Notizen aus Irland: Fußball als Randsportart.

Man fährt links. Aber wer von rechts kommt, hat Vorfahrt. Man spielt Fußball. Aber andere Sportarten sind wichtiger. Eindrücke von einer Insel der anderen Ordnung.

Wir verlieben uns gleich am ersten Reisetag ­im Zug, während wir uns mit Graeme unterhalten. Seinen Namen lesen wir auf der Reservierungsanzeige. Auf Wunsch verschlüsselt die Irish Railway die Namen auf ihren Displays. Wenige machen davon Gebrauch. In Irland kennt ja eh jeder jeden. Greame sitzt uns gegenüber mit der Gelassenheit eines alten Haudegens. Die Achtzig hat er schon gefeiert. Während er über die Familie erzählt, rätsle ich über sein Tattoo auf dem Unterarm. Ein Wappen? Fußball? Ich scheitere, muss nachfragen. Beim tätowierten Emblem handelt es sich um den Tipperary Football Club. Also Gaelic Football. Eine völlig andere Sportart. Härter, athletischer, laufintensiver. Sagen wir: irischer. Leider scheitert mein Versuch, von Graeme mehr über Gaelic Football zu erfahren – und zwar mehrfach. Aus drei Gründen: Erstens weil Graeme gälisch-englisch spricht. Das ist ein Englisch, so mittel verständlich. Graemes Slang besteht zur Hälfte aus Vokalen der gälischen Sprache und zur anderen Hälfte aus englischen Konsonanten, die du nur nach vier Pints sauber grunzen kannst. Zweitens weil Graeme uns lieber erzählen mag, wie gut er Deutschland kennt. Und drittens weil du von einem Haudegen nicht erwarten darfst, dass er auf deine neummalklugen Anfängerfragen eingeht. Und einen Grundkurs Gaelic Football darfst du schon gar nicht erwarten. Graeme muss sowieso erstmal seine Gedanken sortieren, bevor er mitten im grünen Nirgendwo aussteigt. Limerick Junction steht am Bahnsteig. Häuser sind kaum zu entdecken. Aber um Graeme müssen wir uns keine Sorgen machen.

Sorgen müssen wir uns eher um uns selbst machen. Zum Beispiel bei jeder Überquerung einer Straße. Wir schauen ständig in die falsche Richtung. Ständig. Zwei Wochen lang falsche Richtung. Und bei neunmalklugen Fragen gilt: Besser selber recherchieren. Wenn in Irland von Fußball die Rede ist, dann ist die Gaelische Variante gemeint. Die Tore sehen aus wie beim Rugby, mit diesen langen Stangen nach oben. Mit dem Unterschied, dass unten ein Netz dran ist und ein Torwart drin steht. Der hat einen extrem langweiligen Job. Die meisten Tore gehen oberhalb der Querstange rein, dafür gibt es einen Punkt. Unten, wo der Torwart steht, gibt es drei Punkte, aber das passiert selten. Association Football, wie wir ihn spielen, gilt in Irland als Randerscheinung. Völlig unirisch, also englisch, dieses Gekicke. Darum verbietet die GAA (Gaelic Football Association) ihren Spielern, die andere Variante überhaupt anzuschauen, geschweige denn, selbst zu spielen. Das Verbot wird 1971 abgeschafft. Es hatte mehr als 70 Jahre gut funktioniert, weil es Ausbreitung des „normalen“ Fußballs effektiv verhinderte. Aber nicht, dass jemand denkt, Gaelic Football sei die brutalste, schnellste und intensivste Sportart der Welt. Nein. Das ist Hurling. Also die Gaelic Football mit Schlägern und einem kleinen harten Ball, der ordentlich Aua macht, wenn man ihn in die Fresse bekommt. Und dann wären noch die Schläger. Wenn da einer an der falschen Stelle durchzieht. Riesen-Aua. Aber Helme oder Schutzpanzer sind nichts für Iren. Nur Handschuhe ziehen sie an, wegen der Ballkontrolle. Bei beiden gälischen Sportarten ist Irland übrigens unschlagbar. Sie werden nirgends sonst auf der Welt gespielt. Irland hat viel exportiert über die Jahrhunderte. Vor allem Auswanderer (m/w/x). Aber die Gaelische Sportarten nicht. Die Endspiele werden an zwei Wochenenden hintereinander im Croke Park in Dublin ausgetragen. Die rund 80.000 Tickets sind Monate vorher weg. Dagegen kommen zu „normalen“ Fußball-Ligaspielen gerade mal 4.000. Wenn’s hoch kommt. 

Doch wer denkt, die irische Fußball-Liga könne man links liegen lassen, täuscht sich gewaltig. Die Dauerkrise hat ihre guten Seiten. Die Stadien sind urig, die Leute fein, die Pubs klasse und die Stimmung könnte besser kaum sein, aber dazu später. Erstmal zur anhaltenden Krise. Wegen Gaelic Football und Hurling war Fußball nie irisch beleumundet. Also politisch schwierige Sportart. Geh mir fort mit dem Königreich und allen seinen Spielarten. Darum kennt man irische Klubs kaum und wenn, dann aus der ersten Runde der Europacups, zum Beispiel Shamrock Rovers, Dundalk FC, Finn Harps, oder Shelbourne FC. Aber in den zweiten Runden waren sie stets weg vom Fenster. Wer in Irland gut kicken kann, wird in der Jugend von den Engländern weggescoutet. Übrig bleibt sowas wie eine ambitionierte Regionalliga. Mehr nicht. Wer Fußball schauen will, geht in die Pubs oder holt sich ein Abo von der Premierleague.

