Kein gutes Wort über Basaksehir

Cem Özdemir war bei Beşiktaş, bei River Plate und am Tisch der DFB Task Force. Für den Zeitspiel Magazin-Schwerpunkt "Europa" schildert Özdemir seine Sicht auf die Zukunft des Fußballs.

Sie sind seit ihrer Jugend Fußballfan. Im Sportteil der Zeitungen tauchen sie erst seit drei Jahren auf. Was ist passiert?

Man muss die Kirche im Dorf lassen. Ich war leider kein so guter Fußballer wie ich gerne gewesen wäre. Vorbild: Der legendäre Schwarzenbeck, der hinter Beckenbauer damals alles abgeräumt hat. Einer, der stehen bleibt, nicht wegläuft und wenn es sein muss, die Grätsche auspackt. Sie spielen vermutlich auf den Fernsehauftritt vor drei Jahren an, bei Sky im Rahmen des Bundesligaspiels VfB Stuttgart gegen Eintracht Frankfurt. Ich hatte mich auf alles vorbereitet, hatte Aufstellung und Spielsysteme studiert. Aber davon wollten sie nichts wissen. Sie wollten über Fußball und Rassismus sprechen und über die AfD. Ich habe ab und zu mal versucht, etwas unterzubringen in Sachen Fußballkompetenz (lacht).

Wie kann man sich Fan-Perspektive bewahren, angesichts der Liste an Ärgernissen, die das Profifußball-Business mit sich bringt?

Ja, das ist so. Aber ich versuche fair zu bleiben. Um es konkret zu machen: Ich habe als VfB-Fan nie zu denen gehört, die Bayernhasser sind. Ehrlicherweise muss man zugeben, die Stärke der Bayern hat viel zu tun mit dem Geld. Sie profitieren eben von Management-Entscheidungen aus den früheren Jahren. Dass mein Herzensclub, der VfB, gleich zweimal in den letzten Jahren abgestiegen ist, das liegt sicherlich nicht an den Bayern. Es hat etwas mit vielen Fehlentscheidungen aus der Amtszeit von Präsident Wolfang Dietrich und auch schon davor zu tun.

Siegt die Fußball-Leidenschaft über den Fußball-Ärger?

Definitiv. Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir uns schichten- und milieu-übergreifend kaum noch begegnen. Wir wohnen in unterschiedlichen Stadtteilen, unsere Kinder gehen in unterschiedliche Kitas und unterschiedliche Schulen. Das Fußballstadion gehört zu den wenigen Räumen, in denen Menschen zusammen kommen – unabhängig davon, ob sie reich oder arm sind, ob sie einen Migrationshintergrund haben oder nicht. Im Stadion drücken sie gemeinsam ihrer Mannschaft die Daumen. Sie jubeln. Sie trauern. Sie ärgern sich. Sie fluchen. Sie erleben die gesamte Palette. Fußball ist so viel mehr als ein Wirtschaftszweig. Fußball hat eine soziale und integrative Rolle für die ganze Gesellschaft.

Auch eine Bedeutung für Europa?

In Barcelona kostet ein einzelner Spieler so viel, dass er fast einen großen Verein in den Ruin treibt. Deshalb sollten wir die Coronakrise zum Anlass nehmen, mal innezuhalten. Wir müssen uns fragen, ob wir dieses Wettrennen weiter machen wollen, vor allem was Gehälter, Beraterhonorare, Transfersummen und auch zwielichtige Investoren angeht. Auch die Rolle von menschenrechtsverletzenden Regimen oder Oligarchen, die sich Fußballmannschaften halten, gehört dringend beleuchtet. Ich versuche meinen Beitrag zu leisten, um das auf die Tagesordnung zu setzen. Ich mache mir da keine Illusionen, was die Möglichkeiten angeht, das zu ändern. Aber man muss beginnen, die Debatte zu führen. Übrigens bin ich sehr dankbar, dass Fans und Fanvertretungen ebenfalls Druck machen.

tl_files/propheten_dark/stories/20_12_Blog im Dezember/Zeitspiel Titel.JPGWenn man auf manche Tribünen schaut, scheint es, man könne dort alles ausleben, Patriotismus bis hin zu Nationalismus. Kann man dem entgegen wirken?

