Das Geheimnis des Fußballs

Der Fußball ist oft kompliziert. Woran liegt‘s? Ein klarer Fall, es liegt am Ball.

Die Einen können es, andere bemühen sich und manche werden ihn niemals begreifen. Der Fußball ist eine Wissenschaft für sich. Zunächst mal die Basics: Ein klassischer Fußball besteht aus einer Handvoll Lederflicken. Exakt 90 Nähte halten zwölf schwarze Fünfecke und zwanzig weiße Sechsecke zusammen, die exakt 60 Ecken bilden. Wer es nicht glaubt, der möge bitte selbst nachzählen. Aber Obacht, auch das ist schwieriger als man zunächst denkt. Nun denn, dieses Flickenwerk aus dem fünfeckigen Pentagon und dem sechseckigen Hexagon ist seit der Antike die einzige, geometrisch darstellbare Annäherung an die Kugel aus Flächen. Schon Archimedes beschrieb die Form dieses Flickenfußballs, aber hat ihn etwas weniger spektakulär "abgestumpftes Ikosaeder" genannt. Pumpt man Luft in diesen etwas kantigen, vielflächigen "archimedischen Körper", dann kommt Spannung in die Sache und fertig ist die rundum perfekte Kugel. Dieser klassische Fußball, bei dem 32 Lederflicken eine perfekte Kugelform bilden, hat viele Synonyme. Er wird oft auch Pille, Kirsche, oder Ei genannt. Etwas seltener zu hören sind Bucky-Ball oder Fulleren. Kaum ein Mensch kennt diese Begriffe, doch sie sind der Schlüssel zu einer Erklärung, für die nahezu magische Anziehungskraft, die von einem Fußball ausgeht. Und das geht so.

Der Architekt und Tausendsassa Richard Buckminster Fuller, auch „Bucky“ genannt, ist der Namenspatron dieser Synonyme. Fuller nahm sich 1927, nach dem plötzlichen Tod seiner Tochter, nicht aus Gram das Leben, wie es ihm zunächst opportun erschien, sondern er nahm sich stattdessen vor, die Welt zum Nutzen der Menschheit zu verändern und ein klein wenig besser zu machen. Heraus kam dabei ein ganzheitliches Konzept für Gebäude, die sich mit minimalem Materialeinsatz errichten ließen. Geodätische Kuppeln nannte er diese Gebilde. Vereinfacht gesagt, versuchte er damit "Mehr mit Weniger zu erreichen" und Gebäude mit minimalem Materialeinsatz und maximaler Stabilität nachhaltig und ressourcenschonend zu bauen. Das ist auch heute noch ein aktuelles Thema. Einige dieser kugelförmigen Bauten hatten, dank ihrer "magischen Anzahl" von Fünf- und Sechsecken, eine sehr große Ähnlichkeit mit den bereits beschriebenen Fußbällen und wurden daher auch „Bucky-Balls“ genannt. Wer in der Natur nach Beispielen für diese ideale Struktur solcher "geodätischen Kuppeln" sucht, der wird sie so nicht finden. Auch die Kugelform gibt es kaum. Nicht mal die Erde selbst ist eine perfekte Kugel.

Die Natur geht auf der Erde trotz ihrer Vielfalt tatsächlich sehr sparsam mit der kreisrunden Form um. So wie es in der Natur kaum irgendwo einen rechten Winkel gibt, kommen auch Kreise und Kugeln so gut wie gar nicht vor. Das ist mutmaßlich der Grund dafür, dass die Kreis-und Kugelform die Naturwissenschaft bereits in der Antike, vor Jahrtausenden, besonders interessierte und auch Archimedes zu seinem Ikosaeder inspirierte. Und auch die unerreichbaren, zunächst als kreisrunde Scheiben identifizierten und als gottgleich verehrten Gestirne am Firmament trugen nicht unwesentlich dazu bei.

Was Archimedes ebenfalls schon wusste: Der Augapfel ist das eine Beispiel für eine exakte Kugelform in der Natur, die selbst nach Jahrhunderttausenden der Evolution im Körper des Menschen bis heute zu finden ist. Und das andere Beispiel ist das Ei. Die Eizelle, als Keimzelle allen Lebens. Sichtbar etwa beim Hühnerei. Aber ebenfalls verborgen, in einer Kalkschale und umgeben von Eiweiß. Dort findet sich, als exakt kreisrundes Objekt, das Gelbe vom Ei. Und das war's dann schon. Der Mensch kam ansonsten niemals mit perfekt geformten Kreisen und Kugeln in Berührung. Sie wuchsen weder auf Bäumen noch lagen sie irgendwo rum. Das erklärt vielleicht die Faszination, die von dieser geometrischen Form auf den Menschen ausgeht.