Nur die Nationalmannschaft wird plötzlich populär. Das magische Spiel findet in Stuttgart statt, bei der EM 1988. Irland siegt gegen England 1:0. Kaum zu fassen. Im irischen Team stehen mit Pat Bonner und Kevin Moran sogar zwei ehemalige GAA-Spieler, also Gaelic Football. Plötzlich ist der herkömmliche Fußball auch irisch. Allerdings nur die Nationalmannschaft. Der Clubfußball bleibt unterirdisch. 2000 geht Derry City fast pleite. 2005 müssen die kultigen Shamrock Rovers in die zweite Liga. 2006 geht das ambitionierte Fußball-Projekt namens Dublin City - kaum gegründet – schon den Bach runter. 2007 wird Meister Shelbourne die Lizenz für den Europacup verweigert. Als sich Liga und ihre Clubs stabilisieren, übernimmt der nationale Verband die Schlagzeilen. „Das sage ich nicht“. Wie ein Kleinkind antwortet John Delaney auf die Fragen des Untersuchungsausschuss. Delaney war fast 15 Jahre lang Geschäftsführer des nationalen Verbandes. Jahresgehalt: rund 360.000 Euro. Schuldenberg des Verbands zum Jahresende 2019: 62 Mio. Euro. Wie es dazu kommen konnte: „Das sage ich nicht.“ Ehrlicherweise muss man hinzufügen, dass ihn die Öffentlichkeit hat machen lassen. An manchen irischen Klischees ist durchaus was dran. Am Alkoholismus ebenso wie an der Sorglosigkeit im Umgang mit organisatorischen Dingen. Man legt sich nicht an mit Landsleuten, die die Macht haben. 

Nur in der eigenen Nachbarschaft, da kümmert man sich intensiv – und das ist auch gut so. Den fußballerischen Beweis liefert der Bohemians FC, den wir freitagabends zum Ligaspiel besuchen. Der fangeführte Club aus Dublin macht viel richtig. Das wiederum ist der Vorteil an der irischen „Regionalliga“. Die Clubs bleiben bei ihren Wurzeln. Bei den Bohemians gilt das in besonderem Maße. Sie sind und bleiben ein Teil der Community im bodenständigen Kiez Dublin Nord. In der aktuellen Saison gibt’s ein Aktionstrikot mit der Aufschrift „Refugees Welcome“. Sämtliche Einnahmen aus dem Verkauf dieser Trikots gehen an Amnesty International. Der Club hat ein Pride-Committee für Vielfalt und einen Climate Justice Officer. Letzte Saison war Bob Marley auf dem Aktionstrikot. Eine Hommage an dessen letztes Konzert, das vor 50 Jahren im Dalymount Park stattgefunden hatte. Auf der Tribüne kann man die Rauchwaren heute noch schmecken. Überhaupt der Dalymount Park. Es ist das klassische irische Fußballstadion. Früher 50.000 Fassungsvermögen und Heimspiele der Nationalmannschaft. Heute keine 5.000 auf den Resttribünen, aber diese ausverkauft bei Heimspielen der Bohemians. Drüben hinterm anderen Tor sind die alten Stehwälle erhalten. Sie verschwinden in der Dämmerung. Keine Übertreibung. Dalymount ist ein halber Lost-Ground im laufenden Erstligabetrieb. Die Stimmung ist dennoch fantastisch. Die Haupttribüne singt fast durch. Obwohl in der ersten Halbzeit die Auswärtsfans aus Drogheda was zu feiern haben. Aber dann kassiert ein Gäste-Spieler rot und die Bohemians gewinnen furios mit 4:2. Viermal singen die Tribünen „We are Bohs. Always believe in your soul, you've got the power to know, you're indestructible, always believing, we are Bohs. Wenn man mitten drin sitzt, hört es sich lauter an als in den durchgestylten Fußballtempel des Weltfußballs. Doch da will niemand hin. Besser ohne Dach und mit Nieselregen. Im Dalymount spürst du nicht nur Dublin North, Du siehst es auch. Wenn drüben ein Befreiungsschlag über den Spann rutscht, landet er im Kleingarten der Arbeitersiedlung. Mehr Roots geht kaum. Mag sein, dass der irische Fußball in der Krise steckt. Aber wen interessiert das, angesichts eines feinen Freitagabendkicks und einem gut geführten Bohemians Pub. Darum bleiben die Fragen, die ich noch hätte, ungestellt. Natürlich würden mich Fankultur und Kiezgeschichten interessieren. Aber mal ehrlich: Ich bin nicht auf Recherche. Die semi-gälischen Laute sind eh schwer verständlich. Und dieses schwarze Bier drückt beim Sprechen auf die Zunge.. "Slaundscher" (odersoähnlich) krieg ich gerade noch hin. Dann ist für mich irgendwie Limerick Junction. 

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