Vielleicht bin ich ein hoffnungsloser Optimist. Aber ich glaube daran, dass die Chance der Begegnung überragt. Leider tummeln sich im Stadion wie überall Rassisten, Sexisten und Antisemiten. Sie versuchen den Fußball für ihre Zwecke zu missbrauchen. Das dürfen wir nicht zulassen. Vergleichbares geschieht übrigens ebenfalls von Seiten der Politik. Denken Sie an Erdogan, Putin und andere autoritäre Herrscher. Der Fußball ist nicht unschuldig. Es gibt viele Interessen, die am Fußball zerren. In Fußball und Gesellschaft gilt daher: Wir müssen wachsam bleiben.

Erdogan hat mit Başakşehir eine eigene Mannschaft. Ein Spielzeug oder ein politisches Instrument?

Erdogan wiederholt im Fußball, was er in der Gesellschaft macht. Es geht um Kontrolle. Er bewaffnet Milizen, weil er seiner eigenen Armee nicht traut. Er tauscht Rektoren aus, um die berühmte Bosporus-Universität und die Wissenschaft zu kontrollieren. Vom Hörsaal über das Fußballstadion bis in die Schlafzimmer will er alle Lebensbereiche kontrollieren. Nach diesem Muster geht er im Fußball vor. Erdogan hat nicht vergessen, welche Rolle Çarşı, der prominente Beşiktaş-Fanklub bei den Gezi-Protesten gespielt hat. Deshalb versucht er, die Fankultur kaputt zu machen. Başakşehir ist ein Kontrollinstrument. Ich drücke den anderen Fans die Daumen, dass dieser künstliche Verein ohne echte Fankultur irgendwann das Zeitliche segnet. Nur am Rande: Eine Beşiktaş-Fanvereinigung hatte mal einen armenischstämmigen Chef. Wo sonst in der Türkei wäre so etwas vorstellbar gewesen?

Hat es vielleicht auch gute Seiten – im Sinne von Begegnung –, dass Başakşehir international spielt?

Meine Sympathien sind gleich null für diesen Retortenverein. Da spreche ich im Namen von vielen Fans inder Türkei – unabhängig davon, wo sie ihr Kreuz bei den Wahlen machen. Selbst Erdogan-Anhänger sind Fans von Trabzonspor, Beşiktaş, Fenerbahçe oder Galatasaray. Keiner kann mit dieser letzten Kopfgeburt von Erdogan etwas anfangen. Ein politischer Herrscher in seiner letzten Phase, in Agonie, will auch noch in den Fußball hinein regieren. Sie werden von mir kein gutes Wort über Başakşehir hören.

Im europäischen Fußball dominieren die Top-5-Ligen, England, Spanien, Italien, Deutschland, Frankreich. Ist diese Wahrnehmung eine Gefahr für Europa?

Ich erkenne die Schere eher zwischen den superreichen und den weniger reichen Vereinen. Letztere trifft man natürlich verstärkt in den Ländern mit den kleineren Ligen. Besonders unfair wird es, wenn sich Scheichs aus Drittstaaten, die es mit den europäischen Werten nicht so genau nehmen, massiv in die Vereine investieren und sich dadurch Macht und Einfluss sichern. Das ist die eigentliche Gefahr für den Fußball in Europa. In der Task Force ist es uns gelungen, zu diesen Themen wichtige Anregungen auf ein offizielles Papier zu schreiben. Vor einem Jahr hätten wir für Vorschläge wie den Salary Cap oder ein echtes Financial Fairplay noch Sozialismusvorwürfe bekommen. Ich betone: Dieser Reformbedarf besteht in ganz Europa. Nicht nur DFL und DFB müssen ran, sondern auch die europäische Politik. Dass es die UEFA aus eigener Kraft nicht schafft, das haben wir bei dem Financial Fairplay und dem Urteil in Sachen Manchester City gesehen.

Die Verbände sind teils mit mafiösen Strukturen durchzogen. Jedes Jahr ein neuer Skandal. Mindestens. Sind die Verbände überhaupt reformfähig?

Wir haben ja nur diese Verbände und leider habe ich nicht den Eindruck, dass der DFB seinen Einfluss nicht voll ausschöpft, was die Möglichkeiten der Einflussnahme auf europäischer und globaler Ebene angeht. Ich glaube, dass da mehr geht. Und das gilt auch ausdrücklich für die Politik. Ich hätte mir gewünscht, dass es in der deutschen Ratspräsidentschaft auch ein Thema ist. Die Lösung ist übrigens nicht, dass wir den Spielkalender noch dichter machen. Das gilt auch für die Nationalmannschaft. Ich brauche keine künstlichen Wettbewerbe. Diese dienen nur als Gelddruckmaschine für Verbände und Funktionäre.