Im Jahre 1985, zwei Jahre nach Buckminster Fullers Tod, machte man eine Entdeckung, die ihm sicherlich gefallen hätte. Eine Handvoll Wissenschaftler um den Chemiker Robert Curl jr. wies das von Buckminster Fuller verwendete Konstruktionsprinzip aus Fünf- und Sechsecken, also den Bauplan des Fußballs, erstmals in der Natur nach. Bereits in den Siebzigern hatte der Japaner Eiji Osawa die Existenz eines annähernd kugelrunden Moleküls mit 60 Kohlenstoff-Atomen, die mit 60 Ecken die Fußballform bilden, theoretisch vorausgesagt. Robert Curl jr. fand das C60-Fußball-Molekül schließlich bei einem Experiment und nannte es, Buckminster Fuller zu Ehren, Fulleren. Dafür bekam Curl schließlich 1996 mit seinen Kollegen den Chemie-Nobelpreis verliehen. Ganz schön viel Aufhebens, um so einen Kohlenstoff-Fußball, möchte man meinen. Zwar besteht alles Leben und Material auf Erden vor allem und auch aus Kohlenstoffverbindungen, doch die Fullerene sind eher selten. Es ging dabei in erster Linie um die Eigenschaften des C60-Moleküls. Eine dichte Packung solcher "Bucky Balls" ist zum Beispiel das perfekte Schmiermittel für die Mechanik von Maschinen. Der geringe Reibungswiderstand macht's.

Womit wir wieder beim Fußball wären. Nicht, dass dort nicht auch hin und wieder geschmiert wird, aber es ist exakt diese Eigenschaft des Balls, die letztendlich die Faszination des Fußballspiels ausmacht. Eine Kugel auf einer Ebene, berührt diese stets in nur einem Punkt. Was mit minimalen Reibungswiderstand auch den besagten Schmiereffekt der Fullerene bewirkt. Gerät eine Kugel in Bewegung, ist sie aufgrund dessen kaum zu kontrollieren. Ein Fußball kann sich in der Ebene im Prinzip unkontrolliert in alle Richtungen bewegen. Fußballer versuchen nichts anderes, als diese Bewegungen mit ihren Füßen auf die bestmögliche Art zu kontrollieren. Das ist schwieriger, als viele selbsternannte Fußballexperten denken. Dieses Problem mit schwer zu verstehenden, bewegten kreisrunden Objekten, kennt die Menschheit seit Anbeginn und es ist eines der Ur-Mysterien dieser Welt.

Das Runde entzieht sich der Menschen Macht. So wenig wie sich der Lauf von Sonne, Mond und Planeten aufhalten ließ, so wenig schaffte Sisyphos es in der Unterwelt, einen kreisrunden Stein einen Hügel hinauf zu bugsieren. Die verhältnismäßig späte Erfindung des Rades vor gerade mal etwa 6000 Jahren belegt das Problem, dass der Mensch seit jeher mit dem Kreisrunden hat. Kein Wunder, dass auch heute noch kaum jemand dazu in der Lage ist, freihändig und ohne Zirkel einen Kreis zu zeichnen. Von der Antike bis in die Neuzeit widmeten sich Generationen von Mathematikern der Berechnung und Beschreibung von Kreis und Kugel. Die Geometrie des Kreises hat bis heute nichts von ihrer Faszination verloren. Die Kreiszahl "Pi", auch "Archimedische Konstante" genannt, beschreibt die Universalität des Kreisrunden im Verhältnis von Umfang zum Durchmesser. 3,1414159... usw.: Für viele Philosophen steckt hinter dieser Zahl das Geheimnis des Universums und des Daseins schlechthin und am jeden 14. März. (3/14 in amerikanischer Datumsschreibweise) treffen sich Mathematiker zum Welt-Pi-Tag und stellen einen neuen Rekord im Aufzählen der Nachkommastellen der Zahl Pi auf.

Spätestens seitdem im Jahr 2010 das Spitzer-Weltraumteleskop das C60-Fußballmolekül erstmals im All und zwar im planetarischen Nebel Tc1 aufgespürt hat, sollte auch dem größten Skeptiker die wahre Bedeutung klar geworden sein. Der Fußball trägt offensichtlich ein unerklärtes Geheimnis kosmischen Ausmaßes in sich. Das Bestreben eines Fußballers, diese mysteriöse Kugel bis zur Perfektion zu beherrschen, steht somit in der Tradition einer großen Wissenschaft, die sich zur Aufgabe gemacht hat, dieses Geheimnis zu lüften. Woran Sisyphos noch scheiterte, das ist für Fußballer kein Problem. Die vollkommene Kontrolle einer Kugel bereitet ihnen sogar pures Vergnügen. Einen Ball ins Tor zu zirkeln und mit ballistischen Berechnungen innerhalb von Millisekunden den idealen Lauf des Fußballgestirns am Torhüter vorbei bis in den äußersten Winkel des eckigen Tores vorauszubestimmen, und zwar nicht nur Pi mal Daumen, das ist große Kunst. Diese vollständige Beherrschung eines eigentlich kaum zu kontrollierenden Kugelgebildes scheint oft nicht von dieser Welt zu sein und gebietet allerhöchsten Respekt. Einer der größten Fußballkünstler aller Zeiten, Allessandro Del Piero, trug diese "Archimedische Konstante" Pi sogar im Namen. Und die großen Fußballer unserer Tage machen, wie Buckminster Fuller seinerzeit auf seine Weise, die Welt ein kleines bisschen besser. Sie tragen zum praktischen Erkenntnisgewinn in der Wissenschaft und Philosophie bei und nebenbei macht es Spaß, ihnen dabei zuzusehen.

 

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