Er stand im Tor zum Schwarzwald

Emmendingen trauert um Dieter Rutz, den Torhüter der besten Mannschaft, die je im FCE-Trikot auflief. Rutz blieb dem FCE ein ganzes Leben treu. Er trainierte die Erste, sprang immer ein, wenn er gebraucht wurde. Bis ins hohe Alter trainierte er Jugendmannschaften, kümmerte sich um Integration, Sommerfreizeiten und war immer da, wenn man ihn brauchte. Dieter Rutz war einer, den Du Dir nicht besser schnitzen kannst. Er wird fehlen. In Erinnerung an den großen Dieter Rutz erzählen wir die Geschichte des FC Emmendingen 03. Als Dieter Rutz plötzlich gegen Müller und Beckenbauer spielte.

FCE-Spieler Manfred Enderle staunte Bauklötze – schon eine Viertelstunde vor dem Anpfiff. Eigentlich sollte er sich aufwärmen und sich auf sein Spiel konzentrieren. Doch er schielte rüber auf die andere Seite der Mittellinie. Da wurde ihm ganz schön mulmig. Wie sich Rainer Ohlhauser, Franz Beckenbauer und Gerd Müller ins Zeug legten, nur um den Körper spielfertig zu machen, das war doch mindestens erstaunlich. Tatsächlich hatte Enderle das Gefühl, schon jetzt einen Klassenunterschied zu erkennen. Während die Bayern bereits triefend nass waren, war bei den Südbadenern noch kein einziges Schweißtröpfchen zuerkennen, höchstens Angstperlen auf der Stirn. Immerhin handelte es sich beim FC Bayern um die aufsteigende Macht im deutschen Fußball. Leck mich am Arsch, sind die gut, flüsterte Enderle leise in seinen Bart. Doch Vorstopper Ludwig Kurz wollte keine Ehrfurcht gelten lassen: Wenn du laufe dädsch, wärsch vielleicht au besser. Kurz wusste so gut wie Enderle, dass Emmendingen keine Chance hatte. Aber Ehrfurcht war gewiss die falsche Einstellung. Außerdem spielte Emmendingen in dieser Spielzeit formal auf Augenhöhe mit dem FC Bayern. Es war ja kein Losglück, das zum Emmendinger Ausflug ins Stadion an der Grünwalder Straße führte. Es war auch kein Freundschaftsspiel. Nein, es handelte sich um eine normale Begegnung in der Regionalliga Süd in der Spielzeit 64/65 – zu diesem Zeitpunkt die zweithöchste Klasse Deutschlands. Eine Klasse unter der Bundesliga. Dass der FC Emmendingen 03 in diese Liga aufgestiegen war, kam möglicherweise überraschend, war aber völlig verdient.

Im Grunde begann diese Geschichte schon mit einemCstarken Jahrgang in der Jugend, der weitere Talente ins Elzstadion lockte. Als zur Spielzeit 60/61 noch Trainer Paul Lehmann dazukam, ein ehemaliger Spielführer des Freiburger FC, ging es richtig los. Lehmann hatte unter Herberger die Trainerlizenz erworben. Bevor er sich darauf einließ, den FCE zu trainieren, beobachtete er heimlich das Training. Was er sah, gefiel ihm: Technisch feine Spieler. Wenn er sie noch taktisch schulte, dachte Lehmann, sollte vieles möglich sein. Und tatsächlich: Er schaffte das uralte WM-System ab, schärfte die Automatismen und ließ im Mittelfeld diagonale Pässe spielen. Lehmann intensivierte das Training, und wenn es sein musste, warf er auch einen Blick in die Kochtöpfe der Spielermütter, um zu sehen, ob die Mahlzeiten gehaltvoll waren. All das sollte Früchte tragen. Die Platzierungen in der Amateurliga Südbaden unter Lehmann: Dritter, Zweiter, Meister. Doch der Aufstieg war fürs Erste verbaut. Oben wurde die Bundesliga eingeführt. Da auch die darunterliegenden Spielklassen reformiert wurden, konnten die Amateurmeister nicht aufsteigen. Aber der FCE war so turmhoch überlegen, dass er den Südbadischen Meistertitel leicht verteidigte. Unter anderem gab es eine Serie von 20 Spielen ohne Niederlage. Die Zuschauer im Elzstadion konnten sich kaum noch an verlorene Spiele erinnern.