Wie ist es möglich, dass sich ein DFB-Funktionär für 20.000 Euro aus Verbandsmitteln den Wiki-Eintrag pimpen lässt?

Da stellen sich viele Fragezeichen. Ich habe den Eindruck, dass wir mit Fritz Keller jemanden an der DFB-Spitze haben, der ernsthaft etwas verändern will. Wir müssen uns bewusst machen, dass unser Fußball erfolgreich ist, weil er ein demokratisches Grundgerüst besitzt. Ich meine vor allem die vielen mittleren und kleinen Vereine. Frauen, Männer und Jugendliche opfern ihre Wochenenden, damit der Ball rollt. Fahrerinnen und Fahrer, Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter, Menschen am Wurststand und am Zapfhahn, nicht zuletzt Spielerinnen und Spieler – alle sind auf eine solide Finanzierung des Spielbetriebes angewiesen. Das gilt für alle Spielklassen. Aber solche Summen wie sie im Oberhaus fließen, das ist auf Dauer nicht durchzuhalten. Da würd ich mir vom DFB mehr Engagement wünschen.

Wenn man sich für die Umverteilung von Geldern einsetzt, bekommt man Widerstand von denen, die am meisten verdienen.

Das konnte man sehen, als vier Vereine Reformvorschläge gemacht haben. Das ist ja erstmal nichts Verbotenes. Daraufhin wurden sie zu einem Treffen der Bundesligavereine zu dem Thema gar nicht eingeladen. Ich glaube, wenn in vier Jahren die nächste Verteilung der Gelder ansteht, sollte man mutiger vorangehen.

Ein Drohszenario der reichen Vereine ist die europäische Superliga. Wäre sie eventuell ein Segen, in Sinne einer spannenden Bundesliga?

Das Argument wird an einigen Stellen ernsthaft diskutiert. Aber mehr Wettbewerbe und ein tieferer Spielkalender sind nicht hilfreich. Der Reiz der Bundesliga besteht auch darin, den Bayern ein Bein zu stellen.

Apropos München. Wie ist Ihre Sicht auf einen Verein wie Türkgücü?

Es ist ja nichts Neues. In Berlin Türkiyemspor, die waren mal sehr erfolgreich. Bis die türkische Politik den Fußballverein entdeckt hat und runtergezogen hat. Zwielichtige Personen waren damals eingestiegen. Es ist nicht verwerflich, wenn die Leute sagen: Ich will einen Fußballverein, der an mein Herkunftsland erinnert. Aber beim Fußball geht’s natürlich darum, dass die Leistung entscheidet, und nicht die Muttersprache. Bei Nationalismus ist die Lage klar: Da gibt‘s die rote Karte. Es gibt keinen guten Nationalismus. Man kann nicht sagen, ich bin gegen den deutschen Nationalismus und einen anderen finde ich gut.

Thema Nationalmannschaften. Ist dieses Konzept nicht generell überholt?

Das ist so ähnlich wie die Debatte um die Vereinigten Staaten von Europa. Wir beide wären uns schnell einig, dass wir sagen, lasst uns das realisieren. Aber wir werden in Polen, in Ungarn und in vielen Mitgliedsländern keine Mehrheit finden. Denken sie an den Brexit. Da sind Ängste vorhanden. Auch hierzulande werden die AfD-Anhänger nicht zu den glühendsten Anhängern dieser Idee gehören. Insofern gehört es zum Realismus dazu, dass wir mit Nationalmannschaften leben. Solange sie nicht nationalistisch agieren, hab ich damit gar kein Problem. Wie unsere Mannschaft bei der Weltmeisterschaft 2006: Die Welt zu Gast bei Freunden. Damals waren wir nicht stolz, weil wir uns wie die tollsten Hechte fühlen durften, sondern weil wir die Welt zu Gast hatten. Der böse Nachgeschmack der Turniervergabe ist umso bedauerlicher.

Dieser Treffpunkt, der die Menschen zusammenbringt, fällt beim nächsten Turnier weg. Eine gute oder eine schlechte Idee?

