Die Zeugen der Howa

Die Vienna schwingt sich auf zu alter Stärke. Österreichs ältester Fußballverein ist berühmt aufgrund der Erfolge – und berüchtigt aufgrund seiner Bauchlandungen. Kommt es diesmal anders?

Du musst mit Enttäuschungen umgehen können, wenn du dich zu den Zeugen der Hohen Warte zählst. Anders geht’s nicht, obwohl dein Verein ein astreiner first mover ist. Du weißt aus Erfahrung: Der Erste ist nicht zwangsläufig der Beste. Und die Sache mit dem „First“ ist auch ne Weile her. Im vorletzten Jahrhundert wird die Vienna als erster Fußballklub Österreichs gegründet. Heute nennt man es Alleinstellung. Obwohl es eine knappe Angelegenheit war im Jahr 1894. Schon Tags darauf konstituierte sich der nächste Verein, der Vienna Cricket and Football Club. Die Erst-Gründer verloren umgehend ihre Premiere gegen die Cricketer. Endstand 0:4. Was natürlich keinesfalls am Selbstverständnis der Vienna aus Wien-Döbling kratzte. Vienna First. Ist doch klar. 

Vereinshistoriker Alexander Juraske erzählt eine weitere Anekdote aus den Anfängen, die für Selbstbewusstsein spricht. Sie handelt vom ersten Abstieg im Jahr 1914. Dieser kommt unter anderem zustande, weil sich der edle First Vienna Futbol Club am Saisonbeginn für einen direkten Absteiger stark gemacht hatte, also einen Absteiger ohne Relegationsspiel. Wer rechnet bei der Vienna bitte damit, dass man selbst auf dem letzten Platz landet? Aber immerhin sind sich Offiziellen nicht zu schade dafür, einen ernsten Protest gegen ihren eigenen Antrag auf Direkt-Abstieg einzulegen. Man solle bitte bedenken, dass die Vienna ihre Spieler häufig für internationale Auftritt schont. Der Einspruch scheiterte. Wie undankbar, diesen großartigen Klub absteigen zu lassen. 

„First“ verpflichtet

Tatsächlich sind es nicht nur Formalitäten wie Vereinsfarben und Wappen, die sich über fast 130 Jahre First Vienna erhalten. Selbstbewusstsein und grenzenlose Zuversicht sind Teil der DNA. Unzerstörbar, selbst dann, wenn es gerade schief geht. Den Glauben an bessere Zeiten zu verlieren, ist so undenkbar wie ein Abschied aus der Hohen Warte, dem legendären Ort der österreichischen Fußballgeschichte, an dem der Scheiberl-Fußball seine größten Erfolg feiert. Hier in dieser einmaligen Naturarena erlebt Österreich seine goldene Ära – in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts.

85.000 Zuschauer sind damals live dabei, als die rotweißrote Nationalmannschaft die Gegner schwindelig scheiberlt. Es ist der derselbe Ort und dasselbe Stadion, in dem Blau-Gelb heute seine Zweitligaspiele austrägt. Als Zuschauer hat man die Historie direkt vor Augen, selbst an einem kalten Novemberabend im November 2022, beim Zweitligaspiel gegen Rapid, zweite Mannschaft. Der einstige Ruhm verliert sich irgendwo im Nachthimmel. Etwa dort, wo man grasigen Ränge des Naturstadions aus den Augen verliert. Was man genau erkennt: wie die aktuellen Helden in den blau-gelben Trikots ihren Fußball bearbeiten. Solides Handwerk auf dem Boden der Gegenwart. Grätschen und Rennen. Rustikale Romantik vom Feinsten. Schienbein statt Scheiberl. 

Steh auf, wenn Du noch Beine hast.

Was gerade geboten wird, weiß Juraske trefflich einzuordnen. Es sei durchaus der traditionelle Vienna-Fußball, meint der Historiker. Schnörkellos, kämpferisch, gradlinig. Es sei auffällig, dass die großen Vienna-Spielerlegenden mehrheitlich als Verteidiger oder defensive Mittelfeldspieler auf dem Platz stehen. Auch ein Spruch aus dem Jahr 2012 unterstreicht das. Der damalige Vienna-Trainer Alfred Tatar über seinen Matchplan: „Wir wollen eine ganz moderne Variante des Brechstangenfußballs ausarbeiten und sind sozusagen die Anti-These von Barcelona.“ Man kann das Selbstbewusstsein der Vienna kaum treffender beschreiben. 

