F*** King

Glasgow. Große Stadien. Kleine Stadien. Untergegangene Stadien. Keine Sonne. Keine Altstadt. Keine Klobürste. Und trotzdem der Mittelpunkt der Welt. Für Groundhopper wie uns.

Von den Schotten kannst du lernen. Resilienz zuerst. Die stehen zwei Stunden in kurzen Hosen auf der polarzugigen Stehtribüne während wir uns an selber Stelle in Skiunterwäsche einen Schnupfen holen. Wahrscheinlich sind’s ihre Gene. Könnte sein, dass gepflegte Pints die angeborene Widerstandskraft zusätzlich stärken. Vor dem Besuch des Old Firm, genauer gesagt, vor der Öffnung der Warm-up-Pubs, bilden sich lange Schlangen vor den Einlass. Das große Derby wird 13.30 Uhr Ortszeit angepfiffen. Die Pubs öffnen gegen 11 Uhr. Sonntagmorgen. Die Leute stehen schon vor dem Pub an, gegen 10.30 Uhr wohlgemerkt. Wie Kirchgang, dauert nur  länger. Und von wegen reine Männergesellschaft. Damen aller Altersstufen vertreten. Der Teint der Jüngeren widerspricht auf plakative Weise dem andauernden Nieselregen. Bräunungscreme hält offenbar, wenn du  fünf Lagen übereinander schmierst. Die L‘Oreal-Aktie sollte morgen durch die Decke gehen. Wir stehen im Celtic Pub Brazenhead (dreister Kopf), haben keine Karten für‘s Old Firm und wissen, dass wir keine bekommen. Wußten wir schon vorher. Die meisten Fans haben auch keine. Tickets werden gehandelt wie Goldstaub. Selbst als Mitglied kriegst du selten welche. Zumindest nicht gegen Geld. Als Tourist musst du schon einen sehr guten Freund in Glasgow haben. Sonst geht’s nicht. Karten für uns alle Fünfe? Utopisch! Früher war war alles besser.

Pubnasen

Das Pub Brazenhead liegt rund zwei Kilometer vom Ursprung des Fußballs entfernt. Der wiederum befindet sich zwischen Brazenhead und Hampden Park im feinen Queen‘s Park. Dort fand 1892 das erste Länderspiel der Geschichte statt. Schottland gegen England 0:0. Es sollte für gewisse Zeit das letzte Unentschieden bleiben, das die Engländer gegen ihre Lieblingsfeinde erzielt haben. Lernerfolg für die Three Lions: Passspiel. Die Schotten erfanden das Abspielen. Die Engländer kickten noch als wäre es nicht erlaubt. Wenn ein Engländer einen Ball hatte, lief er mit ihm nach vorn, bis er ihn verlor, gefoult wurde oder ein Tor erzielte. Die Schotten spielten ab. Querpass. Wie selbstverständlich. Das schottische Aufgebot soll fast ausschließlich aus Spielern von Queens Park FC bestanden haben. Kombinationsmaschine. Tiki-Taka in seiner frühesten Erscheinungsform. Die Konzentration auf das beste Clubteam erklärt auch den Austragungsort. Die Wiese des Queen’s Park erlebte die frühen Wurzeln des Guardiola-Fußballs. Rund 4.000 Zuschauer sollen zugeschaut haben. Ein paar davon gründeten prompt selbst einen Fußballclub. Kurze Zeit später gab‘s die Rangers, Third Lanark (nach einem Armee-Regiment benannt), Celtic, Partick Thistle und viele andere Clubs, von denen manche untergegangen sind. Seit rund einem Jahrhundert sind Celtic und Rangers den Anderen enteilt. Seit einem halben Jahrhundert heißen die großen schottischen Matches Celtic gegen Rangers, Rangers gegen Celtic oder wie jetzt gerade Rangers gegen Celtic, gespielt im neutralen Hampden Park, also schottisches Wembley, weil Halbfinale im Schottischen Cup. 

