The White Horse Final

Vor 100 Jahren wurde das „British Empire Exhibition Stadium“ in Wembley mit dem Finalspiel des FA-Cups feierlich eröffnet. Ein in jeder Hinsicht denkwürdiges Ereignis.

In den 1920er Jahren waren Großbritannien und das „British Empire“ noch auf dem Höhepunkt ihrer Weltmacht. Etwa 23 Prozent der Weltbevölkerung zählte 1920 zu den Untertanen des britischen Königshauses und die in der ganzen Welt verteilten Kolonien, Protektorate und sonstigen Besitztümer umfassten noch fast ein Viertel der gesamten Erdoberfläche. Bis zum April 1923 war letztere zwar wegen diverser Unabhängigkeitserklärungen bereits auf ein Fünftel der Fläche geschrumpft, doch im Londoner Stadtteil Wembley Park war wegen all dieser Untertanen damals trotzdem einiges los. Dort sollte nämlich sehr bald die zwei Jahre dauernde „British Empire Exhibition“ stattfinden. Das war als so etwas wie ein Familientreffen der Vasallen des Königs aus aller Welt geplant und sollte der Völkerverständigung dienen. Angeblich. Dabei war es eher eine technische und wirtschaftliche Leistungsschau, die sozusagen den aktuellen Stand der Ausbeutung in all den 58 Empire-Landnahmen in Übersee dokumentierte. Zum Glück spielte aber bei der Planung dieser „Empire Exihibition“ auch ein gewisser Prince Albert Frederick Arthur George of York eine gewichtige Rolle. Und damit schalten wir um zum Sport.

Der spätere King George VI., auch „der Gute“ genannt, war nicht nur ein guter Vater der überaus beliebten Queen Elizabeth II., sondern hatte auch ein gutes Faible für Sport und Fußball im Besonderen. Er machte seinen Einfluss geltend, bei der Planung der Empire Exhibition auch den Bau eines großen Stadions als nationale Sportstätte zu berücksichtigen. Und genau dieses „British Empire Exhibition Stadium“ im Wembley Park wurde bei seiner Einweihung am 28. Februar 1923 der Ort, an dem, wie angekündigt, sehr Denkwürdiges geschah. Das später nur noch Wembley-Stadion genannte Rund mit den zwei charakteristischen Türmen in der Tribünenfassade war zur Eröffnung erstmals als Austragungsort des FA-Cup-Finales vorgesehen, nach dem dieses in den drei Nachkriegsjahren zuvor noch an der Stamford Bridge, der Heimat des Chelsea FC, ausgetragen wurde. Als Finalisten für dieses Eröffnungsspiel im Jahr 1923 qualifizierten sich die Bolton Wanderers und West Ham United. 

Die Bolton Wanderers waren in den 1920er-Jahren eine nennenswerte Größe in der First Division und West Ham wurden damals, als Tabellenzweiter und Aufsteiger aus der Second Division, nur Außenseiterchancen in diesem Finale eingeräumt. Daran änderte auch der zahlreiche Fans begeisternde, forsche und angriffslustige Spielstil West Hams nichts, mit dem die Londoner es 1919 erstmals in die Football League und schließlich auch ins Finale des FA-Cups geschafft hatten. Dass die Londoner in einem solchen Finale bevorzugt den Londoner Club zahlreich unterstützen würden, war damals bekannt. Ebenso, dass viele Fans der Wanderers aus dem Norden anreisen würden. Bereits beim Halbfinalspiel der Wanderers gegen Sheffield United im Old Trafford in Manchester kamen trotz horrender Eintrittspreise mehr als 72000 Zuschauer zusammen. Da aber die vorherigen drei Finalspiele um den FA-Cup an der Stamford Bridge eher schlecht besucht waren, versuchte die FA mit einer massiven Werbekampagne das weitaus größere Stadion in Wembley Park vollzubekommen. Doch das wäre gar nicht nötig gewesen. 

Es war vor allem die nationale Euphorie rund um das neue hochmoderne Stadion, das mit einem Fassungsvermögen von 125.000 Zuschauern auch weltweit neue Maßstäbe setzte, die dieses Cup-Finale zu etwas ganz Besonderem in der englischen Fußballgeschichte werden ließ. Die offizielle, über die Anzahl der verkauften Tickets ermittelte Zahl von 126.047 Zuschauern wäre dabei schon an sich eine Sensation gewesen. Doch die tatsächliche, je nach Quelle bei 250.000 bis gar 300.000 liegende Anzahl von Zuschauern übertrumpften alles im englischen Fußball zuvor Dagewesene. Allein innerhalb Londons wurden am Tag des Finales im öffentlichen Nahverkehr mit London Underground 241.000 Fahrtickets nach Wembley Park registriert. Nach Zeitzeugenberichten machten sich dazu viele Zehntausende wegen der überfüllten Busse und Bahnen zu Fuß auf den Weg zum Stadion. Alle in der Hoffnung, eine der 125.000 Eintrittskarten zu ergattern. Denis Higham, einer dieser Zuschauer, gab Folgendes hinterher als Zeitzeuge zu Protokoll.