Tatars Anti-Barcelona hält sich einige Spielzeiten in der zweiten Liga. Danach geht’s bergab. 2014 hinunter in die drittklassige Regionalliga Ost. Als dann der Hauptsponsor, ein dubioses Energie-Unternehmen aus Hamburg pleite geht, wird die Vienna mitgerissen. Überschuldung. Also Stadtliga. Gerichte werden eingeschaltet. Vergebens. Die Revision wird sogar zum Eigentor. Die Vienna startet mit kapitaler Verspätung in die unterste aller Spielklassen. Der Punktrückstand ist nicht mehr aufzuholen mit den Spielen, die noch bleiben. Also gleich zwei Spielzeiten ganz unten. Weil die Gläubiger sich ausdauernd weigern, einen Schuldenschnitt zu akzeptieren, wäre der Verein fast aus dem Register getilgt worden. Doch am Ende siegt die Vernunft – unter maßgeblicher Rückendeckung der UNIQA.

Unkonkursbar seit 2017

Wer in Symbolen etwas erkennen mag, erkennt auf dem Wappen der Vienna: drei Beine. Die braucht die Vienna, um wieder aufzustehen. Mindestens. In einem Kraftakt wird der Verein neu organisiert. Die Fans halten die Treue. Vienna-Fan Juraske erwähnt von zwei Schlüsselpersonen: zum einen den Vienna-Vorstand Kurt Svoboda, zum anderen den Geschäftsführer Thomas Loy. „Ohne die UNIQA gäbe es die Vienna nicht mehr“, bestätigt Juraske. Das langjährige Vienna-Mitglied Kurt Svoboda ist Finanz- und Risikovorstand des Versicherers, inzwischen auch Vorstand der Vienna. Angetrieben vom Finanzexperten verlässt sich der Verein jedoch nicht auf das präsidiale UNIQA-Sponsoring alten Zuschnitts. Auf dem  Sponsorboard erkennt man: Mehr als hundert Unternehmenslogos sind verzeichnet. Weder im piekfeinen Club unter der Tribüne noch im VIP-Zelt hinterm Tor bleibt ein Plätzchen frei – und das sogar an diesem ungemütlichen Novemberabend gegen Rapid II. 

Liga-Krösus. Ohne Schmäh

Geschäftsführer Thomas Loy arbeitet an der breiten Aufstellung des Vereins. Bloß keine Abhängigkeiten mehr. Sponsoren sind das wichtigste. In der zweiten österreichischen Liga gibt es keine direkten TV-Einnahmen. Die Liga zahlt einen Bewerbszuschuss. Groß ist er nicht in einer Spielklasse, die sich als Mischung von Amateuren und Profis versteht. Zahlende Zuschauer sind ein Faktor. Der Zuspruch beläuft sich auf rund 2000. Das möchte man ausbauen. Auch die Untervermietung der Hohen Warte an das Footballteam der Vienna Vikings fällt als Einnahme ins Gewicht. Beim finanziellen Niveau entspricht die zweite österreichische Liga ungefähr der fünften Stufe in Deutschland. Gutes Oberliganiveau. Auch was das Spielerische betrifft, passt der Vergleich. Von anderen Zweitligateams ist die Vienna in dieser Saison bereits als Krösus bezeichnet worden. Ob es zutrifft oder nicht – als „Krösus“ bezeichnet zu werden, das ist First Vienna lange nicht mehr passiert. Betrachtet man die Zahlen nüchtern, verfügt der Club derzeit über ein Eigenkapital von rund 500.000 Euro. In den letzten Jahren wurde ein Schuldenberg von über 1 Mio. Euro abgebaut. Offenbar sind nach der letzten Bauchlandung die richtigen Lehren gezogen worden. Das spiegelt sich auch in der Erwartungshaltung. Mit der zweiten Liga sind gerade alle glücklich und zufrieden.

Einzigartig seit 1894

In Unterschied zu den früheren Jahren versteht man es aus der Tradition Kapital zu schlagen. Unter der Haupttribüne wurde „Planter’s Club“ eingerichtet. Eine mondäne Location mit feiner Bar. Feinster englischer Stil. Auch der Name, den der Betreiber einer noblen Cocktail Bar aus der Wiener City mitgebracht hat, passt zu den Wurzeln der Vienna, die einst von Gärtnern des schwerreichen Barons Nathaniel Rothschild gegründet wurde. Ein Team um den Alexander Juraske hat die Wände als Museum gestaltet. Vor dem Spiel empfängt der Historiker höchstselbst eine Delegation des Hauptsponsors zu einer unterhaltsamen Führung. 

 

Juraske kann stundenlang Geschichten erzählen. Zum Beispiel vom sensationellen Mitropa-Cupsieg 1927. Eine Nachbildung des Pokals ist der Höhepunkt der Museumsführung. Oder von Mario Kempes, dem Weltmeister aus Argentinien, der 1986 verpflichtet wurde, im Spätwinter seiner Karriere. Damals wurde ein Teil der kommenden Zuschauereinnahmen direkt ins Kempes-Gehalt eingerechnet. Obwohl er wegen Knieverletzung oft fehlte. Der Historiker erzählt Anekdoten, über die man heute den Kopf schüttelt. Auf der anderen Seite wird klar: Aus diesen Geschichten lässt sich Kapital schlagen. Denn die Vienna ist nicht nur selbst historisch. Als einer der wenigen Clubs spielt sie am Originalschauplatz. Zudem an einem, der sich im Originalzustand befindet. Tatsächlich wird das Naturstadion seit hundert Jahren von jeder architektonischer Verschlimmbesserung verschont. Mit allen Vor- und Nachteilen.

