den Rasen des Estadio San Mamés in Bilbao. Seine Mimik und Gestik lassen darauf schließen, dass er – genau wie die 36.000 Zuschauer in der Kathedrale – nicht mit intensivem Schneetreiben gerechnet hat. Ein paar Flocken fallen schon mal vom Himmel im baskischen Winter, aber eine dünne Schneedecke wie heute ist eine Rarität in der meeresnah gelegenen Stadt. Trotz allem routiniert tritt Dusch durch die weiße, langsam matschig werdende Masse zum Mittelkreis. Dass er die Seitenwahl wiederholen muss, weil der Schnee die Münze beim ersten Versuch schluckt, bringt ihn auch nicht aus der Ruhe. Das nun Folgende gehört sicherlich zum Spektakulärsten, was Dusch in den zwölf Europapokaleinsätzen seiner Karriere erlebt.

Bilbao gegen Busby Babes

Mit ihm auf dem seifigen Rasen steht der amtierende spanische Doublegewinner, der sich zum ersten Mal in seiner Geschichte für einen internationalen Wettbewerb qualifiziert hat. Es läuft die zweite Ausgabe des Landesmeisterpokals überhaupt. Athletic schlägt sich unter der Führung des slowakischen Erfolgstrainers Ferdinand Daučík hervorragend. In der ersten Runde wird der FC Porto ausgeschaltet. In Runde zwei muss zur Überraschung vieler Honvéd Budapest mit Ferenc Puskás die Segel streichen – nach Ansicht vieler eines der besten Teams weltweit. Nun empfangen die Basken den englischen Meister Manchester United, der – anders als der vorjährige Titelträger vom FC Chelsea – die Teilnahme am Europapokal beim englischen Verband durchsetzt. Jung und hungrig sind die Mannen des schottischen Coaches Matt Busby. Im Schnitt 21 Jahre sind die „Busby Babes“, als sie 1956 den Meistertitel erringen.

Vielleicht ist es der fehlenden Erfahrung gegenüber dem im Schnitt vier Jahre älteren Athletic-Team zu verschulden, dass sich in der ersten Halbzeit ein Debakel für die Red Devils anbahnt. Mit einem 3:0 geht das Team aus Bilbao, angefeuert vom euphorisierten Publikum, in die Kabinen. Nach dem Seitenwechsel scheinen sich die Engländer aber besser mit dem matschigen Untergrund zurechtzufinden. Nach einem schnellen Doppelschlag dreht sich ein für Athletic hervorragendes Ergebnis schnell in ein – angesichts des bevorstehenden Auswärts-Rückspiels – gefährliches 3:2. Doch zwei baskische Treffer sorgen wieder für einen beruhigenden Vorsprung, bevor das späte 5:3 für United diesem verrückten Spiel unter außergewöhnlichen Bedingungen die Krone aufsetzt.

Die Schlacht im Schnee

Zeitzeuge Patxo Unzueta, damals zwölf Jahre alt, berichtet 2012 in „El País“: „Wir haben wirklich geglaubt, zumindest wir Kinder, dass Athletic unschlagbar wäre.“ Dementsprechend groß sei die Enttäuschung im Rückspiel gewesen, das United mit 3:0 für sich entscheidet und damit ins Halbfinale einzieht. „An dieses Spiel bestehen kaum Erinnerungen, und der Umstand beispielsweise, dass Torwart Carmelo Cedrún einen Großteil der Partie mit einer Knieverletzung spielte, geriet in Vergessenheit, bis dieser vor Kurzem selbst daran erinnerte.“ Dass die Schlacht im Schnee zu einem echten Mythos in der Vereinsgeschichte wird, daran hat auch eine Tragödie großen Anteil. Fast genau ein Jahr später, am 6. Februar 1958, wird der Schnee erneut Einfluss auf die Geschichte von Manchester United nehmen, allerdings auf unvergleichbar grausame Weise. Beim Absturz des Flugzeugs mit der Mannschaft im dichten Schneetreiben am Flughafen München Riem verlieren sechs Akteure, die in Bilbao auf dem Rasen standen, ihr Leben.

Das damalige Athletic-Team gilt bis heute als eines der besten aller Zeiten. Mit Piru Gainza, José María Orue und Canito werden drei Spieler eingesetzt, die heute zu den zehn Spielern mit den meisten Einsätzen im Trikot von Athletic gehören. Schiedsrichter Albert Dusch wird bis zu seinem Karriereende 1962 noch viele Partien leiten, darunter bei zwei Weltmeisterschaften. Ob er dabei die Seitenwahl wie am 16. Januar 1957 aufgrund Schneefalls nochmals wiederholen musste, ist nicht überliefert – aber unwahrscheinlich.

Der Athletic Club aus Bilbao ist mit seiner 125-jährigen Geschichte eine Institution im spanischen und europäischen Fußball. Seit Gründung der Primera División 1928 ist er ununterbrochen erstklassig. Und für echte Bilbainos ist eh klar, dass Athletic die beste Mannschaft der Welt aus der besten Stadt der Welt ist. Der in der Region lebende Autor Dirk Segbers legt mit diesem Buch ein unterhaltsames Vereinsporträt vor, in dessen Zentrum die Menschen dieses einzigartigen Klubs stehen, seine Philosophie, seine Geschichte und natürlich die größten Spiele.

Verlag Die Werkstatt, 224 Seiten, ISBN 9783730706305

Foto: Elorza via Athletic Club

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