Celtic gegen Rangers kommt mit großer schottischer Folklore daher, auf Seiten von Celtic muss man irische Folklore sagen. Die irischen Identität von Celtic verbietet es seit jeher der englische Krone etwas anderes zu wünschen als einen qualvollen Tod. Im Pub wird nicht-lizenziertes Merch verkauft. Irgendwas mit „Free Prisoners“ vermutlich Unterstützung der Fraktion Stadionverbot. Dann noch was mit „Free Derry“. Damit ist Londonderry in Nordirland gemeint. Das ist selbstverständlich ur-irische Weltanschauung. Die englische Krone soll sich dort und anderswo gefälligst verpissen. Die Kneipe wird entsprechend kräftig mit irischen Weisen beschallt. Nach dem Refrain brüllt die ganze Kneipe „Fucking King“. Es kann nicht vollkommen ausgeschlossen werden, dass die Texte die IRA und den bewaffneten Kampf verherrlicht. Man müsste die Textversion googeln. Aber irgendwie auch nicht. Weil man sich längst daran gewöhnt hat, dass der örtliche Dialekt nur gefühlt verständlich ist. Lustige Laute zwar. Freundlich vorgetragen. Aber krassester Slang. Schottisch bißle wie Älblerschwäbisch. Die Leute verstehen sich, weil sich ihre Vermutungen, was die Laute bedeuten könnten, halbwegs ähnlich sind. Freundlich sind sie alle. Wenn dir in der engen Kneipe einer aus Versehen auf den Zehen tritt, entschuldigt er sich nicht unter fünf Umarmungen. Dass wir keine Schotten sind, sieht man uns an den Ohren an. Jeder Versuch einer kulturellen Aneignung, zum Beispiel durch Kauf einer irischen Flagge, wäre von vorn herein zum Scheitern verurteilt. Wegen der Ohren. Da ist selbst meine Frisur chancenlos, die die Wirtin an Gilbert O’Sullivan erinnert. Immerhin ein irischer Sänger. Trotzdem: Zarter hätte der Hinweis auf dringenden Friseurbesuch nicht formuliert werden können. Die Konversation besteht darin, dass ich drei Sätze spreche, die ungefähr englisch sind, und dann einen herzlichen zwei Minuten Vortrag bekomme, bei dem ich vier der vierhundert verwendeten Vokabeln mit einer mitteleuropäischen Sprache in Verbindung bringe. Da verstehe ich sogar mehr, wenn Til Schweiger einen deutschen Satz deklamiert. 

Folklore

Was ich verstehe: Vielleicht würde es allen helfen, wenn verfeindete Landsleute sich nur noch im Fußball gegenüber stehen. Manche behaupten ja, dass über die irische Frage am unerbittlichsten in Schottland verhandelt wird. Matched sich auch mit den Unabhängigkeitsbewegungen der Schotten. So ist Fußball. Da überlebt die Bürgerkriegsfolklore. Kriegst du nicht raus aus den Leiten. Von den vier Vokabeln, die ich dekodieren kann, lauten zwei „Rangers“ und „Bastards“. „Horrible“ war auch dabei. Alle gewalttätig, ausnahmslos. Braucht man in diese Kneipe keine zweite Quelle zu befragen, um die Aussage zu verifizieren. Horrrrrr-i-bl. Mit gerauchten und halbverdauten Vokalen auszusprechen. Apropos zuverlässige Quelle.

Neben Bier wird auch ein grünes Getränk in einer Sangria-ähnlichen Schüssel kredenzt. Eimer Hilfsbegriff. Es handelt sich um ein Trendcocktail aus einer blauen Limonade, die nach scharfer Zahnpasta schmeckt, gereicht mit Southern Comfort, Wodka und frischem Orangensaft. Blaue Limonade und O-Saft für die grüne Farbe. Der Rest für die Umdrehungen. Die Jugend setzt den Eimer an. Sichtbar betrunken ist keine und keiner. Stimmbandprobleme auch unbekannt. Beim 1:0 für Celtic explodiert die Kathedrale. Der ältere Herr vor mir misst geschätzte 1,50 Meter. Drei Sekunden nach dem Tor bleibt er er auf 2,50 Meter in der Luft stehen wie einst Air Riedle beim Kopfball. Am Boden zurück hilft er seiner altersschwachen Ehefrau wieder zurück auf den Barhocker. Die ganze Familie packt da mit an. Der Opa bleibt während der gesamten zweiten Halbzeit dicht am Geschehen. Maximalabstand zum Flatscreen 50 Zentimeter. Wenn sich für Celtic ein freier Raum zum Kontern öffnet wird er vom Opa auf den Screen umgehend markiert. Auch die Laufwege werden vorgezeichnet. Das routiniertestem Taktikboard der Welt. Wird ein Rangersspieler in Großaufnahme gezeigt, bekommt er vom Alten einen Finger an die Nase gesteckt, manchmal auch zwei. Keine unhygienische Angelegenheit übrigens. Der Routinier wischt seine Finger am Bierteppich ab, der auf dem Tresen liegt.  Danach schaut er sich um, grinst diabolisch die Anderen und freut sich über seinen Witz, den er offenbar schon im hundertsten Old Firm macht. 