Erinnern Sie sich an die Weltmeisterschaft in Südkorea und Japan. Zwei Länder, die im zweiten Weltkrieg eine sehr unschöne Geschichte miteinander hatten. Die Kriegsverbrechen Japans an den Menschen in Südkorea sind bis heute nicht aufgearbeitet. Meine Vision wäre, dass eines Tages die Türkei und Griechenland ein Turnier gemeinsam ausrichten. Oder stellen Sie sich vor, die Türkei und Armenien bekommen ein großes Turnier – mit Aserbaidschan zusammen. Man mag mich Träumer nennen. Aber warum nicht? Turniere sollen ausgerichtet werden, wo früher Leute aufeinander geschossen haben, wo Hetze und Feindschaft regieren. Oder stellen Sie sich vor: Israel und Palästina. Auch da kann der Fußball die verbindende Kraft entfalten. All das ist nicht an den Haaren herbeigezogen. Ich erinnere an die Fußballdiplomatie im türkisch-armenischen Verhältnis unter Präsident Gül. Leider hat Erdogan dem Ganzen ein Ende bereitet. Fußball kann die Massen zum Guten bewegen, kann dazu führen, dass nationalistischen Wallungen im Rahmen bleiben. Bei Beşiktaş war es früher ganz normal, dass man dem Gegner applaudiert hat, bei einer guten Leistung. Das Gentlemanhafte im Fußball, das finde ich toll.

Welches war ihr schönstes Spiel mit Beşiktaş?

Wenn ich in der Türkei war, war ich leider selten zum Spaß dort. Der Terminkalender ist immer voll. Es gibt viele schlimme Themen. Menschenrechtsverletzungen, Folter, Verschwundene. Wenig Zeit für Fußball. Als ich trotzdem einmal bei Beşiktaş war, ging es gleich ab, weil der Verein nur Unentschieden spielte. Ich hatte eigentlich Karten für die Kurve. Und nahm dann die Einladung vom Präsidium an. Ein Fehler. Da ging es dann voll ab, weil sich der Präsident mit den Fans ein Wortgefecht lieferte. Ich zitiere jetzt besser nicht die Ausdrücke, die da gefallen sind. Der Vorstand musste sich in der Lounge verbarrikadieren. Meine Frau und ich kamen stundenlang nicht raus, weil die Fans den Eingang blockiert hatten. So nach dem Motto: Wenn wir den Präsidenten verprügeln, dann verprügeln wir seine Gäste gleich mit.

Diese Stimmung ist unbeschreiblich.

Es ist das Faszinierende am diesem Sport. Ich war mit meinem Schwager in Argentinien am Start. Wahnsinnsstimmung. River Plate, Tigres. Und später in einem uralten Stadion, vermutlich ein Fünfziger-Jahre-Bau. Als die Zuschauer gleichzeitig gesprungen sind, wackelt die Betonschale. Das war spürbar. Und sichtbar. Da ging mir’s „Zäpfle“, wie man so schön sagt. Ich war mir nicht sicher, ob wir hier wieder lebend raus kommen

Da sind deutsche Stadien angenehmer?

Es hat Vor- und Nachteile. So eine DIN-Norm ist schon eine tolle Sache. Man lernt es zu schätzen, wenn man woanders war.

Jetzt fehlen nur noch die Reporter, die nach dem Fußballsachverstand fragen?

Dieses Sky-Interview von damals hatte noch einen wahren Gänsehautmoment parat. Die Fans hatten meine AfD-Gegenrede im Bundestag noch im Kopf. Nach dem Interview sind sie aufgestanden und haben geklatscht. „Özdemir, des hasch super g’macht“, haben sie gerufen. Es waren viele. Gefühlt hat sich die Tribüne spontan hinter mir versammelt, dem türkischen Arbeiterkind Cem Özdemir. Sie haben mir das Gefühl gegeben: Du hast für uns gesprochen. Diesen Moment werde ich vergessen.

Vielen Dank, Cem Özdemir.

tl_files/propheten_dark/stories/20_12_Blog im Dezember/Zeitspiel Titel.JPGVerbunden mit dem Interview darf natürlich der Abo-Hinweis auf die Zeitspiel Magazin nicht fehlen, das bekanntlichermaßen mit tatkräftiger Unterstützung durch die prophetischen Bulletinschreiber entsteht.

Wer sich für den Schwerpunkt und das Heft interessiert, dem sie auch der feine Podcast Hörfehler ans Herz gelegt. Dort wird der Schwerpunkt von Herausgeber Hardy Grüne vorgestellt. Die Fragen stellt der vortreffliche Nick Kassner von Hörfehler. Eine prophetische Stimme ist auch zu hören, als Sidekick sozusagen, wie einst Feuerstein bei Harald Schmidt.

Für das Beitragsbild und das Interview nochmal ein herzliches Dankeschön an Cem Özdemir.

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