Und jetzt lockte die Aufstiegsrunde. Dort war der südbadische Meister gesetzt – und zwar als großer Außenseiter. Schon damals war Südbaden der kleinste Verband von allen. Demgegenüber galten die Meister aus Württemberg, Nordbaden und Schwarzwald-Bodensee als klare Favoriten. Designierter Aufsteiger war eigentlich der VfR Heilbronn. Daneben bestand die Vierergruppe aus dem FV Ebingen und dem SV Schwetzingen, beide bärenstark. Emmendingen? Vermutlich Kanonenfutter.

Natürlich war die Begeisterung in Südbaden trotzdem gewaltig: 4000 Zuschauer drängten sich im Elzstadion am Spielfeldrand, 3000 mehr als üblich. Es gab nurschmale Stehwälle. Die Tribüne, die heute steht, befand sich noch in der Planung. Ernsthaft an den Aufstieg dachte sowieso niemand. Und so kam es, wie es kommen musste. 3 : 2-Heimsieg gegen Ebingen. 2 : 1-Auswärtssieg in Schwetzingen, nachdem Torhüter Dieter Rutz einen Elfmeter hielt. Plötzlich ging der Außenseiter als Tabellenführer ins Schlüsselspiel gegen den VfR Heilbronn. Das Elzstadion meldete Rekordbesuch. 7000 Zuschauer erlebten den 2:0-Sieg der Südbadener. Die Vorstandsetage begann ernsthaft zu überlegen, ob man überhaupt in der Lage wäre, eine Regionalliga-Saison finanziell zu überstehen.

Keine Trainerdiskussion, keine Debatte über die Qualität der Mannschaft, kein Ruf nach Verstärkung, keine Krise im Vorstand. Von der Entfernung aus betrachtet, war das alles zu loben; von Emmendingen aus gesehen war es selbstverständlich. Dort genoss man das Privileg, eine Saison mit den Großen zu kicken. So konnte man beispielsweise dem FC Bayern aus nächster Nähe beim Aufwärmen zuschauen. Auch wenn man dafür 90 Minuten den kommenden Weltstars hinterherwetzen musste. 0:7 ging das Auswärtsspiel in München schlussendlich verloren, aber auch nur, weil die Beckenbauers und Müllers in der zweiten Halbzeit gnädigst einen Gang zurückschalteten. In der lokalen Presse erschien eine Karikatur, auf der ein Torhüter neben seinem Pfosten lehnte. Der Untertitel lautete: „Emmendingen, das Tor zum Schwarzwald“. Spätestens nach dem Auftritt im aktuellen Sportstudio kannte ganz Deutschland die sympathischen Außenseiter. Trainer Lehmann und der Halblinke Günter Kuner sa.en bei Wim Thoelke auf der Trainerbank vor der Torwand. Als Thoelke die Höhe der Siegprämie genau wissen wollte, antwortete Kuner wahrheitsgemäß: „Ich weiß es nicht, wir haben ja noch nicht gewonnen“. Tags darauf erzielten die Emmendinger auswärts sogar drei Tore bei der SpVgg Fürth. Die Fürther allerdings vier.