No way

In dieser Spielzeit hat Celtic kein Match gegen Rangers verloren. In der Liga besteht schon Abstand. Das kommende Pokalfinale scheint nur Formsache zu sein. Gegner ist Inverness Caledonian Thistle, Zweitligist, der sich im anderen Halbfinale gegen den Drittligisten Falkirk durchgesetzt hat. Apropos Thistle. Celtic Fans behaupten seit rund 10 Jahren, dass das große Glasgower Derby nunmehr Celtic gegen Partick Thistle lauten würde. Rangers würde seit dem Lizenzentzug vor zehn Jahren nicht mehr gelten. Weil die Rangers-Neugründung die Tradition verloren hätte, argumentiert man. Kann man so sehen. Kann man aber auch so sehen, dass Celtic ohne Rangers nicht überleben könnte. Das Old Firm („das alte Beständige“) ist der große Magnet der Liga. Ohne Rangers kein wirtschaftlicher Erfolg. Die großen Feinde sind aufeinander angewiesen, rein wirtschaftlich. Es sind ja eher die Rangers, die im englischen Ligensystem antreten würden - und das schottische verlassen. Aber No Way sagt der schottische Verband. Klarerweise. Was Celtic etwas aus der Bredouille bringt. 

Während das Ding mit Rangers und Celtic überall zelebriert wird, hat Glasgow so viele Geschichten zu bieten, die weitgehend unbekannt sind. Zum Beispiel, dass es schon 1909 zu ernsten Ausschreitungen beim Old Firm kam. Damals gab’s im Cup ein Wiederholungsspiel, wegen Remis nach regulärer Spielzeit. Es war die Zeit, in der man schon stattliche Eintrittspreise verlangte. Wiederholungsspiel füllte durchaus die Kassen des Verbands. Der Hampden Park konnte nochmal gefüllt werden. Fans beider Lager vermuteten jedoch eine Spielabsprache und randalierten ob des Remis. Mobiliar wurde zerstört, Kassenhäuschen angezündet. Die Hampden Riots 1909 gehören zu den frühesten Randalen in der Geschichte des gesamten Spiels. Zumindest von denen, die durch Zeitungen belegt sind. 

An anderer Stelle werde ich über den eigentlichen Höhepunkt der Reise berichten. Der Besuch beim Vorortclub Partick Thistle. Wir sahen dort ein sattes 2:0 gegen Arbroath. Letztes Heimspiel der Zweitligasaison. Großartige familiäre Atmosphäre. Very Scottish. Der Club mit der Distel im Wappen ist zwar klein, aber nicht wenig turbulent. Im Hintergrund läuft seit Jahren ein Prozess, der den Verein wieder zurück in Fan-Hände geben würde, wenn es funktioniert. Ein Thistle-Fan, der eine Rekordsumme im Lotto gewonnen hat, spielt eine Hauptrolle. Blöd nur, dass er zu früh gestorben ist. Die jüngere Geschichte von Partick Thistle werde ich fürs Zeitspiel Magazin aufbereiten. Findet ihr in der nächsten Ausgabe. Hier nur so viel. Garry Britton, Geschäftsführer von Partick Thistle, lächelte sehr freundlich, als ich ihm auf das Gemeinschaftseigentum und den steinigen Weg dorthin anspreche. Er beneidet uns Deutsche um  die 50+1-Regel. Demokratie und Transparenz wieder einzuführen, wenn es jahrzehntelang nicht vorhanden war, erweist sich als hochkomplexe Angelegenheit. Doch als Gegenentwurf zur überbordenden Folklore bei Celtic und Rangers würde es den familiären Vorstadtclub richtig gut tun. 

Alles Weitere demnächst im Zeitspiel Magazin. Nach der Reise sollte erst mal schauen, dass ich wieder etwas Farbe ins Gesicht bekomme. Meine Hoffnung: Ohne britisches Frühstück mit einem etwas weniger schottischen Lebenswandel sollte es möglich sein. Zum Friseur sollte ich auch. Und ach, nein, keine Bräunungscreme, gell. 

-> Zum Zeitspiel Magazin. Nächste Ausgabe: Juli 2023

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