„Mein Vater sah das ganz lässig. Er sagte: ‚Wir fahren dahin. Mal sehen, vielleicht gelingt es uns ja, das Spiel zu sehen.' Als wir im Wembley Park ausstiegen, fanden wir uns in einer riesigen Menschenmenge wieder, in der alle in die gleiche Richtung gingen. Es war einfach eine riesige Masse von Menschen, die ich aber zu keiner Zeit als bedrohlich empfand, weil alles sehr friedlich zuging. Am Eingang staute es sich dann. Vater sagte: ‚Schau mal, alle klettern über die Drehkreuze. Folgen wir ihnen einfach.‘ Die Drehkreuze an den Kassen waren bereits gesperrt. Das Personal hatte offensichtlich gerade die Kassen geschlossen und sich bereits in Sicherheit gebracht. Also überstiegen wir einfach ebenfalls die Absperrungen und das Drehkreuz und schon waren wir im Stadion.“

Bereits um 11.30 Uhr, dreieinhalb Stunden vor dem Anstoß, hatte der reguläre Kartenverkauf und der Einlass begonnen. Um 13 Uhr war das Stadion dann bereits so gut wie voll und die Stadionverwaltung beschloss um 13.45 Uhr, als sämtliche Tickets ausverkauft waren, die Kassen und Drehkreuze zu schließen. Zu diesem Zeitpunkt waren aber im Umfeld des Stadions noch viele Zehntausende Fans unterwegs und begehrten ebenfalls Einlass. Der Bus mit der Mannschaft aus Bolton blieb ein gutes Stück vor dem Stadion in diesen Menschenmassen stecken und die Spieler legten die letzte Strecke zu Fuß zurück. Die Verantwortlichen der FA schauten diesem Menschenandrang hilflos zu und konnten nicht verhindern, dass sich das Stadion mehr und mehr füllte. Denn viele zehntausende Zuschauer taten es Denis Higham gleich und gelangten problemlos auch ohne Eintrittskarte hinein. Das ging schließlich soweit, dass selbst der Innenraum des Stadions mit Zuschauern geflutet wurde. 

Die Zuschauer drängten sich zunächst bis an die Seiten- und Torauslinien, und machten aber schließlich auch davor nicht mehr halt. So ließ sich keinesfalls ein Fußballspiel austragen. Etwa um 14 Uhr erwogen die Verantwortlichen deshalb das Spiel abzusagen, fürchteten jedoch, dass der zu erwartende Unmut der Fans erst recht eine Katastrophe zur Folge haben könnte. Den Ausschlag gab dann ein Gesandter des Königs, der ihnen mitteilte, dass King George V. darauf bestünde, dass dieses Spiel in jedem Fall stattfinde. Man möge das Spielfeld doch mit der Polizei räumen. Als George V. um 14.45 Uhr seinen Platz auf der Tribüne eingenommen hatte, beruhigte sich die Szenerie etwas. Die Fans sangen lauthals „God save the King“ und leisteten der mittlerweile auch von berittenen Kollegen unterstützten Polizei keinen Widerstand mehr. Nach und nach wurde das Spielfeld freigegeben und letztendlich konnte das Spiel um etwa 15.45 vor mutmaßlich immer noch weit mehr als 200.000 Zuschauern angepfiffen werden. 

Einer der berittenen Polizisten, PC George Scorey, avancierte hinterher zum Helden dieses Pokalfinales in Wembley. Man hatte ihn und sein Pferd „Billie“ aus der Freizeit in den Wembley Park beordert, damit er auf Geheiß des Königs das Fußballfeld räume. Seinem Pferd Billie verdankt das FA-Cup-Finale von 1923 auch seinen inoffiziellen Namen „The White Horse Final“. Dabei war Billie weder weiß, noch ein Schimmel, wie hinterher oft berichtet, sondern in Wirklichkeit so grau wie eine Maus. Es war den eingeschränkten technischen Möglichkeiten der Fotografie in diesen Zeit geschuldet, das Billie in den hochauflösenden Schwarz-Weiß-Fotografien mit scharfen Kontrasten zum Schimmel mutierte. The „White Horse“ Billie und PC Scorey waren auf einigen der damals aufgenommen Fotos besonders präsent zu sehen und wurden so rein zufällig zu Bildikonen der Fußballgeschichte. Genauso war das, vor 100 Jahren. Zu Ehren Billies wurde am neuen Wembley-Stadion sogar eine Fußgänger-Brücke „The White Horse Bridge“ benannt. 
Ach ja. Bevor das in Zukunft noch mehr in Vergessenheit gerät, die Bolton Wanderers gewannen dieses legendäre „White Horse Final“ mit 2-0.

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