So wurde die Saison des FC Emmendingen 03 eine absolut legendäre – auch weil die Mannschaft nie mauerte. Trotz hoher Niederlagen stellte Trainer Lehmann niemals defensiv auf. Aus Prinzip nicht. So konnte es passieren, dass man bei besonders starken Gegnern mit fliegenden Fahnen unterging, zum Beispiel in Reutlingen. Da ging das Debakel schon beim Busfahrer los, der sich bei der Reiseplanung vertan hatte. Er musste über die Schwäbische Alb kurven, weil man einen Spieler in der Kaserne in Stetten abholen musste. Dieser Ort hie. zwar offiziell Stetten am kalten Markt – aber im Fachjargon nannte ihn jeder nur am kalten Arsch. Natürlich hätte sich der Fahrer ausrechnen können, dass man länger nach Reutlingen benötigte, wenn man zuerst über den Arsch der Welt kurven musste. Aber lamentieren half nichts, es war schon zu spät. Nur das Gaspedal konnte noch helfen. Während der Bus über die Alb bretterte, zog sich die Mannschaft bereits um. Kurz vor Reutlingen gab es die Mannschaftsansprache im Bus. Die Spieler rannten direkt vom Parkplatz auf das Spielfeld. Aber außer der Platzwahl war nichts zu gewinnen. Kaum lag die Münze auf dem Rasen, schlug der Ball bereits ein. Mit zehn

Stück im Gepäck zockelte der Bus wieder nach Hause. Hinterher sagt man: „Man hat immer daran geglaubt..“ Aber es waren wohl nicht mehr viele, die Emmendingen einen Sieg zugetraut hatten. Doch das Happy End geschah, und wie bei allen guten Spielfilmen genau dann, als keiner mehr damit rechnete – in der letzten Auswärtspartie bei der TSG Ulm 1846. Ein verdientes Happy End, schon weil es um weit mehr ging als die berühmte goldene Ananas. Für Ulm stand der Klassenerhalt auf dem Spiel. Ulm musste gewinnen. Doch so sehr sich die Spatzen ins Zeug legten, die Emmendinger hatten an diesem Tag die bessere Antwort. Fritz Karcher schlug in der 59. Minute eine Flanke in den Strafraum, Linksaußen Buri verwandelte. Dass Emmendingen einmal in Führung lag, das war allerdings nichts Neues. Vollkommen neu war es, dass sie die Führung über die Zeit brachten. Sogar die Ulmer Zuschauer wechselten nun das Lager. Nachdem sie wussten, dass auch ihre Mannschaft abgestiegen war, feierten sie den historischen Emmendinger Sieg. Linksaußen Heinz Hodel erinnert sich: „Da haben wir auf der Rückfahrt vor Freude gleich dreimal gegessen“. Eine schöne Formulierung. An Getränken zur Förderung der Verdauung wird es dabei nicht gefehlt haben.

Etwas anderes als eine lupenreine Amateurmannschaft konnte sich der FCE sowieso nicht leisten. Aber die Aufstiegsrunde wurde schneller gespielt, als der Vorstand sich besinnen konnte. Schon mit dem Heimsieg gegen Schwetzingen war der Aufstieg perfekt. So souverän die Aufstiegsrunde gewonnen wurde, es war trotzdem allen klar, dass nun die Zeit der vielen Siege vorüber war. Für schlagkräftige Verpflichtungen fehlte das Geld, also wurden drei Spieler aus den umliegenden Dörfern geholt – in der Hoffnung, es wäre ein Glücksgriff dabei. Wie alle anderen auch erhielten die Neuzugänge sogar Verträge. Richtig offiziell auf Papier – eine Premiere im Emmendinger Fußball. Darin war festgehalten, dass die Spieler 50 Mark im Monat verdienten und weitere 10 Mark für jedes absolvierte Spiel. Man musste das wenige Geld für anderes zusammenhalten: zum Beispiel für die dringend notwendigen Bauvorhaben, für Vereinsheim und Tribüne. Aber auch an die Auswärtsfahrten nach Kassel und Hof musste man denken. Das konnte teuer werden. Ohne grundsolide Planung ging da gar nichts. Was andererseits bedeutete, dass die sportlichen Erwartungen sich in engen Grenzen hielten. Trainer Lehmann formulierte mit äußerster Vorsicht: „Wir wollen nicht ohne Weiteres als Punktelieferant gesehen werden“. Was bedeutete: Punktelieferant schon, aber nicht „ohne Weiteres“. Damals sollten sich nur wenige Aufsteiger aus Baden-Württemberg in der Regionalliga durchsetzen. Das Problem lag in der Struktur der Ligen. Jedem Emmendinger war bewusst, dass sie im Grunde zwei Klassen auf einmal aufgestiegen waren. Die anderen Aufsteiger kamen aus der Hessenliga und der Bayernliga. Eine Baden-Württembergische Liga gab es jedoch nicht, stattdessen diese kurze Aufstiegsrunde. Mit Ausnahme der letzten sechs Spiele kamen die Emmendinger Gegner bisher aus den Dörfern der erweiterten Nachbarschaft – aus Waldkirch, Rheinfelden oder Kandern.