Nachteil: Überschaubarer Komfort. Fortlaufender Reparaturbedarf. Wenn man an der einen Stelle ausbessert, bröckelt es anderswo. Vorteil: Der Atem der Geschichte. Beim dürftigsten Zweitligakick kannst Du Dir vorstellen, wie es früher war, als 85.000 dort oben waren, wo heute nicht mal das Flutlicht hinreicht. Damals in der Goldenen Ära der Vienna. Oder damals als die First Vienna Meister wurde, was ihr insgesamt sechsmal gelang. Auch wenn Historiker Juraske an dieser Stelle gerne präziser wäre. Drei der sechs Titel stammen aus den Jahren zwischen 1942 und 1944. Arg österreichisch sind sie nicht. Aber sechs Meisterschaften sind allemal schöner als drei. Zumal der Österreichische Fußballbund für die offizielle Zählung zuständig ist.

Blickrichtung erste Liga

Geschäftsführer Loy und Präsident Svoboda betonen unabhängig voneinander, die Notwendigkeit weiterer Professionalisierung. Svoboda formuliert es deutlich: „Ziel ist es, dass Vienna in der Saison 2025/26 wieder in der Bundesliga mitspielt.“ Die Namen im Sport-Kompetenzteams belegen die Ambitionen. Sie sind weit über Österreich hinaus bekannt: Sportdirektor Markus Katzer, Ausbildungsmanager Andreas Ivanschitz, Nachwuchsleiter Jiri Lenko. Erfahrung aus mehr als 1.000 Erstligaspielen soll die Vienna nach oben bringen. Das Vorbild findet man in den eigenen Reihen. First Vienna Frauen spielen längst erstklassig. Übrigens der Leitung von Nina Burger, österreichische Rekordnationalspielerin und Rekordtorschützin. Für das Männerteam unterstreicht Geschäftsführer Thomas Loy die Ambitionen: „Das Ziel ist mittelfristig klar der Aufstieg in die Bundesliga, weil die Vienna mit ihrer Tradition und Historie einfach dorthin gehört.“ Es ist einfach nicht tot zu kriegen, das traditionelle Vienna-Selbstbewusstsein. 

Gemma, koid is net

Die Zeugen der Howa wissen das zu schätzen. Die Fanszene wird dominiert von gut abgehangener Ironie. In den Achtzigern wird der Klub, der eigentlich nichts dafür kann, von der alternativen Szene entdeckt. Der Gegensatz könnte größer nicht sein. Alternative Fans auf der einen Seite. Gutbürgerliche Veteranen auf der anderen. Die Senioren auf der Tribüne brauchen Jahre, um sich an den Support von links zu gewöhnen. Auf Betreiben der „Döblinger Kojoten“ wird früh ein Antidiskriminierungspassus in den Vereinsstatuten festgeschrieben. Auch bei der Vereinsrettung im Jahr 2017 leistet die Szene wertvolle Aufbauarbeit. Bei den folgenden Auswärtsfahrten in die unmittelbare Nachbarschaft stimmt der Sound. Während des Durchmarschs durch die Regionalliga Ost feiert man das „Derby of Love“ mit der befreundeten Szene des Wiener SC. Support ist nur, wenn er wenn er humorvoll und subversiv daher kommt. So wie beim Heimspiel gegen Rapid II, als sich die Vienna nach 0:2-Rückstand noch zum 2:2 heran kämpft. Nach der Herbstserie belegt die Vienna einen stabilen sechsten Platz. Der Bundesligaaufstieg in den nächsten Jahren scheint nicht völlig ausgeschlossen. Obwohl die aktuellen Zeugen der Howa schon in die Jahre gekommen sind: Für sie wäre es eine neue Erfahrung.

Dieser Bericht wird hier wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung des Zeitspiel Magazin. Er erscheint in der Ausgabe #29, die sich mit den Jahren 1962 und 1963 befasst, also mit der Saison, bevor die Bundesliga in Deutschland eingeführt wurde. Herzlichen Dank an Vienna-Vereinshistoriker und Prophet Alexander Juraske und den First Vienna Football-Club 1894, der uns in Person von Christof Köpf aufs Feinste unterstützt hat.

Außerdem in der Ausgabe #29:
- Rot-Weiß Oberhausen
- Athletic Bilbao
- VfL Halle 96

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