Bald würden Bayern München und die SpVgg Fürth zu Gast sein. Mannschaften aus einer anderen Galaxie. Mindestens eine Hausnummer zu groß für Emmendingen. Sogar der Bürgermeister Faller persönlich half mit, jede Erwartung im Keim zu ersticken: „Wir rechnen weiterhin mit der Unterstützung durch unsere Zuschauer und hoffen, dass sie uns auch dann noch besuchen, wenn einmal nicht alles Gold ist, was glänzt.“ Und wie sie das taten! Im Schnitt 2500 Zuschauer besuchten die Emmendinger Heimspiele. Herbe Abfuhren wechselten sich mit Spielen ab, die auf Messers Schneide standen, aber eben doch verloren gingen. Nur der Auftakt konnte sich noch sehen lassen. 2:2 gegen Mitaufsteiger Wacker München. Aber dann hagelte es Niederlagen. Zu einem Heimsieg sollte es während der gesamten Saison nicht reichen. Wenn man ehrlich blieb, waren sogar einige Vorstellungen dabei, die mit dem Attribut desolat noch milde beschrieben waren. Beispielsweise ein trostloses 0:6 gegen Bayern Hof. Emmendingen war nicht nur Punktelieferant geworden, sondern auch noch Torelieferant dazu. Angesichts dessen war ein 3:3 gegen Darmstadt nach ausgeglichenem Spiel schon eine Sensation. Aber es sollte für lange Zeit der letzte Punkt bleiben. „Am Anfang waren wir dran, aber irgendwann ist uns wohl der Glaube an uns selbst verloren gegangen“, erinnert sich Torhüter Dieter Rutz, der trotz der hohen Niederlagen von der Presse stets Bestnoten bekam. Doch da war er nicht der Einzige. Die Außenseiter wurden stets in höchsten Tönen gelobt: Faire Spielweise, schöne Kombinationen, mutiges Angriffsspiel. Aufmunterung allenthalben. Punkte nirgends. Bald wurde die überregionale Presse auf das Schlusslicht aufmerksam. Das Eigenschaftswort tapfer fehlte niemals, wenn einer über Emmendingen schrieb. Unter der Überschrift „Wenigstens einmal gewinnen“, lobte die kicker Sportrevue ausführlich die Emmendinger Bodenständigkeit.

Die Geschichte aufzuschreiben, wäre ohne Dieter Rutz nicht möglich gewesen. Er kopierte mir eine unzählige Zeitungsartikel aus dieser Zeit, die ich aufbewahre wie ein Schatz. Als ich ihn in Emmendingen besuchte, um ein Interview zu führen, staunte ich Bauklötze. Er hatte die Emmendinger Sportskameraden aus diesen Tagen vollzählig eingeladen. Für den Nachwuchsautor ein unvergesslicher Abend im Emmendinger Vereinsheim. 

Die Würdigung von Dieter Rutz stammt aus der Feder von Renzo Düringer, dem Sportskameraden und langjährigen Vorstand des FC Emmendingen 03: Ein großes FCE-Herz schlägt nicht mehr

Bildhinweis: Die Orginalaufnahmen wurden aus den Zeitungsausschnitten kopiert, die Dieter Rutz selbst zur Verfügung gestellt hatte. Das Mannschaftsbild aus dem Jahr 2015 stammt aus dem eigenen Archiv. Die Story stammt aus dem Buch Heimspiele Baden-Württemberg, das 2015 im Silberburg Verlag erschienen ist. 

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